Das zerrissene Geflecht der Seele
Langzeitfolgen des Konflikts in Guatemala
von María Cárdenas und Philipp Schultheiss
Mit der Anklage gegen den ehemaligen Diktator und Ex-General Ríos Montt ist Guatemala das erste Land weltweit, in dem einem ehemaligen Staatsoberhaupt vor einem nationalen Gericht wegen Völkermordes der Prozess gemacht wird. Doch die Gesellschaft ist hinsichtlich der Frage gespalten, ob die Vergangenheit ruhen soll oder ob erst ihre Aufarbeitung einen Neuanfang des Landes ermöglichen kann. Um zu verstehen, weshalb der öffentliche Diskurs diesbezüglich noch immer so polarisiert ist, müssen die strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konflikts ins Auge gefasst werden, die bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Die beiden Autor_innen sind dieser Frage vor Ort nachgegangen und führten hierzu Interviews und Gruppendiskussionen mit Betroffenen.
Die Geschichte Guatemalas lässt sich anhand zweier zentraler Konfliktlinien bzw. Konfliktmuster charakterisieren: Zum einen verläuft die Ungleichverteilung von Zugangschancen, Besitz und politischer Teilhabe entlang der Ethnien. Zum anderen werden die politischen Machtkämpfe und ökonomischen Interessen autoritär und gewaltsam ausgetragen. Die europäischstämmige Oligarchie, die traditionell enge Beziehungen zum Militär hält, konnte seit der Kolonialisierung ihre Vormachtstellung durch die ethnische Einteilung der Bevölkerung in Mestizen und Indigene und deren auf Rassismus basierende Abgrenzung voneinander aufrecht erhalten.
Die sozioökonomischen Schichten entsprechen also seit jeher den ethnischen Gruppen: Indigene stellen die größte Bevölkerungsgruppe (60%; FIDH 2006) und die arme, landlose Unterschicht dar. Dem gegenüber besteht die europäischstämmige Oligarchie aus einem Nukleus von rund 20 Familien, die ihre Politikinhalte „mehr als in jedem anderen zentralamerikanischen Land über oligarchische Interessengruppen“ durchsetzt und so bis heute die Ungleichheit zementieren konnte (Zinecker 2006, S.23). Die Mestizen bilden die Mittelschicht, die sich bis heute nur durch die ethnische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung von letzterer abgrenzen und ihren Status zwischen beiden Gruppen stabilisieren konnte. Diese gesellschaftliche Einteilung wird bereits seit der Kolonialisierung durch Terror, Zwangsumsiedlungen der indigenen Bevölkerung und die politökonomische Marginalisierung der Indigenen aufrechterhalten (vgl. Taussig, zitiert in Lovell 1988, S.36f.).
Die drastischen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zeigen sich auch im Bildungswesen und weisen auf eine intersektionale Dimension der Diskriminierung hin: Der Zugang zu Bildung hängt von der Verknüpfung von Herkunft, Geschlecht und Ethnie ab. So liegt die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs einer weiblichen Indigenen bei lediglich zwei Jahren, gefolgt von männlichen Indigenen und anschließend Stadtbewohnerinnen, während Stadtbewohner mit 7,61 Jahren Schulbesuch den Höchstdurchschnitt darstellen (FIDH 2006, S.30). Aktuell plant die Regierung zudem, die Lehrerausbildung zu reformieren und in ein Universitätsstudium umzuwandeln, was der armen indigenen Bevölkerung, für die ein solches Studium kaum finanzierbar ist, den Zugang zum Lehrerberuf weiter erschwert. Bislang war der Lehrerberuf für viele Indigene einer der wenigen Wege in ein gesichertes und angesehenes Arbeitsverhältnis. Am eindeutigsten spiegelt sich jedoch starke Ungleichheit zwischen den Ethnien in den aktuellen Armutszahlen wieder: So folgern Rosada und Bruni, dass 75,6% der in Armut lebenden Bevölkerung Indigene sind und dass wiederum in den Regionen mit der höchsten indigenen Bevölkerung mehr als 75% in Armut oder extremer Armut leben (Rosada & Bruni 2009, S.8).
Rückblick: Der interne bewaffnete Konflikt 1960-1996
Zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es durchaus Hoffnung auf eine gerechtere guatemaltekische Gesellschaft gegeben. Mit dem Aufkommen der katholischen Befreiungstheologie im Zuge der Emanzipationsbewegungen Lateinamerikas ab den 1950er Jahren sowie durch Reformen der Präsidenten Arévalo (1945-1949) und Jacobo Árbenz (1950-1954) zugunsten der armen und landlosen Bevölkerung hatte eine Refokussierung großer Teile der indigenen Bevölkerung auf ihre korporativen Strukturen, kulturellen Traditionen und Sprache eingesetzt (Lovell 1988, S.43). Árbenz hatte durch eine Landreform den Verkauf von 1,4 Millionen Hektar ungenutzten Landes aus privater und staatlicher Hand an 500.000 bis dato landlose Guatemalteken ermöglicht und so eine Umverteilung in Gang gesetzt, die Großgrundbesitzer, internationale Agrarkonzerne wie die United Fruit Company und die US-Regierung als Bedrohung wahrnahmen. Sie stürzten Árbenz am 17.06.1954 mit Hilfe der CIA und des rechten Flügels des guatemaltekischen Militärs.
Der Putsch und die darauf folgende erste Militärregierung legten den Grundstein für den bewaffneten Konflikt zwischen rechtem Militär, Paramilitärs und Oligarchie einerseits und linken Guerillas andererseits. Die Guerillas zogen sich vorrangig in die dicht bewaldete Region Ixcan im Nordwesten Guatemalas zurück, weshalb das Militär und später die paramilitärischen »Patrullas de Autodefensa Civil« (PAC) ihren Terror hauptsächlich gegen die dort ansässige ländliche und größtenteils indigene Zivilbevölkerung richteten (Taylor 2007, S.186ff). Das von evangelikalen Kirchen stark beeinflusste Militär legitimierte die gewaltsame Bekämpfung der korporativen indigenen Strukturen, welche durch die katholische Befreiungstheologie beeinflusst waren, indem sie sie als »kommunistisch« stigmatisierte. 1981 begann die Kampagne der »tierra arrasada«, der verbrannten Erde: Das Militär verbrannte die Dörfer und siedelte die ländlichen Bewohner zur besseren Kontrolle in neuen, hierfür extra gerodeten Flächen, sog. »Modelldörfern«, an (ebd). Das Militär bediente sich bei der Ausübung von Gewalt auch bei traditionellen und religiösen Deutungsmustern der Maya-Kosmovision und evangelikaler Pfingstkirchen, mit Hilfe derer die Verantwortung bzw. Schuld für widerfahrene Gewalt beim Opfer lokalisiert werden konnte. Gewalt wurde hierdurch zu einem legitimen Mittel der Normdurchsetzung bzw. -wiederherstellung umgedeutet. Viele Zivilisten wechselten aus Angst zu evangelikalen Kirchen über, da diese den Schutz des Militärs genossen.
Das Militär verknüpfte mit der Repression gegen diesen Teil der Bevölkerung also ökonomische, politische, rassistische und religiöse Motive. Der bewaffnete Konflikt und der vom Militär gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Terror forderte 200.000 Todesopfer bzw. »desaparecidos« und eine Million Binnenflüchtlinge (Carey 2004, S.71). Die Landreform von Árbenz wurde rückgängig gemacht, was im Zusammenspiel mit Vertreibung, Zwangsumsiedlungen und Landraub während des Bürgerkriegs die heutige Ungleichverteilung des Landes zementiert hat: Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen heute 70% des kultivierbaren Landes (Held 2010, S.3).
Erst 1983 fand durch einen weiteren Putsch eine Befriedung des Landes statt, die 1996 mit der Demobilisierung der Guerillas und der Unterzeichnung von vier Friedensverträgen, die allerdings bis heute nur unzureichend erfüllt sind, abgerundet wurde. Wenngleich das Land bereits seit knapp zwanzig Jahren offiziell befriedet ist, wirken jedoch die spezifischen Formen der Gewalt weiterhin auf die Gesellschaft ein und haben sie bis heute geprägt.
Die Stille als Überlebensstrategie
Im Nordwesten nutzten die indigenen Gemeinden das schwer zugängliche Gebiet und die Grenze zu Mexiko, um Widerstand zu leisten oder um ein »Leben im Schatten« zu führen: Sie versteckten sich als Gemeinde bis zu zwanzig Jahre im bewaldeten Hochland (zur Gemeinde Primavera de Ixcan vgl. Taylor 2007). Aus dieser Erfahrung entwickelten sie trotz hoher Verluste an Familienangehörigen und Freunden eine starke soziale Kohäsion, die aus der gegenseitigen Abhängigkeit und Solidarität herrührt. Dies gab ihnen Kraft, die Gewalterfahrungen besser zu verarbeiten und einen Neubeginn zu schaffen: Sie konnten sich nicht nur als Opfer, sondern auch als Überlebende oder Widerstandskämpfer sehen. Nach dem Konflikt waren es diese Gemeinden, die die höchste Aufmerksamkeit von internationalen Organisationen erhielten. Ihnen wird allerdings auch bis heute eine große Organisationsfähigkeit attestiert.
Die Gemeinden, in denen der Widerstand geringer war, die aber an strategisch relevanteren Punkten lagen und keine Fluchtmöglichkeiten hatten, wie die Gemeinden an der Peripherie um Guatemala-Stadt, erhalten bis heute weniger internationale Aufmerksamkeit. Sie waren den verschiedenen Strategien der »Aufstandsbekämpfung«, wenn auch in geringerem Masse, jedoch schutzlos ausgesetzt. Die Gemeinden waren oftmals infiltriert, und das Militär nahm im Schutz der Nacht »Verdächtige« mit: Viele »desaparecidos«, Verschwundene, konnten bis heute nicht gefunden werden. Das Unwissen über das, was passierte, und wer in der Gemeinde welche Funktionen erfüllt hatte, führte zu einer Omnipräsenz der Angst und einer Gewaltpräsenz ohne Autor oder Adressat, die ein allgegenwärtiges Schweigen mit sich zog: „Wir waren alle im Ungewissen, niemand redete darüber, und niemand traute sich zu sagen, was er wusste“, die Wände bekamen Ohren, die Stille wurde zur einzigen Hoffnung auf Sicherheit (Interview 1).
Viele Eltern isolierten ihre Kinder, lehrten sie, mit Fremden, Bekannten und auch der Familie nur das Nötigste zu sprechen und kein Aufsehen zu erregen. „Sie wuchsen auf mit einer ständigen Angst vor einem unbekannten Ungeheuer, von dem niemand weiß, was es will, welche Waffen es hat, wo es sich befindet und wann es angreift.“ (Interview 3a) Dieses Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit hielt auch nach der Hochphase der Gewalt 1981-1983 an. Es gab keine Aufklärung über die vielen Verschwundenen, sondern einen sanften Übergang zu »negativem Frieden«, so dass die Menschen keinen Bruch mit der gewaltsamen Vergangenheit erkennen konnten. Vielmehr bestand die Gemeinde weiterhin aus den selben Mitgliedern: Unter ihnen lebten Spitzel, Paramilitärs und Militärs neben Opfern von Tod, Folter, Vergewaltigung – als wäre nie etwas passiert und doch in ständiger Angst. So wurden auch die paramilitärischen PAC nie offiziell aufgelöst, sondern bestehen vielerorts als »seguridad comunitaria las 24h«, als Bürgerwehren, fort. In diesem Sinne ist für viele Opfer auch die Persistenz des Militärs im Inneren des Landes ein Zeichen, dass die Repression nicht vorbei ist, sondern vielmehr weiter existiert.
Meist wird bis heute weder in den Gemeinden noch im inneren Kreis über die Geschichte und die Gewalterfahrungen gesprochen, zu hoch ist die Angst, das Aufbrechen alter Wunden könnte neue Gewalt hervorbringen. Das fehlende Vertrauen hat viele Menschen paralysiert und eine »Kultur der Stille« geschaffen. Dies verhindert nicht nur einen Heilungs- und Versöhnungprozess innerhalb der Gemeinden, es manifestiert sich auch in einer Kriminalisierung bürgerschaftlichen Engagements: „Die Polarisierung wird forciert und wir (sozialen Akteure) werden als Störenfriede stigmatisiert. Die Menschen haben Angst vor Störenfrieden, weil sie das Militär anlocken.“ (Interview 1) Deutlich wird dies an 402 Angriffen oder Einschüchterungsversuchen gegen Menschenrechtsaktivisten allein im Jahr 2011 (Amnesty International 2012).
Wie die Gewalt in die Gemeinden floss
Die fehlende Möglichkeit der Artikulation von Problemen und Konflikten hat dabei oft gewaltsame Konsequenzen auf individueller und kollektiver Ebene und wirkt sich auch auf andere Bereiche des Privatlebens sowie auf die generelle Diskurs- und Konfliktlösungskompetenz aus. Mit der Kultur der Stille geht insofern auch eine Akkumulation von ungelösten Problemen einher. Die beinahe allumfassende Straflosigkeit, die bei einer der höchsten Mordraten weltweit (40 Morde pro 100.000 Einwohner)1 rund 98,6% dieser Morde unaufgeklärt lässt (Briscoe 2012, S.12), sowie die Ohnmacht angesichts dieser hohen Gewaltintensität verstärken die Frustration auf individueller und kollektiver Ebene. »Justicia a mano propia«, Selbstjustiz, sowie die in Guatemala im Vergleich zu den Nachbarländern stark verbreitete Lynchjustiz stellen deshalb oft die einzig zugänglichen Sanktionierungsmöglichkeiten und auch das einzige Ventil für die allgegenwärtige Bedrohung und die angesammelte Frustration dar.2 Ohnmacht bzw. das Wissen um die Straflosigkeit von Verbrechen gehen mit einer Resignation bzw. Legitimation von physischer, materieller und immaterieller Gewalt einher.
Am Phänomen der »Femicidios«, der Frauenmorde,3 wird auch eine weitere Funktion von Gewalt deutlich, die ihren Ursprung im staatlichen Terror hat: Die gesellschaftliche Zurechtweisung von Individuen mit Hilfe von Gewalt, denen die Täter ein nichtkonformes Verhalten gegenüber Regeln und Normen attestieren, wird oft von weiten Teilen der Gesellschaft wenn nicht unterstützt, so doch als gegeben akzeptiert (FIDH 2006, S.33). Aber auch der Diebstahl, der häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt einhergeht, oder die zur Dienstleistung aufgewerteten Auftragsmorde, die für nur 400 US$ erhältlich sind, sind Indizien für die Verrohung und Veralltäglichung von Gewalt, die in großen Teilen aufgrund der (Zwangs-) Rekrutierung durch die Armee und die PAC in die Gesellschaft floss. So hatte das Militär zahlreiche Männer im Zuge der Indoktrination für den Einsatz in den PAC konkret in der Verwendung von sexueller Gewalt als Mittel der Aufstandsbekämpfung geschult und durch Mutproben abgehärtet (Weber 2013, S.11-14). Die teilweise noch Minderjährigen erlernten die strategische Anwendung von Vergewaltigungen, Folter und Mord und damit den gering zu schätzenden Wert eines Menschenlebens: „Mein Bruder, der bei der Armee war, sagte zu mir: Das Militär selbst zerstört jede friedliche Kultur, denn es lehrt dich, den anderen zu hassen und ihm zu misstrauen. Es gibt immer einen Feind. Auch wenn du ihn nicht siehst.“ (Interview 1)
»El sujeto social internalizado« – die Früchte der Gesellschaft
Neben den beschriebenen sozialpsychologischen Langzeitfolgen finden sich auch auf individueller Ebene physische und psychologische Auffälligkeiten, die ihre Wurzel im internen Konflikt haben und/oder mit den genannten gesellschaftlichen Phänomenen korrelieren. Während das Militär die Soldaten und Paramilitärs in Brutalität und Gewaltverherrlichung schulte, so leiden auf der anderen Seite ihre Opfer bis heute unter den Folgen von psychischer und physischer Folter und Gewaltanwendung. Vor allem bei Männern äußere sich dies unseren Interviewpartner_innen zufolge in einem hohen Maß an Alkoholismus. Auch waren sich die Therapeut_innen in den von uns geführten Interviews einig, dass die in Guatemala sehr häufig vorkommenden Krankheiten Gastritis und Diabetes oftmals psychosomatische Krankheitsbilder seien, deren Wurzeln in den traumatischen Erlebnissen des Konflikts zu finden sind. Dafür spricht, dass Gastritis im Distrikt Rabinal, in dem es zahlreiche Massaker gab, besonders häufig auftritt.4
Ein weiteres Phänomen, an dem sich beispielhaft das Zusammenwirken von sozialer und individueller Ebene zeigt, ist die sexuelle bzw. häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Ihre Ursachen sind sowohl in der Verrohung wie der Traumatisierung vieler Männer zu finden, die während des Krieges als Kombattanten beider Seiten, aber auch als entführte und gefolterte Zivilisten nachhaltig durch Gewalt geprägt wurden. Gleichzeitig hatten Frauen in Abwesenheit der Männer klassisch maskulin belegte Aufgaben übernommen und so tradierte Geschlechterrollen in Frage gestellt, was zu zusätzlichen Spannungen führte. Auf der anderen Seite wurde die Rolle der Witwen von unseren Interviewpartner_innen als zentral für einen positiven Wandel der Geschlechterbeziehungen und der Anerkennung und Emanzipation der Frauen genannt. Viele Frauen, die Opfer der sexuellen Gewalt durch das Militär wurden, leiden bis heute unter verschiedensten psychischen Erkrankungen, wie etwa Depressionen, Schlafstörungen, Nervosität, Essstörungen oder Teilnahmslosigkeit.
Erschwerend wirkt hier, dass durch den von den Frauen erlittenen sexuellen Missbrauch die strengen kulturellen Konzeptionen einer »unbefleckten Ehefrau« zerstört wurden. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung wurden von den Gemeinden auch aufgrund ihrer Hilflosigkeit als kollektive Schande wahrgenommen, sodass oft versucht wurde, die Schuld für die Vergewaltigung auf die Frauen selbst oder ihre Ehemänner zu schieben (Weber 2013, S.11). Dies führte häufig zu einer noch stärkeren Stigmatisierung der Frauen und zu ihrem Ausschluss aus dem sozialen Leben der Gemeinde. In der Isolation können diese Frauen leicht Opfer neuer Übergriffe aus Familie oder Gemeinde werden. So weist Guatemala auch eine vergleichsweise hohe Rate häuslicher Gewalt auf.5 Viele Frauen versuchen daher aus Selbstschutz, das an ihnen verübte Verbrechen zu verheimlichen, und hüllen sich in vollkommenes Schweigen, was die oftmals ohnehin vorhandenen Leiden noch verstärkt (ebd., S.12).
Fazit
Die guatemaltekische Gesellschaft leidet noch immer in großen Teilen unter den Folgen des Terrors, der sich vor dreißig Jahren vor allem von Seiten des Militärs und der Oligarchie gegen die indigene und ländliche Bevölkerung gerichtet hatte. Weiterhin herrschen bei großen Teilen der mestizischen und weißen Bevölkerung ethnische Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung vor, die in deren Marginalisierung und strukturellen Armut resultieren. Umgekehrt herrscht bei großen Teilen der Indigenen ein starkes Misstrauen gegenüber Fremden. Auch ist die Gesellschaft gespalten, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden soll. Hier ist es vor allem die Angst, die die Menschen hemmt, ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit ihrer Gemeinschaft zu teilen. Darunter leiden oft sowohl diejenigen, die Menschenrechtsverbrechen erfahren haben, als auch diejenigen, die sie – teilweise gegen ihren Willen – verübt haben.
Der fehlende Diskurs über die Vergangenheit und ihre Folgen für die guatemaltekische Gegenwart blockiert Veränderungen auf makrostruktureller Ebene, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt erlauben würden. Die Allgegenwärtigkeit der Angst und der Gewalt auf individueller sowie kollektiver Ebene kann sich auch aufgrund fehlender Ventile in Lynchjustiz und Selbstjustiz entladen. Die hohe Straflosigkeit und Veralltäglichung von Gewalt stehen in engem Zusammenspiel mit strukturellen, sozial- wie individualpsychologischen Langzeitfolgen des internen Konfliktes, welche bis heute in die guatemaltekische Gesellschaft hineinwirken. Hierbei leben die Menschen in einem sich selbst reproduzierenden Widerspruch, in dem die Gewalt sie einerseits paralysiert und sie selbst andererseits keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Gewalt sehen, um sich zu schützen. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen wie unsere Interviewpartner_innen, die im Kleinen Veränderungen im »teijido social«, dem sozialen Geflecht, schaffen. Die durch soziale und entwicklungsorientierte Projekte aus den Gemeinden heraus und mit ihnen neues Vertrauen und Solidarität untereinander schaffen. Die sich entgegen der repressiven Verhaltensnormen als »Störenfriede« engagieren und das zerrissene Geflecht der guatemaltekischen Seele zu flicken versuchen.
Literatur
Amnesty International (2012): Guatemala – Submission to the UN Human Rights Committee for the 104th Session of the Human Rights Committee. London.
Briscoe, Ivan (2009): El Estado y la seguridad en Guatemala. Madrid: Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE).
Carey Jr, David (2004): Maya Perspectives on the 1999 Referendum in Guatemala: Ethnic Equality Rejected? In: Latin American Perspectives: The Struggle Continues: Consciousness, Social Movement, and Class Action, H. 31, Nr. 6 (Nov. 2004), S.69-95.
Casaús Arzú, Marta Elena (2002): La metamorfosis del racismo en Guatemala. Cholsamaj. Ciudad de Guatemala.
Federación Internacional de los derechos humanos (FIDH)(2006): Informe. Misión Internacional de Investigación. El feminicidio en México y Guatemala.
Held, Susanne (2010): Der Kampf um Land in Guatemala am Beispiel des »Comité de Unidad«. München: GRIN Verlag.
Lovell, George W. (1988): Surviving Conquest: The Maya of Guatemala in Historical Perspective. In: Latin American Studies Association, H. 23, Nr. 2 (1988), S.25-57.
Rosada, Romás; Bruni, Lucilla (2009): Crisis y pobreza rural en América Latina: el caso de Guatemala. Documento de Trabajo N°45 Programa Dinámicas Territoriales Rurales. Rimisp – Centro Latinoamericano para el Desarrollo Rural. Santiago, Chile.
Taylor, Matthew John (2007): Militarism and the environment in Guatemala. In: GeoJournal H. 69 (2007), S.181-198.
Weber, Sanne (2013): Giving a voice to victims. Towards gender-sensitive processes of Truth, Justice, Reparations and Non- Recurrence (TJRNR) in Guatemala. Ciudad de Guatemala: Impunitywatch.
Zinecker, Heidrun (2006): Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Nachkriegsgewalt in Guatemala. HSFK-Report 8/2006. Frankfurt/Main.
Anmerkungen
1) CERIGUA 2012; bit.ly/X4uT6Y.
2) Mindestens ein Familienmitglied jedes zweiten Guatemalteken war im letzten Jahr bereits Opfer von Gewalt, 77,9% fürchten sich, das Haus zu verlassen (nach Briscoe 2009, S.12).
3) Als »Feminicidio« wird ein Mord bezeichnet, der mit der Zugehörigkeit der Person zum (biologischen) weiblichen Geschlecht und ihrer gesellschaftlichen Rolle in Verbindung steht.
4) Studie der Regionalverwaltung Rabinal; bit.ly/10FudoM.
5) So weist die UNAIDS-Erhebung für 2011 zur Gewalt an Frauen durch ihren Partner in den letzten zwölf Monaten für Guatemala mit 27,6% den höchsten Prozentsatz aller zentralamerikanischer Länder aus; bit.ly/ZJWXew.
María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Philipp Schultheiß studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg. Dieser Artikel beruht auf den vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts der beiden Autor_innen »Wechselwirkungen von kulturellen Dispositionen und Traumatisierung in Guatemala«. Während ihrer zweimonatigen Feldforschung führten die beiden Autor_innen Interviews sowie Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Regionen des Landes.