Demokratisierung, Abrüstung und europäische Sicherheit
von Manfred Müller
Das bipolare Gesellschafts- und Bündnissystem, das über 40 Jahre das Ost-West-Verhältnis bestimmte und die Weltentwicklung beeinflußte, bricht zusammen. Es brachte uns einen, wenn auch ständig bedrohten und mit wachsenden Opfern erkauften, Frieden. Wie wird Frieden in Zukunft zu sichern sein?
Die mit wachsendem Tempo verlaufenden Prozesse der gesellschaftlichen Wandlungen schaffen neue Bedingungen und Notwendigkeiten europäischer und transatlantischer Prioritätensetzung. Die laufenden Abrüstungsverhandlungen bleiben in Inhalt und Tempo hinter den sich daraus ergebenden Erfordernissen zurück.
An Stelle der zerfallenden bipolaren Strukturen müssen neue, gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen treten, vor allem auch, um einen Rahmen für ein sich vereinigendes Deutschland zu schaffen, das Europas Einigung nützt und nicht schadet. Wie könnte diese Friedensordnung gestaltet werden?
Es wäre vermessen, auf diese Fragen umfassende Antworten geben zu wollen. Mehr als Anstöße zum Weiterdenken sind heute noch nicht möglich.
Die längste Friedensperiode, die die europäische Geschichte kennt, war in den vergangenen Jahrzehnten mit der Spaltung des Kontinents und Deutschlands erkauft. Die Dialektik besteht darin, daß diese Situation nur durch Gegensatz und Feindschaft aufrechterhalten werden konnte. Interne Konfliktpotentiale wurden überdeckt oder gar unterdrückt, wofür der Systemgegensatz und die Notwendigkeiten seiner Ausbalancierung oder des möglichen Sieges in ihm die Rechtfertigung lieferten.
Aber gemeinsame Menschheitsaufgaben, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, durch die Weltkommunikation übermittelt, erwiesen sich als stärker denn abschließende und konträre Ideologien.
Beide Supermächte, die in ihren Einflußbereichen an ideologischer und ökonomischer Dominanz (wenn auch im unterschiedlichen Tempo und auf unterschiedlicher Weise) einbüßen, versuchten ihre Führungsrolle durch verstärkte Hochrüstung zu kompensieren. Diese erreichte menschheitsbedrohliche Dimensionen und in der ersten Hälfte der 80er Jahre trat der Widerspruch zwischen Bedrohung und Überlebensnotwendigkeiten ins Bewußtsein vieler.
Bewahrung der Umwelt, Abwendung von Massenkrankheiten, die aus der Zivilisationsentwicklung entspringen und auch die Überwindung der Unterentwicklung, die mit Ökologie und Demographie eng verbunden sind – dies alles ist mit der bisherigen, auf Feindschaft und Hochrüstung gegründeten »Sicherheitspolitik« nicht zu bewältigen. Mit dem Begreifen der gemeinsamen Herausforderung schwand das Gefühl der Feindschaft und damit die Basis der Bipolarität. Welchen gesellschaftlichen Vorstellungen man auch folgen mag, im Gegeneinander von Systemen und Bündnissen läßt sich die Zukunft des Planeten nicht gewinnen. Aber die Austragung unterschiedlicher Zukunftsvorstellungen innerhalb von Gesellschaften bedarf der Demokratie.
Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa folgten sicher nicht einer höheren Einsicht in diese Logik. Aber diese waren wohl die Quintessenz der eher spontanen und eruptiven Handlungen. Im Gefolge dessen zerbrach der ideologiebegründete und machtdominierte östliche Block. Die Auflösung seiner Reste ist nur eine Frage der Zeit und der inneren von außen gesetzten Bedingungen.
Die Zeit der Blockbildung vorbei
Erst allmählich wächst im Westen das Verständnis dafür, daß auch hier, wenngleich langsamer, anders geartet und mit größerem Widerstand, die Zeit der Blockbildung zu Ende geht. Die Dinge sind so qualvoll, weil mit ihnen ein welthistorischer Prozeß verbunden ist, der unter anderem beinhaltet: die Zeit der beiden Supermächte läuft ab. Dagegen wehren sie sich und sie haben beide genügend Mittel dafür.
Auch der Einfluß der USA ist mit den europäischen Entwicklungen konfrontiert. Auf ökonomischen Gebiet haben sich mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) und auf politischem Gebiet mit den Europäischen Institutionen (EPZ=Europäische Politische Zusammenarbeit) eigene Strukturen gebildet, die die Verbindung mit Nordamerika halten wollen, aber zugleich mehr und mehr eigene Identität entfalten und nunmehr auch Anziehungskraft auf Osteuropa ausüben.
Die übermäßige, gegeneinander gerichtete Militärmacht der beiden Führungsmächte und Bündnisse verliert demgegenüber rasch an Bedeutung. Die ständig wachsenden und modernisierten Kernwaffenarsenale sind nicht mehr einsetzbar, da selbstzerstörerisch. Sie gelten als Abschreckungspotential. Aber auch Abschreckung muß als politisches Mittel glaubhaft sein. Ist Selbstvernichtung glaubhaft? Die »kleinen« Militäraktionen der beiden Großen und die mehr als 150 Kriege im Süden lassen den Zweifel auch daran wachsen. Seit den 60er und besonders den 70er Jahren dieses Jahrhunderts sind beide Seiten gezwungen, Vereinbarungen über die Begrenzung und das Im-Zaum halten dieses gewaltigen Vernichtungsapparates zu treffen. Indem dabei, in Gestalt der Helsinki-Schlußakte von 1975, die europäische Situation anerkannt wurde, schwand (deutlich im Osten) der Druck auf die Kleinen, sich im Interesse ihrer Existenz an die Großen anklammern zu müssen. Der Bewegungsspielraum der Großen wurde eingeengt, der der Kleinen erweitert. Die Notwendigkeit der Zügelung der Konfrontation schuf Bedingungen für ihre Überwindung. Heute sind die politischen Demokratisierungsprozesse in Osteuropa, mit welchen Schwierigkeiten und Konflikten auch immer verbunden, im Grundsatz nicht mehr rückgängig zu machen. Was die DDR betrifft, so konnten sie durch die anwesenden fast 700 000 Mann (eigenen und fremden) Truppen nicht verhindert werden, ja, es wurde wegen der Aussichtslosigkeit ihr Eingreifen gar nicht erst versucht.
Von dieser Seite besteht für Westeuropa keine militärische Bedrohung, denn selbst wenn äußerstes Abenteurertum oder Verzweiflung angenommen wird, so wäre aus einer östlichen Militäraktion gegen den Westen keinerlei Nutzen oder Erfolg absehbar. Andererseits wäre es für die NATO (oder eines ihrer Mitgliedsländer) sinnlos, auf die militärische Karte zu setzen, wenn doch politische und ökonomische Wandlungen auf nichtmilitärischem Wege erreichbar sind.
Wir stoßen hier auf ein jeden Tag deutlicher werdendes Paradoxon. Nach wie vor stehen fast 6 Millionen Soldaten in Europa. Hier existieren mehr als 70 000 Panzer und ebensoviele Geschütze. Auf europäischem Boden lagern nach wie vor zehntausende von Kernwaffen und Träger dafür. Aber es gibt weder Möglichkeiten noch Grund oder gar sichtbare Gefahren, all dies einzusetzen oder auch nur damit drohen zu müssen. Die Mehrzahl der mehr als 10 000 strategischen Waffen jeder Seite, die gegeneinander und damit auch auf Europa gerichtet sind, sollen durch START (Strategic Arms Reduction Treaty) um 50 % reduziert werden; jedoch bei gleichzeitiger Aufstellung neuartiger entsprechender Waffen (weitreichende Flügelraketen).
Verhandlungsansatz von Wien überholt
Wenn Ende 1990 Wien 1 über die Reduzierung der konventionellen Waffen in Europa zustande kommt, dann sind die zu vereinbarenden Reduzierungen bedeutsam – mit Blick auf die Vergangenheit, aber völlig unzureichend für die Zukunft. Der Verhandlungsansatz von Wien 1 ist die Herstellung von Gleichgewicht zwischen Warschauer Vertrag und NATO (North Atlantic Treaty Organization). Aber wenn vereinbart, wird es diese Bündnisse – zumindest den militärischen Bestand des Warschauer Vertrages (WVO) – nicht mehr geben. Wien 1 wird bestimmte Begrenzungen für Mannschaftsstärken nur für die UdSSR und USA auf fremden Territorien in Europa enthalten. Aber die UdSSR wird Schwierigkeiten haben, für ihr Kontingent Stationierungsländer zu finden und wenn sie alles abzieht, wodurch wäre dann die Anwesenheit der USA noch legitimiert?
All diese Fragen sollen die Notwendigkeit eines ersten Abkommens in Wien nicht in Frage stellen. Aber sie verweisen wohl doch auf seine Begrenztheit und konzeptionelle Überholtheit.
Wie kann dem abgeholfen werden? In den osteuropäischen Staaten und in der DDR hat der Wandlungsprozeß auch zu einer öffentlichen Diskussion über die Armeen geführt. Dominant ist die Tendenz, die Armeen, unabhängig von internationalen Vereinbarungen, zu reduzieren und strukturell defensiv umzugestalten. Diese Prozesse haben da und dort begonnen. Die NVA (Nationale Volksarmee) der DDR hat in den vergangenen Monaten wahrscheinlich die Hälfte ihres Bestandes und nahezu alles an Kampfkraft verloren. Es findet also zusätzlich und neben den Verhandlungen ein praktisch einseitiger Reduzierungsprozeß im Osten statt. Sollte der Westen, insbesondere die Bundeswehr darauf, nicht viel schneller und deutlicher positiv antworten?
Neues Sicherheitsverständnis
Vor allem geht es darum, nicht nur neue strukturelle, sondern auch inhaltliche Ausgangspunkte für Wien 2 zu suchen. Das können nicht mehr Block-zu-Block-Verhandlungen sein, aber auch nicht Verhandlungen eines Blocks mit dem »Rest« Europas. Die Rolle und Teilnahme der Nichtpaktgebundenen und Neutralen muß neu bestimmt werden. Der benötigte konzeptionelle Ausgangspunkt aber wäre die Verständigung über ein grundsätzlich neues, den neuen Bedingungen und Erfordernissen entsprechendes Verständnis von Sicherheit, in dem der militärische Faktor einen völlig veränderten Stellenwert einnimmt. Dann könnte Wien 2 wirkliche, weitgehende Abrüstung für Europa aushandeln.
Die Bewältigung dieser Aufgabe kann nicht der Zukunft überlassen werden. Die Entscheidungen werden, zumindest durch Verhaltensweisen, heute getroffen.
Dabei kommt nunmehr den Deutschen eine besonders große Verantwortung zu. Die Formel vom europäischen Deutschland bedarf jetzt eines konkreten Konzeptes und Angebots.
Die europäische Integration Deutschlands
Bisher waren beide deutsche Staaten fest in ihre militärischen Bündnisse und in ihre ökonomischen Integrationssysteme eingebunden. Das wurde von den jeweiligen Partnern nicht nur als wichtiges Element des Ost-West-Gegensatzes betrachtet, sondern zugleich wohl auch als eine Sicherheitsgarantie gegen Deutschland. Mit der deutschen Vereinigung ändern sich diese Bedingungen. Erst allmählich beginnen die verantwortlichen Kräfte beider deutscher Staaten und leider noch zögerlicher die Öffentlichkeit sich der daraus entstehenden Verantwortung zu stellen. Die scheinbar drängenden ökonomischen und monetären Probleme der deutschen Vereinigung lassen viele Leute vergessen, daß die Zukunft der Deutschen in erster Linie davon abhängen wird, wie sie sich in Europa eingliedern. Da die deutsche Vereinigung schneller vorangeht als die europäische, ist es um so notwendiger, klar die Ziele zu bestimmen.
Die entscheidende Lehre aus den vergangenen Jahrzehnten unserer Geschichte verweist auf die Notwendigkeit deutscher Einbindung. Jede Entwicklung, die gewollt oder ungewollt zur Herauslösung des vereinigten Deutschlands aus festen integrativen Bindungen führt, bringt uns ins Abseits.
Da im Vereinigungsprozeß die Bundesrepublik dominierend ist, bietet sich an, ganz Deutschland in deren bestehende Bindungen einzubeziehen. Das betrifft vor allem NATO und EG. Und ob es uns gefällt oder nicht, es wird wohl so kommen.
Aber dies wirft viele neue europäische Fragen auf. Was wird dann mit den Interessen unserer östlichen Nachbarn und vor allem denen der UdSSR? Die jetzt sichtbaren Angebote sind Hilfskonstruktionen. Kein Vorrücken der NATO-Truppen auf das Gebiet der DDR, symbolische Truppen der UdSSR weiterhin dort. Vielleicht kann man diese oder ähnliche Regelungen schließlich aushandeln. Aber Dauerlösungen können das nicht sein!
Jede einseitige Westbindung Deutschlands, mit welchen Trostpflästerchen für den Osten auch immer, spaltet Europa aufs Neue. Dauerlösungen können nur gesamteuropäischen Charakters sein. Erst wenn von der Perspektive einer gesamteuropäischen Friedensordnung ausgegangen wird, kann ein neues Sicherheitsverständnis entstehen, das weniger auf Waffen, denn auf Integration, auf gemeinsamer Konfliktbewältigung und auf gemeinsamen Zukunftsprojekten beruht. Deshalb soll es über gemeinsame politische und juristische Institutionen ebenso verfügen, wie über solche der Sicherheitsfindung. Der KSZE-Prozeß (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) bietet sich als Rahmen für eine derartige Entwicklung an, zumal er sowohl Nordamerika als natürlich auch die UdSSR einschließt. Auf dieser Grundlage wäre eine Neudefinition auch für stark zu reduzierende militärische Kräfte in Europa, ihre Dislozierung und eine gemeinsame Kommandostruktur möglich.
Gesamteuropäisches Sicherheitssystem
Europa wird weiter mit Konflikten leben müssen. Sowohl innerhalb des Kontinents als auch außerhalb wird es Probleme geben, die bedrohlichen Charakter annehmen können. Westeuropa kann sich auf den Standpunkt stellen, daß man sich, gestützt auf die eigenen Sicherheitsstrukturen, aus solchen Entwicklungen am besten heraushält. Solche Orientierungen auf ein unveränderliches Festhalten an NATO und EG sind sichtbar. Sie sind auch verständlich. Aber wenn sie nicht mit der Bereitschaft zu einer gesamteuropäischen Öffnung und Verantwortung gekoppelt werden, könnte dabei leicht die Zukunft verloren gehen. Es wird für die Europäer auf die Dauer keine andere Möglichkeit geben, als sich den europäischen Problemen und Schwierigkeiten als Elemente einer Art europäischer »Innenpolitik« zu stellen.
Dem wird sehr oft entgegen gehalten, daß ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem mit 35 Mitgliedern nicht funktionieren könne. Die Integrationsprozesse in Westeuropa hätten gezeigt, je mehr Teilnehmer, desto weniger Integration. Ich halte dies für keine wirklich überzeugenden Argumente. Sie haben eine grundlegende Schwäche: sie zeugen vom Unverständnis der neuen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Daß es beim Bau gesamteuropäischer Strukturen Schwierigkeiten, Probleme und auch Rückschläge geben wird, ist unvermeidlich. Deshalb wäre es durchaus denkbar, die neuen Strukturen zunächst vielleicht neben den alten, bewährten einzubringen, Zwischenlösungen und Übergangsregelungen zu suchen. Um es auf den Punkt zu bringen: die Nato könnte durchaus für eine gewisse Zeit neben oder als Teil eines KSZE-Konfliktverhinderungssystems existieren, wenn sicher auch mit inneren und vor allem militärischen Wandlungen.
Worauf es meiner Meinung nach heute vor allem ankommt, ist sich auf das Neue, Gesamteuropäische zu konzentrieren, mit seinem Bau so schnell wie möglich zu beginnen, die Chancen der Situation zu nutzen. Die gesamteuropäische Vision muß zum Ausgangspunkt der Erörterungen darüber gemacht werden, was von dem Bestehenden zu bewahren ist und welche Zwischenschritte nötig sind – und nicht umgekehrt. Vorstellungen wie die des französichen Präsidenten über eine europäische Konförderation oder auch Gorbatschows Europäisches Haus weisen in diese Richtung. Dabei kann dies, bei allen Notwendigkeiten der Übertragung von Souveränitätsrechten auf europäische Institutionen, für lange Zeit ein „Europa der Vaterländer“ sein.
Die Erosion des bipolaren Systems ist mit dem Erwachen nationaler Gefühle verbunden. Auf die Zwänge zur Internationalisierung und die daraus entspringenden sozialen, ökonomischen, kulturellen und elementaren Lebensprobleme reagieren große Menschengruppen in allen Ländern mit verstärktem Nationalismus. Fremdenfeindlichkeit und die Sehnsucht nach oder das Flüchten in einfache und scheinbar eine heile Welt versprechende Ideologien bringen sogar ein extremistisches und gewalttätiges Potential hervor. Dies verweist darauf, daß die europäische Vision politikfähig gemacht werden muß.
Das erfordert, den vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen und nationalen Aspekten dieses Prozessen ins Auge zu sehen, sie in die anzustrebenden Lösungen einzufügen, was deren Zustandekommen nicht gerade erleichtert. Welche Rolle sollen und können wir Deutschen dabei spielen?
Die künftige Rolle Deutschlands
Als zukünftig größtes, ökonomisch stärkstes und zentral gelegenes europäisches Land und angesichts unserer Geschichte bedarf es unserer Selbstbeschränkung. Natürlich der auf unser Territorium, das der beiden deutschen Staaten und Berlins. Der Hauptinhalt und das Wesen unserer Selbstbeschränkung aber muß mit dem Begriff der Einbindung gefaßt werden. Dabei verlangt unsere historische Verantwortung gerade von uns die Bereitschaft zur Einbindung nach West und Ost. Dies aber ist letztlich nur in einem gesamteuropäischen System möglich.
Lösungen, die im Zuge der Vereinigung Deutschlands und zu deren Akzeptanz vereinbart werden, darunter über den militärischen Status des Gebietes DDR, die Anwesenheit fremder Truppen auf diesem, aber auch auf BRD-Territorium, die 4-Mächte-Rechte, können nur zeitweiligen Charakter haben. Am Ende wird ein einheitliches Deutschland als ein in jeder Hinsicht gleichberechtigter souveräner Staat stehen müssen. Dies aber wird für Deutschlands Nachbarn nur akzeptabel sein, wenn sie daraus keinerlei Befürchtungen ableiten.
Die Lösung dieses Problems liegt nicht in der Übernahme von militärischen und anderen Begrenzungen allein, oder gar in einem völkerrechtlich verbrieften Sonderstatus (Neutralität), sondern in der Integration und Verflechtung dieses Deutschlands mit einem gesamteuropäischen, das heißt West und Ost einbeziehenden System. Die Aufgabe deutscher Politik muß es deshalb sein, sich zum Fürsprecher solcher Entwicklungen zu machen. Die DDR muß dafür vor allem bei ihren östlichen Nachbarn werben, die BRD bei ihren Partnern in der NATO. Das Kunststück wird dabei unter anderem darin bestehen, Lösungen anzubieten, die bestehende und funktionierende Einbindungen der deutschen Staaten nicht etwa in Frage stellen oder gar schwächen, sondern im Gegenteil, solche Integration antreiben.
Andererseits aber müssen Wege gefunden werden, wie dies mit neu zu schaffenden gesamteuropäischen Strukturen zu verbinden ist. Dabei werden außerordentlich komplizierte juristische und im weitesten Sinne sicherheitspolitischen Probleme entstehen. Ein Weg könnte dabei sein, über die immer noch geteilten Strukturen hinweg konkrete gesamteuropäische Programme auf den verschiedensten Gebieten (Sicherheit/Überwachung, Umwelt, Verkehr, Rechtsordnung usw.) anzubieten. Es öffnet sich damit nicht nur der wahrscheinlich beste Weg Deutschland eine neue, auf Frieden und Vertrauen gegründete Rolle in Europa zu schaffen, sondern zugleich ein weites Feld deutscher Bestätigung zu eigenem und der andern Nutzen.
Schließlich ist die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung wahrscheinlich auch das beste Gleis zur endgültigen Regelung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden, Deutschland betreffenden, Fragen. Im Rahmen von Verträgen, die diese europäische Friedensordnung begründen und die notwendigen Übergangsregelungen beenden, die sich mit der deutschen Vereinigung notwendig machen, läßt sich auch ein Schlußstrich unter die Regelungen ziehen. Aber die 4-Mächte-Rechte in Deutschland sind für die USA und die UdSSR, aber auch für Großbritannien und Frankreich mit sensiblen Problemen verbunden, darunter auch ihrer Rolle als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Eine Ablösung dieser Rechte kann nur in einem schrittweise und gefühlvoll gestalteten Prozeß vor sich gehen. Wahrscheinlich ginge dies im Rahmen gesamteuropäischer Lösungen leichter, als durch einen förmlichen Friedensvertrag.
Hier sind mehr Fragen gestellt als beantwortet. Dies ist sicher normal, vor allem in einer Zeit, die von so weitreichenden Veränderungen mit einer so großen Dynamik geprägt ist. Wir befinden uns inmitten von Prozessen, die wahrscheinlich in diesen 90er Jahren zu weitreichenden Veränderungen der internationalen Beziehungen führen werden. Es ist immer schwierig, das richtige zu erkennen, was sich direkt vor unseren Augen abspielt, und es tiefgründig zu analysieren. Aber neue Antworten sind gefordert. Man kann darüber streiten, inwieweit Wissenschaft Politik bedienen kann. Auf jeden Fall sollten sie nicht miteinander verwechselt werden. Aber als Politikwissenschaftler sollte man schon bereit sein, nicht nur Vergangenes zu beurteilen, sondern auch den Vorschlag für die Gestaltung der Zukunft zu wagen. Die gegenwärtigen Umstände verlangen, dieser Verantwortung nachzukommen und wir müssen eingestehen, daß wir vielleicht noch zu wenig anzubieten haben. Die Entscheidung kann und will den Politikern, die dafür gewählt wurden, niemand abnehmen.
Der Beitrag Manfred Müllers erscheint auch in der Schriftenreihe des AK Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, Band 16, Göbel, Heinz Werner (Hg.), Umbrüche – europäische oder deutsche Wege?
Prof. Dr. Manfred Müller ist tätig an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam.