• Archiv
  • Alle Ausgaben
  • 2024/4
  • Artikel: Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen | Pazifismus – ein Irrweg?
W&F 2024/4

Heribert Prantl (2024): Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen. Unter Mitarbeit von Silke Niemeyer. München: Wilhelm Heyne Verlag. ISBN 978-3-453-21870-3, 242 S., 20 €.
Pascal Beucker (2024): Pazifismus – ein Irrweg? (Trilogie »Von Krieg und Frieden«, hrsg. von Jörg Armbruster, Bd. 2). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. ISBN 978-3-17-043432-5, 182 S., 19 €.

Abb. von Buch   Abb. von Buch

Der russische Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022, die daraufhin von Kanzler Scholz verkündete »Zeitenwende« und die dann vom für Militär und Krieg zuständigen Minister Pistorius propagierte Zurichtung von Gesellschaft und Bundeswehr auf »Kriegstüchtigkeit« hat die Koordinaten verschoben. Nicht mehr Frieden gilt als Ernstfall, wie es der damalige Bundespräsident Heinemann formuliert hatte, sondern die politische Diskussion wird massiv bestimmt von einem »Trommelfeuer« derjenigen, die Militär, Abschreckung, Aufrüstung das Wort reden. Die Stimmen derjenigen, die öffentlich für Frieden, Entspannung und Abrüstung eintreten, werden ausgegrenzt und verächtlich gemacht, Stichwort »Lumpenpazifisten«.

Umso wichtiger, wenn Menschen wie nun Heribert Prantl dagegen ihre Stimme erheben und dafür eintreten – so der Titel seines Buches – »Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen«. Prantl ist seit Jahrzehnten als wortgewaltiger und sprachmächtiger Journalist und Publizist bekannt. Der promovierte Jurist war zunächst als Rechtsanwalt, als Richter und als Staatsanwalt tätig, wechselte dann zur »Süddeutschen Zeitung« und war dort lange auch in der Chefredaktion tätig. Für diese Zeitung schreibt der nun 71-jährige weiterhin regelmäßig als Kolumnist und ist daneben Honorarprofessor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Bielefeld.

Was kann man also als Leser*in erwarten, wenn ein linksliberaler Verfassungspa­triot wie Prantl in Kriegszeiten ein »Friedens-Buch« schreibt? Eine wortgewaltige Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussion und kritische Auseinandersetzung mit der »Kriegstrommelei«. Dabei ist der Autor kein Pazifist, wie er zum Kapitel über die Frage der Gewaltlosigkeit einleitend schreibt: „Ein Geständnis zum Auftakt: Ich bin kein Pazifist, aber ich bewundere die Pazifisten; ich bewundere, wie sie es schaffen, ihre Ohnmacht auszuhalten.“ (S. 59) Vielleicht kann das Buch gerade deswegen sowohl bei den Bellizist*innen als auch bei den Pazifist*innen Zweifel an und ein vertieftes Nachdenken über die jeweils eigene Position auslösen. Den Letzteren dürfte das Werk dennoch besser gefallen, liefert es doch gerade für »Friedensbewegte« eine Fülle an Bestätigendem und Nachdenkenswertem.

Um das Buch vorzustellen, macht es der Autor dem Rezensenten einfach: Die sieben Kapitel sind jeweils mit kurzen und prägnanten Sätzen überschrieben – und damit inhaltlich zutreffend beschrieben: Es beginnt mit dem »Lob der Apokalyptik. Sie ist ein Augenöffner. Sie enthüllt, was passiert, wenn es einfach immer so weitergeht. Von der Falschheit des Begriffs Zeitenwende und von der Rückkehr der Politik ins Militärische«. Weiter wird erörtert das Verhältnis von »Die Verfassung und der Frieden: Friedenssüchtig. Wie das Grundgesetz wurde, was es nicht ist. Die Politik hat das Friedensgebot der Verfassung vernachlässigt – und das Bundesverfassungsgericht hat das billigend in Kauf genommen«, »Die Dilemmata der Gewaltlosigkeit. Schwerter zu Pflugscharen? Pazifisten von Kant bis Gandhi: Ihre Kraft, ihre Instrumentalisierung. Und eine Auseinandersetzung mit Max Weber: Warum seine Trennung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik falsch ist«. Nach dieser Grundlagenarbeit wendet sich der Autor der Aufgabe zu, was heißt »Frieden lernen. Weil der Mensch ein Mensch ist. Der Fremde als Feind und die Vermonsterung der Feinde. Wie kann die Zähmung der Gewalt, wie kann eine Entfeindung gelingen?«. So kann nun die politische Arbeit folgen: »Die weißen Tauben sind müde. Warum wir eine neue Friedensbewegung, eine neue Entspannungspolitik und keinen dritten Weltkrieg brauchen; es wäre der letzte«, »Die Friedenswette. Im Westen was Neues: Warum negativer Pazifismus positiv ist und warum wir eine Friedenspädagogik brauchen. Erich Maria Remarque und Ernst Toller als Lehrer« sowie »Gewalt und Gebet. Am Anfang war der Mord. Die Mythen und Erzählungen der Bibel prägen das kulturelle Gedächtnis des Westens. Glaube und Religion waren und sind in Gegenwart und Geschichte beides: Kriegstreiber und Kraft zum Frieden. Imagine there’s no heaven?«

»Angereichert« ist das Buch mit zahlreichen Verweisen auf biblisch-christliche Überlegungen und Bezüge. In einem Buch, in dem es wesentlich auch um Fragen von Politik und Moral geht, ist das im »christlichen Abendland« verständlich und an vielen Stellen erhellend. Prantl schreibt dazu im Vorwort, dass er sich bei der Frage, „ob und wie man Frieden lernen kann“, damit beschäftigt habe, „welche Bedeutung Glaube und Religion dabei haben“, und stellt fest, dass sie beides seien: „Kriegstreiber und Friedenskraft“ (S. 12; was er im letzten Kapitel ausbreitet). Außerdem wird Silke Niemeyer bei der Entstehung des Buches »Unter Mitarbeit von« genannt; die ist Pfarrerin und persönliche Referentin der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. Falls das alles dazu beiträgt, dass das Buch mit seinen vielfältigen Aspekten gerade auch in kirchlichen oder kirchennahen Kreisen rezipiert wird, zu friedenspolitischem Engagement anstiftet und zu deutlichem Widerspruch gegen Kriegsvorbereitung und Gewaltpolitik führt – um so besser! Eine partielle Perspektive markiert es zwar, aber eine für die liberale Moderne gewichtige. Dies ist dem Autoren nicht vorzuhalten, aber es ruft danach, ähnliche Versuche mit den Verweisen auf andere Denkschulen und Erfahrungshintergründe zu unternehmen.

Das zweite hier vorgestellte Buch wurde ebenfalls von einem Journalisten geschrieben, dem langjährigen Redakteur der »taz« Pascal Beucker. Anders als Prantl, der nach dem Abitur Wehrdienst bei der Bundeswehr leistete, ist Beucker Kriegsdienstverweigerer. Das scheint ihm – erfreulicherweise – wichtig zu sein, wird doch gleich auf der ersten Buchseite bei der Kurzvorstellung des Autors erwähnt, dass er laut schriftlichem Bescheid des Ausschusses für Kriegsdienstverweigerung beim Kreiswehrersatzamt Düsseldorf vom 13. Mai 1991“ berechtigt sei, „den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern“ (S. 2). Folgerichtig handelt das letzte Kapitel »Vom Recht, sich dem Krieg zu verweigern«. Beucker geißelt darin das „inhumane[s] wie unvernünftige[s] Vorgehen“ (S. 145f.) zahlreicher EU-Staaten, anstatt russische Kriegsdienstverweigerer „mit offenen Armen“ (S. 145) aufzunehmen ihnen die Grenzen zu verschließen, als „zivilisatorisches Versagen“ (ebd.). Beucker hält dagegen: „Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht(S. 147) und: „Dabei ist selbst ein vermeintlich ,gerechter‘ Krieg immer noch ein Krieg, niemand sollte gezwungen werden, gegen seinen Willen in ihn zu ziehen. Das gilt übrigens auch für jene Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren, die seit Kriegsbeginn ihr Land nicht mehr verlassen dürfen, um für die Verteidigung herangezogen zu werden.“ (ebd.) Und so lauten die letzten Sätze im Buch: „Es brauchte in der Geschichte immer mehr Courage, sich einem Krieg zu verweigern, als mitzumarschieren. Zu seiner Motivation, als junger Mann zu desertieren, sagte [der Wehrmachtsdeserteur und Gründer der »Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz« – Anm. d. Verf.] Ludwig Baumann einmal: ,Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.‘ Das reichte ihm als Grund. Das muss reichen. Auch heute noch.“ (S. 150)

Diese klare Haltung Beuckers scheint nicht zum Buchtitel zu passen, der die Aussage »Pazifismus – ein Irrweg« mit einem Fragezeichen versieht. Dabei ist das eher als rhetorische Frage zu verstehen. Denn gleich in der Einleitung wird pazifistisches Denken als wichtig bezeichnet, „ist es doch ein Stachel gegen jene, die bereit sind, sich allzu selbstsicher wie leichtsinnig in einer Welt der Waffen und Kriege einzurichten.“ (S. 12) Aber: der Pazifismus habe „auch seine Tücken und Widersprüche“ (ebd.). Und vor allem um diese geht es auf den 182 Buchseiten – kritisch und bisweilen schonungslos, damit aber auch notwendig und weiterführend. Nicht nur, aber vor allem für diejenigen, die aktiv sind in der Friedensbewegung und dabei mitentscheiden, wie sich diese positioniert und wie sie nach außen auftritt, sollten die Abschnitte »Die Ostermarschbewegung und ihr Ringen um Glaubwürdigkeit« (S. 118ff.) und der »Exkurs: Die Friedensbewegung und der Vietnamkrieg« (S. 124ff.) von besonderem Interesse sein; das Stichwort ist genannt: Glaubwürdigkeit. Wer zum Verbrechen Krieg auch dadurch (letztlich) schweigt, dass er Schuld undifferenziert oder einseitig verteilt oder nach alter Gewohnheit ausschließlich den US-Imperialismus als Triebfeder erkennt, der trägt nicht dazu bei, die Friedensbewegung wieder zu einem relevanten politischen Akteur zu machen. Und gerade in diesen (leider wohl Vorkriegs-?)Zeiten wären eine mahnende, überzeugende, einflussreiche und glaubwürdige Stimme und eine Stimmung machende Bewegung so wichtig.

In dem umfangreichsten Kapitel »Was ist eigentlich Pazifismus« werden die unterschiedlichen »Spielarten« des Pazifismus gut verständlich dargestellt und eingeordnet. Es folgt mit »Bertha von Suttner und die Anfänge der Friedensbewegung« ein historischer und mit »Grundgesetzliche Dehnübungen« ein juristischer Abriss. Für die aktuellen Diskussionen in Zeiten des Krieges in der Ukraine und in Israel/Palästina von besonderer Bedeutung sind die Kapitel »Der Ukrainekrieg, die Atombombe und andere Dilemmata«, »Von den Schwierigkeiten der Friedensbewegung mit dem Ukrainekrieg« und »Zeitenwende für den Pazifismus«.

Beide Bücher sind für Friedensaktivist*innen im Grunde Pflichtlektüre und für alle, die ernsthaft über Krieg und Frieden nachdenken und diskutieren wollen, eine hilfreiche und anregende Lektüre.

Stefan Philipp

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/4 Eskalationen im Nahen Osten, Seite 72–73