W&F 2010/4

Den Krieg zivilisieren?
Zwei Standpunkte

von Cornelia Brinkmann und Wolf-Dieter Narr

W&F bat eine Autorin und einen Autor, für uns ihren je unterschiedlichen Standpunkt zur »zivil-militärischen Zusammenarbeit« zu formulieren. Cornelia Brinkmann begründet, warum sie für eine Fortsetzung der Kooperation zwischen zivilen Akteuren mit militärischen Strukturen ist, empfiehlt aber dringend praktische und konzeptionelle Änderungen in der Umsetzung. Wolf-Dieter Narr lehnt die Kooperation von Zivilen mit dem Militär aus pazifistischer Sicht grundsätzlich ab, da zivile Konfliktbearbeitung in einem gewaltgestützten Kontext nicht möglich sei.

Gleichzeitig getrennt und vereint in Afghanistan?

von Cornelia Brinkmann

Die Entwicklung der zivil-militärischen Zusammenarbeit entscheidet sich weder allein am Grünen Tisch noch ausschließlich in der Praxis. Sie wird sich vielmehr aus dem Zusammenwirken von konzeptionellen Diskussionen, politischen Diskursen im In- und Ausland und konkreten Projekten aller beteiligten Akteure formen. Dass es hierbei erhebliche Versäumnisse gibt, macht sich in der Praxis durch Ungereimtheiten, Widersprüche und Unverständnis bemerkbar. Durch die zivile Perspektive auf einige zentrale Spannungsfelder der zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan sollen Empfehlungen abgeleitet werden, wie dieses Feld praktisch und konzeptionell weiterentwickelt werden kann.

In Deutschland findet aktuell eine Diskussion unter dem Stichwort »Vernetzte Sicherheit« statt. Das Konzept wurde 2006 im »Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr« vorgestellt. Darunter wird eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung verstanden. In diesem Konzept findet zwar verbal eine Aufwertung der zivilen Komponente statt, allerdings wird sie als nachgeordneter Beitrag zur militärischen Sicherheitspolitik angesehen. Die Perspektiven, Standards und Erfahrungen von zivilgesellschaftlichen Akteuren und ihre Potentiale zur Sicherung von Frieden und Entwicklung hingegen finden kaum Eingang in die aktuelle Diskussion. Hier ist eine inakzeptable Unterordnung des Zivilen angelegt, die erheblich von einer zivil-militärischen Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe entfernt ist.

Dennoch hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) jüngst eine »Entwicklungsoffensive« zur Förderung von Projekten privater deutscher Träger in Afghanistan damit verbunden, dass diese im Einklang mit dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung und dem Konzept der »Vernetzten Sicherheit« stehen. Ein Blick auf Beispiele der dortigen Praxis zeigt die – häufig subtilen, häufig drastischen – Wechselwirkungen von internationalem zivilen und militärischen Handeln.

So benutzte das Militär in der Anfangsphase des Afghanistan-Konflikts u.a. weiße Fahrzeuge, weiß gilt international jedoch als Symbolfarbe für zivile internationale Akteure. Die lokale Bevölkerung wurde so über die Zugehörigkeit der Fahrzeuge getäuscht. Diese Praxis wurde erst nach heftiger Kritik von Organisationen der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zögerlich verändert.

Darüber hinaus beansprucht das Militär in Afghanistan immer mehr eine Rolle in genuin zivilen Tätigkeitsfeldern der Entwicklungszusammenarbeit oder humanitären Hilfe. Ziel ist es dabei, sich bei der Bevölkerung und den örtlichen Machthabern ein wohlwollendes und damit sicheres Umfeld zu schaffen und strategische oder militärische Vorteile zu erzielen. Das Militär baut Schulen, Brücken, Brunnen, leistet medizinische Dienste und verteilt Decken und Lebensmittel. Militärs nehmen auch an Gründungs- und Eröffnungszeremonien von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit teil. Diese Strategie ist unter den Nichtregierungsorganisationen und in der Diskussion über die zivil-militärische Zusammenarbeit höchst umstritten, denn die zivilen Projekte des Militärs sind mit dem partner- und prozessorientierten Ansatz einer Entwicklungszusammenarbeit kaum vereinbar. Fragen einer nachhaltigen Entwicklung werden gegenüber rein militärischen Sicherheitsinteressen zurückgestellt.

In diesem Kontext kann die lokale Bevölkerung nur schwer zwischen Projekten des Militärs und internationaler Organisationen unterscheiden, was dem militärischen Sicherheitsinteresse durchaus dienlich sein kann, aber für die Zivilen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko bedeutet. Dieses Vorgehen ist unverantwortlich gegenüber den Menschen und Organisationen, die sich auf eine Tätigkeit in Afghanistan eingelassen haben.

Empfehlungen aus friedenspolitischer Sicht

Zur Bewertung der zivil-militärischen Zusammenarbeit können aus friedenspolitischer Sicht einige Schlussfolgerungen gezogen werden.

So zeigen die Beispiele, dass das Militär den Anspruch, ein sicheres Umfeld für zivile Aktivitäten zu schaffen, nicht erfüllt und sich stattdessen die Sicherheitsrisiken für Zivile erhöhen. Dies führt dazu, dass internationale Organisationen große Probleme haben, geeignetes Personal für Afghanistan zu gewinnen. Afghanische MitarbeiterInnen weigern sich aus Sicherheitsgründen, für internationale Organisationen in die Region zu fahren. Dies schränkt den Gestaltungsspielraum für zivile Aktivitäten auf lokaler Ebene ein, da Projekte nicht betreut werden können und damit die bereitgestellte Hilfe nicht bei den Bedürftigen so ankommt, wie es von ziviler Seite gewünscht und geplant ist. Aus diesem Grund ist für Zivile eine der wichtigsten (Sicherheits-)Regeln: Abstand halten vom Militär.

Weiter hat sich die Sicherheitslage für die afghanische Bevölkerung selbst und damit auch die Lebensqualität verschlechtert. Da in der internationalen Diskussion die Sicherheit von Ausländern stets im Vordergrund steht, gewinnen Afghanen den Eindruck, dass dem Leben von Internationalen ein höher Wert beigemessen wird als dem von Afghanen, mit katastrophalen Folgen für die Glaubwürdigkeit der ausländischen Partner und ihrer Projekte. Die Alltagssicherheit sollte deshalb auch für normale Afghanen absolute Priorität haben, damit Gestaltungsspielräume für zivile Veränderungsprozesse entstehen können. Die Erfahrung zeigt, dass Sicherheit vor allem durch Afghanen selbst durchgesetzt und abgesichert werden muss. Die afghanischen Partner müssen daher stärker in die Verantwortung genommen werden, sich für die Sicherheit ihrer eigenen Bürger einzusetzen. Aus diesem Grund ist die Auswahl und Begleitung geeigneter lokaler PartnerInnen ein Schlüssel für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungsprozesse.

Ferner müssen die Ressourcen für zivile und militärische Maßnahmen endlich in eine vernünftige Balance gebracht werden. Rainer Glatz, Generalleutnant und Befehlshaber des Einsatzführungskommandos in Potsdam, sprach am 24.10.2009 im Tagesspiegel in einem Interview zu Afghanistan davon, dass lediglich 20% des Engagements aus dem militärischen, aber 80% aus dem zivilen Bereich kommen müssten. Diese Forderung klingt plausibel und müsste eine erhöhte Aufmerksamkeit für und Aufwertung der zivilen Komponenten nach sich ziehen. In der Praxis wird in Deutschland aber durch die aktuelle Diskussion um »vernetzte Sicherheit« das Zivile dem Militärischen untergeordnet. Weiterführende Konzeptbeiträge aus dem zivilen Raum sind daher dringend erforderlich.

Gemeinsam planen, aber getrennt handeln!

Während unstrittig erscheint, dass eine ressortübergreifende Abstimmung bei der Planung von Programmen gefördert werden sollte, bleibt offen, wie sich die unterschiedlichen institutionellen Vorgaben und Abläufe, die jeweiligen Qualitätsmaßstäbe von Programmen und Projekten, die unterschiedlichen Standards der methodischen Durchführung, die jeweiligen Qualifikationen und Haltungen von MitarbeiterInnen und die Beiträge der lokalen PartnerInnen miteinander vereinbaren lassen. Die Einrichtung einer eigenständigen Institution oder eines eigenständigen Ministeriums zur Förderung des zivilen Engagements in Konfliktregionen sollte aufgebaut werden, damit Konzepte und Entscheidungen aufeinander abgestimmt werden können.

Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse vor Ort sind notwendig, allerdings sollten sie diskret erfolgen und stets berücksichtigen, dass zivile Organisationen und Militärs unterschiedliche Ziele verfolgen, unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und unterschiedliche Aktivitäten durchführen. Zivile und militärische Mandate folgen unterschiedlichen Prämissen, und ihre Vermischung stellt keine Stärkung der jeweiligen Ansätze, sondern eine Schwächung dar. Auf der lokalen Ebene muss daher konsequent auf eine klare Trennung von militärischem und zivilem Engagement geachtet werden, u.a. sollten keine Gebäude gemeinsam genutzt werden, und Fahrzeuge und Kleidung sollten sich klar unterscheiden.

Trotzdem: internationales Militär ist wichtig

Trotz der erheblichen Sicherheitsrisiken und bei aller Kritik an dem kulturell unsensiblen Auftreten der Militärs: Moderate, mutige und veränderungsinteressierte Afghanen der Zivilgesellschaft betonen, dass ihnen durch die Präsenz des ausländischen Militärs Gestaltungsspielräume für gesellschaftliche und politische Veränderungen geschaffen werden, die ihnen die lokalen und häufig gewaltbereiten Machtakteure ansonsten nicht zugestehen würden. Dies funktioniert für sie allerdings nur so lange, wie das Militär eine Basisakzeptanz bei Politik und Bevölkerung hat.

Wer die einheimischen zivilgesellschaftlichen Akteure bei ihren politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsbemühungen unterstützen will, sollte ihre Perspektive auf das Militär respektieren. Differenzierte Positionen dieser Art müssen zudem in ein angepasstes Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit integriert werden.

Friedens- und konfliktsensible Projekte

Internationale Akteure, ihre Partner vor Ort und die gemeinsamen Aktivitäten werden von Afghanen sehr intensiv im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf lokale Machtbeziehungen analysiert. Jeder Kontakt von Afghanen zu Internationalen, egal durch wen, wird Auswirkungen auf das lokale Machtgefüge haben und daher Reaktionen auslösen.

Im Kontext der humanitären Hilfe in Krisenregionen kamen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass durch internationale Beiträge lokale Konflikte u.U. verlängert oder intensiviert, sogar neue geschaffen werden können. In einem weltweitem Konsultationsprozess mit Praktikern unterschiedlicher Organisationen wurden die Beobachtungen diskutiert und unter der Überschrift »Do No Harm« veröffentlicht. Zentrale Ergebnisse sind:

Jede Intervention im Kontext eines Konfliktes hat Auswirkungen auf den Konflikt selbst.

Der Konfliktkontext wird bestimmt durch trennende Faktoren (dividers) und verbindende Faktoren wie lokale Potentiale für den Frieden (connectors).

Jede Intervention steht in einer Wechselwirkung mit beiden Faktorengruppen, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.

Der Transfer von Ressourcen durch eine Intervention wirkt auf den Konfliktkontext zurück (Verteilungseffekte, Markteffekte, Substitutionseffekte, Missbrauchseffekte, Legitimierungseffekte).

Implizite ethische Botschaften einer Intervention wirken auf den Konfliktkontext, z.B. kulturelle Eigenheiten, Lebensstandard, die Verwendung von Ressourcen, Missachtung und Konkurrenz unter externen Akteuren, Ohnmacht, Anspannung und Misstrauen, unterschiedliche Wertigkeit von Menschenleben, Dämonisierung und Viktimisierung durch Öffentlichkeitsarbeit oder der Einsatz von Waffen und Macht.

Es gibt immer alternative Optionen.

Diese Erkenntnisse des »Do No Harm«-Ansatzes haben in Afghanistan hohe Relevanz. Sie sollten daher unbedingt sowohl von den zivilen als auch von den militärischen Akteuren bei der Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung berücksichtigt werden.

Cornelia Brinkmann ist Gründungs- und Vorstandmitglied des Forum Ziviler Friedensdienst e.V. sowie Projektreferentin von »zivik«. Seit 2000 arbeitet sie als friedenspolitische Beraterin zu Themen der Friedenskonsolidierung, zivilen Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation mit Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Trägern, seit 2005 auch in Afghanistan. Seit 2010 auch Geschäftsführerin von Steps for Peace – Institut für Peacebuilding gGmbH.

Pazifismus bedeutet die Absage an Staat und Militär – oder nichts

von Wolf-Dieter Narr

Aus pazifistischer Sicht kann es keine »gute« und »zivile« Konfliktbearbeitung geben, so sie denn in einen von Grund auf falschen – gewaltgestützten – Kontext eingebettet ist. Dies gilt besonders, sofern »zivile« Konfliktbearbeitung mit militärischen Akteuren kooperiert. Sie hält damit, ungeachtet aller durchaus vorstellbarer wohlfeiler Absichten, allein ein System aufrecht, das Gewalt androht und ausübt. Allenfalls färbt sie es schön. Im Folgenden hierzu einige Überlegungen sowie ein Plädoyer, derlei (Selbst-)Täuschungsversuchen eine Absage zu erteilen – ja aus pazifistischer Sicht erteilen zu müssen. Stattdessen sind andere Wege zu suchen und zu finden.

Matthias Claudius’ Schreckensruf hallt durch die menschlichen Jahrtausende: „S´ ist Krieg, s´ ist Krieg!“

I. »Zivilisatorisch«, auf den menschverändernden Spitzen der Innovationen, gilt im Jahr 2010 unverändert: „Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört.“ Verändert haben sich allein die globalen Ausmaße, die panoptische und die paninformationelle Guckkastenbühne; außerdem die wissenschaftlich-technologisch abstrakter, perfekter, geheimdienstlich noch intensiver instrumentierten mörderischen Produktionsverhältnisse der Kriege. Allein darin sind die alles andere als »neuen Kriege« »asymmetrisch«. Ist man infolge historisch erfahrenem und analytisch Ursachen ermitteltem Verstand, verbunden mit einer nicht durch die Banalität von Kriegen eingeschläferten Emotion zum Schluss gekommen, zu allen Arten kollektiver, meist zirkulärer Gewalt von Menschen gegen Menschen ein entschiedenes und hier unerbittliches NEIN zu sagen, was bleibt dann anders als schiere Verzweiflung? Oder kann man etwas tun? Worin könnte solches pazifistisch eindeutiges und klares Tun bestehen?

II. Mehrfach vertrackt. Wo könnte man ansetzen? Darf man berührungsängstlich pingelig sein, wenn es um existentielles Doppel zu tun ist: Krieg zu vermeiden oder einen währenden gewaltfrei durch zivile Hilfsaktionen zu unterwandern, dabei zugleich einzelne Menschen zu retten, die sonst kriegsverloren zugrunde gingen? Können diese hehren Absichten nicht um den Preis des »Guten« eine Zusammenarbeit mit dem Militär rechtfertigen?

Entgegen steht bestem Willen und ihm entspringenden Hilfsaktionen die kriegerische Durchdringung von Staat, Ökonomie und Gesellschaft. Dies ist in einem Maße der Fall, dass sich kaum noch Inseln und Handlungsstücke finden, die nicht kriegstümlich, wenn nicht gleichgeschaltet, so doch vor- und parallel geschaltet werden könnten. So könnte es geschehen und ist sintemal der Fall gewesen, dass die besten Absichten und an sich selbst nicht zu kritisierenden Handlungen, schon infolge des Kontextes, in dem sie stattfinden, zu kriegerischen Zwecken umfunktioniert werden. Nicht erst Christa Wolfs »Kassandra«, schon ihre mythische Vorgängerin wusste, über den trojanischen Krieg hinaus erfahren, dass Kriegszeiten durch Vorkriegs- und Nachkriegszeiten zu einer unendlichen Geschichte werden. In Zeiten restlos durchdringender Globalisierung kann man sich noch weniger als früher darauf verlassen, Krieg und kriegsvor- und nachbereitende Funktionen und Institutionen unterscheiden zu können. In Sachen Militär und Polizei kann man geradezu nach einer Juso-Formel Ende der sechziger Jahre von einer vermengten Doppelstrategie (und -taktik) sprechen. Deutsch behauptete »Sicherheitsinteressen« – so der weiland Verteidigungsminister mimende Herr Struck – werden bekanntlich nicht nur am Hindukusch mörderisch wahrgenommen. Die wirtschaftlich und energiepolitisch volltrunkenen Interessen werden im Kontext von EU, NATO oder auch der UN weltweit verfolgt.

Von ihnen lassen sich friedliebende Bürgerinnen und Bürger täuschen: Man sei militärisch, »entwickelnd« als Hilfe zur Selbsthilfe, wirtschafts- und außenpolitisch auf vielen humanitären Wegen unterwegs. Man müsse schließlich den talibangefährdeten Afghanen endlich die freiheitliche demokratische Grundordnung beibringen. Diese funktional peinlich engen Entdifferenzierungen werden ergänzt durch die Exklusionen der etablierten und sich etablierenden Staaten, im Rahmen verschärfter globaler Konkurrenz: Inmitten dieses herrschaftsinteressenvollen Kuddelmuddels sind Chancen genuiner friedenserpichter Handlungen nicht zu erspähen. Gerade darum ist es notwendig, dass Konzepte und Ansätze friedlicher Konfliktbearbeitung nach ihrer eigenen pazifistischen Logik entwickelt werden. Ihre Vertreterinnen und Vertreter dürfen sich um der Friedenssache und der dafür neuen Denk- und Handlungsformen willen nicht auch nur annähernd in die Nähe zu militärisch gerichteten Herrschaftswirklichkeiten begeben. So sehr es vielen prächtig friedensvoll Gesinnten zu wünschen wäre – und ich sage das als alter Kerl, pensioniert (!), nicht altersarriviert: Arbeit, Anerkennung und die nötigen Moneten sind pazifistisch im Rahmen der etablierten Institutionen, in ihrer Nähe, von ihnen geduldet, gefördert, nicht zu haben.

III. Kriege als äußerstes Mittel. Dass Kriege Menschen entmenschen, indem sie morden und gemordet werden – Soldaten SIND Menschen, auch wenn ihre Traumata und Tode kaum kümmern –, ist eine alte Erfahrung. Allein in der kurzlangen Moderne hat man darum immer erneut Schritte unternommen, Kriege zu hegen. Ihnen sollte, wenn sie schon nicht zu verhindern waren, eine zivil begrenzte Form gegeben werden. Das hebt mit dem modernen Völkerrecht an, geht übers Rote Kreuz und die Haager Landkriegsordnungen, endet mit der Gründung der UNO 1945 und schließlich dem International Criminal Court.

Wahrheitsgemäß muss man feststellen: Jenseits einzelner wichtiger Modifikationen haben alle »Zivilisierungen« die grausame, in der Zwischenzeit apparativ eigendynamisch gewordene Furie der Kriege und den Interessenhunger nach neuen Kriegen nicht gebändigt, sie haben ihm nicht einmal Schlingen angelegt. Die Art, wie humane Maßgrößen, wie Menschenrechte und Demokratie mit philosophischem Goldkragen als Fahnentusch für Kriege missbraucht werden – darum ist, pazifistisch das unschöne Adjektiv »humanitär«“ gebrauchstabu –, macht vollends kund: Um der Menschen und ihres Friedens darf man sich auf noch so »fortschrittliche« Institutionen und »Errungenschaften« keine Sekunde verlassen.

IV. Und auch noch der STAAT. Die Erfolgsgeschichte ist bewunderungswert. dass es dem Interessenkomplex, genannt moderner Staat, und seinem Herzen, dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit, gelungen ist, fast global zur zweiten, zur bürgerlich verinnerlichten Natur zu werden. Sähe man pazifistisch mit darum umso schärferen historisch gegenwärtigen Augen hin, müsste auffallen: Die vorab allgemein, auch völkerrechtlich legitimierten Handlungen des Gewaltmonopols und seiner Knechte, um SEINEN immer mit Gewalt unterlegten oder unmittelbare Gewalt übenden Frieden im Staatsinnern und expansiv nach außen herzustellen, sind ihrerseits vor allem Schuld an der ungebrochenen Kontinuität der Kriege.

Das heißt erneut, unmäßig verkürzt: Pazifistisch kann man sich auf keine der staatlichen Institutionen verlassen. Auch »zivile« Konfliktbearbeitung wird im heutigen Staat nicht als grundsätzliche Alternative, sondern nur als eine Ergänzung zur traditionellen Interessenspolitik verstanden. Durch die Verknüpfung mit dem Militär steht im Hintergrund jedes Dialogs und aller Versöhnungsarbeit die Gewaltoption, mit der keinesfalls altruistische Ziele im Kontext westlicher Einsätze auch ohne Rücksicht auf den Dialogpartner durchgesetzt werden.

Anders und mehr noch: Es kommt in der Vorstellungskraft und dort, wo man tätig ist, darauf an, andere soziale Organisationsformen zu finden, die nicht, indem sie soziale Probleme letzterstlich gewaltsam zerschlagen, Gewalt heckende Zustände noch und noch erhalten.

V. „…ihr lasst den Armen schuldig werden“. Aus den heute weltweit durchstaateten (und mehr noch: durchkapitalisierten) Gesellschaften kann niemand »französischen Abschied« nehmen. Auch passiv und »unpolitisch« immer gilt: Mit gefangen, mit gehangen. Was aber bleibt einem Pazifisten? Im friedenspolitischen Sisyphosgeschäft gibt’s täglich Arbeit in Fülle – Camus zufolge soll Sisyphos ein glücklicher Mensch gewesen sein. Von Berührungsängsten und mit ihnen kann man nicht leben. In dem, was man tut und wie man es betreibt, kann man jedoch friedenspolitisch nur so verfahren, durchgehend, im Ziel und vor allem in den Mitteln: menschenrechtlich, basisdemokratisch, selbstbestimmt. Dazu sind die möglichen Wirkungen des Tuns und sein Kontext mitzubeachten. Da aber friedenspolitisches Tun weder beginnt, wenn die Waffen sprechen, noch endet, wenn sie noch als Minen Menschen zerstören, kennt seine Praxis keine Grenze. Im engeren Zusammenhang friedenspolitischer Aktivitäten sind folgende Markierungen und Kautelen zu beachten.

1. Die erste Aufgabe besteht darin, dem etablierten Goodspeak oder den inflationären Euphemismen nicht zu erliegen oder sich selbst mit solchen zu täuschen à la »Versöhnungs«-Gerede. Der etablierte Täuschungs-, ja Lügenaufwand just in einer informationstollen Zeit ist so groß, dass man sich ihm nie ein für alle Mal entziehen kann.

2. Vorsicht ist geboten, wenn man eine Aufgabe übernehmen will, deren Kontext selbst die beste eigene Arbeit unkenntlich macht. Dem Hasen ist der Pakt mit einem Löwen trotz des letzteren wunderschöner Mähne abzuraten. Ist die »zivile« Konfliktbearbeitung zudem erst einmal in das bestehende Arsenal der Instrumente herrschender Interessenspolitik integriert, so wird sie ihre Fähigkeit verlieren, den militärischen Konfliktaustrag grundsätzlich zu kritisieren. Der Kampf um eine Entmilitarisierung der Welt wäre verloren.

3. Sich durch nötige finanzielle Mittel und/oder Anerkennungen wohl tuender Art nicht verführen lassen. Das ist am schwersten. In aller Regel geraten nicht primär selbst finanzierte oder aus kenntlichen kleinorganisatorischen Quellen bestrittene Handlungen auf die schiefe Ebene. Ist man einmal finanziell gefangen, ist ein Entkommen schwer möglich. Darum empfiehlt es sich, dass sich Einzelne und Gruppen wechselseitig kontrollieren.

4. Am Ziel einer Welt ohne Krieg kann auf verschiedene Weise im Großen und Kleinen von jeder und jedem gearbeitet werden. Assoziativ zu verfahren, empfiehlt sich. In eigenen, nicht staatlich oder kapitalstiftlerisch gewirkten Assoziationen. Im Kleinen, im eigenen Beruf, überall, kann das ratio und emotio einende Wissen darum, dass der pazifistische Weg human richtig ist, die eigene Person frei machen und diejenigen, mit denen man zu tun hat. Wohlgemerkt: Es gibt nicht mehrere Pazifismen verschiedener Prozente. Es gibt nur einen wurzelpackenden – und der verträgt sich nun einmal nicht mit gewaltgestützter Interessensdurchsetzung aktueller Prägung. Von der ist Distanz zu wahren. Selbst wenn ein derartiger Pazifismus darob verfassungs-, alias staatsschützerisch auffiele.

Wolf-Dieter Narr ist Mitbegründer des Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/4 Konflikte zivil bearbeiten, Seite 20–23