W&F 1986/5

Denkschrift Katastrophenmedizin

von Edith Schieferstein

Publikationen können schillernd oder nichtssagend sein wie Menschen, deren Vorgeschichte und Charakter man nicht kennt. Man liest sie durch (sieht sie an) und legt sie beiseite (geht an ihnen vorüber). Mit Kenntnis von Vorgeschichte und Charakter dagegen können sie zuweilen fesseln. Die „Denkschrift über die Rechte und Pflichten des Arztes in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der medizinischen Versorgung bei Katastrophen im Frieden und ihre Berücksichtigung in den Katastrophenschutzgesetzen“1 ist ein gutes Beispiel dafür.

Hier die Vorgeschichte: nachdem der Entwurf eines „Gesundheitssicherstellungsgesetzes“ der SPD/FDP-Regierung wie auch der „Entwurf eines Gesundheitsschutzgesetzes“ der CDU/CSU 2 nicht zuletzt auf Druck der Friedensbewegung, insbesondere der Ärzteinitiativen gegen den Krieg, zurückgezogen worden sind, droht auch dem jetzt vorliegenden „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“3 das Schubladenbegräbnis wegen mangelnder Akzeptanz. Was liegt da näher als der Versuch der Bundesärztekammer – einer Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Landesärztekammern ohne jede legislative Kompetenz, von oben herab, die Ärzteschaft auf Katastrophenmedizin einzuschwören. Ein Mittel zu diesem Zweck war die Erarbeitung der Denkschrift. Im „Tätigkeitsbericht 85“4 der Bundesärztekammer liest sich das so: „Nach längeren Vorarbeiten im Wissenschaftlichen Beirat wurde von diesem eine „Denkschrift über die Rechte und Pflichten des Arztes in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der medizinischen Versorgung im Frieden und ihre Berücksichtigung in den Katastrophenschutzgesetzen“ verabschiedet. Nach redaktioneller Überarbeitung wurde diese Denkschrift im Ausschuß und der Ständigen Konferenz ,Sanitätswesen im Katastrophen-, Zivilschutz und in der Bundeswehr' eingehend beraten und dem Vorstand der Bundesärztekammer zur Meinungsbildung und Beschlußfassung im April 1985 vorgelegt.“

Anfang März 1985 war die Denkschrift der Sektion BRD der IPPNW bekanntgeworden. Auf der letzten Seite des Entwurfs stand ein Satz, der die Stoßrichtung der Schrift auf einen Punkt brachte: „Da die Aus- und Fortbildung in Katastrophenmedizin nicht berufsrechtlich begründet werden kann, muß sie vom Gesetzgeber im allgemeinen Interesse angeordnet werden, falls er sich ärztlich erfahrener Hilfe bei Katastrophen versichern will.“ Mit Schreiben vom 7. März 1985 intervenierte die IPPNW und bat dringend um ein Gespräch, bevor die Schrift zur Beschlußfassung komme. Ende März kam die Antwort. Die Denkschrift liege dem Vorstand der Bundesärztekammer bereits vor, und das Gespräch könne nicht stattfinden. In einem früheren Gespräch „hat sich doch eigentlich gezeigt, daß in dieser Beziehung grundsätzlich unterschiedliche Standpunkte bestehen. Dieses würde sich durch ein erneutes Gespräch nicht ändern.“ Obwohl auf dem 88. Deutschen Ärztetag im Mai 1985 in Travemünde die Debatte über Zivilschutz und Katastrophenmedizin mit Erfolg abgewürgt werden konnte, war der Konflikt programmiert. Stand doch der oben zitierte Satz in zu krassem Gegensatz zu einer Stelle im „Tätigkeitsbericht 85“ im Zusammenhang mit dem „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“ (EZSG). Zitat: „Die Bundesärztekammer begrüßt, daß nunmehr von einer gesetzlichen Regelung einer speziellen ärztlichen Pflichtfortbildung Abstand genommen wurde. Die Regelung der ärztlichen Fortbildung ist Aufgabe der Ärztekammern, und zwar auch für Notfall- und Katastrophenmedizin.“ In Travemünde wurde noch IPPNW-Mitgliedern vorgehalten, sie hätten die Denkschrift (die im allen Delegierten zugeschickten Tätigkeitsbericht zitiert war) angeblich durch eine Indiskretion erhalten, aber der Protest nahm seine Bahn. So intervenierte die Landesärztekammer Baden-Württemberg mit Erfolg, und der Ruf nach dem Gesetzgeber verschwand aus dem Druckwerk. Verschwunden ist auch eine Diffamierung der Ärzteinitiativen, die bereits die „Vorbemerkung“ zierte: „Dadurch würde auch erreicht werden, daß die derzeitigen Gegner der Katastrophenmedizin ihren rechtlichen Pflichten nachkommen. Mit ziemlicher Gewißheit würde dann die Mehrzahl dieser Ärzte bei der Bekämpfung einer Katastrophe mitwirken.“ Vermutlich war selbst den Verfassern bange vor dieser publizierten Unwahrheit. Wir haben immer wieder betont, daß wir in keinem Fall, auch nicht im Krieg, sofern wir überleben, Hilfe versagen werden. In der Frankfurter Erklärung verpflichten wir uns: „Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich daran nicht beteiligen. Das ändert nichts an meiner Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.“ In der Katastrophenmedizin jedoch sollen wir einüben, Verletzte, Vergiftete, Verstrahlte, Kranke zu sortieren. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin, die sich trotz des Bestehens mehrerer unfall- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften im Juli 1980 konstituiert hat, lehrt das ausdrücklich. Tscherne et al. 5 propagieren Zurückstellung lebensrettender Sofortmaßnahmen für den Fall, daß nur zwei Ärzte am Katastrophenort zur Verfügung stehen (Abb. 1), sie beschreiben auch Sichtungskategorien (Tabelle). Solche Einteilungen finden sich in zahlreichen Büchern und Publikationen katastrophenmedizinischer Art. Es gelingt auch nicht mehr, die Konsequenz der Triage zu verschleiern. So beschloß die Vertreterversammlung der baden-württembergischen Landesärztekammer 1985: „Die Vertreterversammlung der Landesärztekammer betont, daß auch bei der Sichtung die Kriterien ärztlich-ethischen Handelns beachtet werden müssen d.h. den Schwerstbetroffenen mit Überlebenschance zuerst einer Behandlung zuzuführen.“ Demgegenüber wurde kürzlich vom 89. Deutschen Ärztetag ein entsprechender Antrag 6 (Wortlaut: „Der 89. Deutsche Ärztetag bekräftigt das Grundprinzip ärztlicher Hilfe: Dem Schwerstkranken wird zuerst geholfen! Dieses Prinzip behält auch bei Katastrophen seine Gültigkeit.“) mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund gerät der zweite Abschnitt der Denkschrift unter der Überschrift „Rechtsfragen zur Ausübung der Heilkunde im Katastrophenfall“ nicht nur mehr schillernd, sondern eher verrückt. Da ist von Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten die Rede, von Einwilligung in ärztliche Eingriffe nach vorheriger Aufklärung und Information. Dies bei einem Zeitaufwand von 1 bis 3 Minuten pro Verletztem.

Von Schweigepflicht ist die Rede, wo doch die Anhänger für persönliche Daten und Diagnosen schon gedruckt sind. Und der Satz: „Mit der Behandlungsaufnahme verpflichtet sich der Arzt zu ordnungsgemäßer sorgfältiger Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ führt die ganze Lehre von der „Katastrophenmedizin“ ad absurdum. Oder ist damit gemeint, daß wir bei der Dringlichkeitsstufe 4 (s. Tabelle) die Behandlung gar nicht erst aufnehmen? Andererseits steht laut Koslowski hier „die Schmerzbekämpfung als humane Forderung im Vordergrund“, und „solche Schwerstverletzungen sind besonders sorgfältig zu beobachten, um jede Besserung des Zustandes zur Behandlung nutzen zu können“.

Die Bundesärztekammer muß sich fragen lassen, was alles sie uns wie lange noch zumuten will. Neuerdings werden die ungeliebten EZSG-Details auf Ländergesetze abgewälzt. Was im Bundestag und in der Bevölkerung keine Akzeptanz findet, soll in Länderparlementen den Abgeordneten untergejubelt werden. So will etwa das Musterländle sein Katastrophenschutzgesetz ändern, der Entwurf sieht u.a. vor, daß die Landesärztekammern ihre Mitglieder mit Namen, Alter, Gebietsbezeichnung und Wohnort melden und in regelmäßigen Abständen Änderungen den zuständigen Behörden berichten 7 Noch erhebt die Landesärztekammer Einspruch, die Bezirksärztekammer Südwürttemberg hat am 7.6.86 die analogen Paragraphen im EZSG in der vorliegenden Form einstimmig abgelehnt. Es ist noch nicht aller Tage Abend. Es bleibt die Hoffnung, daß möglichst viele Ärzte sich mit dem Problem auseinandersetzen, sich dort informieren, wo die sogenannte Katastrophenmedizin beschrieben und diskutiert wird: in den entsprechenden Lehrbüchern, Kongreßbänden und Publikationen. Da ist unschwer der Duktus auszumachen: „Es geht darum, unsere heutige und die kommende Ärztegeneration auf jene geistige und praktische Umstellung vorzubereiten, die Katastrophe und Krieg, Massenanfall und Beschränkungen aller Art erfordern würden“, heißt es bei R. Lanz, und weiter: „Es geht darum, Richtlinien und Faustregeln zu vermitteln. Zeitfaktor und Infrastruktur bilden zusätzliche Grundlagen für die betreffenden Entscheide. Diese haben sich fortlaufend den gegebenen Verhältnissen anzupassen. So muß z.B. eine dringlich indizierte, aber aufwendige Laparotomie nach thermonuklearer Katastrophe wegen vieler einfacher, aber ebenso dringlicher Extremitätenversorgungen unterbleiben. Diese Notwendigkeit stellt die genaue Umkehr der normalen ärztlichen Gewohnheiten dar und muß das Gesetz, zuerst für den Schwerverlebten zu sorgen, bewußt verletzen.“8 Das hieße, eine ärztliche Ethik für den Frieden, eine andere ärztliche Ethik für den Krieg bzw. für die Katastrophe zu verinnerlichen. Und einzuüben, wenn die Zwangsfortbildung gesetzlich verankert wird. Es ist der Denkschrift und uns allen zu wünschen, daß sie zur Nachdenk-Schrift gerät.

,
Sichtungskategorien
Erste Dringlichkeit Behandlungspriorität 1
Zweite Dringlichkeit Transportpriorität 2
Dritte Dringlichkeit Wartefälle: Leichtverletzte 3
Vierte Dringlichkeit Wartefälle: Hoffnungslose 4
1 bis 2 Ärzte: primäre Aufgabe = SICHTUNG
Mehrere Ärzte: SICHTUNG + LEBENSRETTENDE SOFORTMASSNAHMEN

Anmerkungen

1 „Denkschrift Katastrophenmedizin“, hrsg. von der Bundesärztekammer, Febr. 86 im Deutschen Ärzteblatt.Zurück

2 „Entwurf eines Gesetzes über die gesundheitliche Versorgung im Rahmen des Zivilschutzgesetzes“ (Gesundheitsschutzgesetz - GesG 1982; Bundestagsdrucksache 9/1448 vom 10.3.82).Zurück

3 „Entwurf eines Zivilschutzgesetzes“ (EZSG), Drucksache ZV 2-741 200/1a, Stand: 7.2.85.Zurück

4 Tätigkeitsbericht 85, Febr. 85, Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln Löwenich.Zurück

5 H. Tscherne, H.-J. Oestern, E. G. Suren: „Der Schwerverletzte - Diagnostik und Klassifizierung“; in: „Katastrophenmedizin“, hrsg. von G. Heberer, K. Peter, E. Ungeheuer, Bergmann Verlag, München 1984.Zurück

6 Ärztetags-Drucksache Nr. III-20 v. 1.5.86.Zurück

7 „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Landeskatastrophenschutzgesetzes“, Stand 1.8.85; Innenministerium Ba-Wü, AZ: V 14060/104.Zurück

8 R. Lanz, M. Rosetti: „Katastrophenmedizin“, Enke Verlag. Stuttgart 1980.Zurück

Frau Dr. med. Schieferstein ist Betriebsärztin in Tübingen, Gründungsmitglied der Sektion BRD der IPPNW und dort 1984 Mitglied des Beirats.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/5 Wege aus dem Wettrüsten, Seite