W&F 2007/1

Der Autor, der sich selbst nicht glaubt

Anmerkungen zu Henryk M. Broders »Hurra, wir kapitulieren«

von Knut Mellenthin

Je offenkundiger die Desaster des »war on terror« werden, desto besinnungsloser scheinen manche Befürworter und Befürworterinnen dieses Abenteuers gewillt, ihre Kriegstrommeln zu bearbeiten – unter ihnen hierzulande nicht zuletzt Henry M. Broder mit seinem neuesten Buch »Hurra, wir kapitulieren«1. Mit gewissem Zögern hat die Redaktion sich entschlossen, in diesem Fall die übliche akademische Zurückhaltung hintanzustellen und Knut Mellenthin, einen Alters- und Berufsgenossen Broders, um einen Review-Artikel zu Broders Buch zu bitten statt um eine Besprechung herkömmlicher Art. Wir würden es begrüßen, wenn Broder oder ähnlich »getunte« KollegInnen den Beitrag als Einladung zu einer offenen Diskussion begreifen könnten – wie deutlich unser Autor auch Tacheles schreibt und wie schwierig eine solche Diskussion demnach auch zu werden verspricht.

Der Journalist Henryk Broder hat ein Buch „von der Lust am Einknicken“ geschrieben. Gemeint ist die Selbstaufgabe Europas vor den moslemischen Horden – die von den europäischen Polit-Eliten und Medien bereitwillig hingenommene, ja sogar feige voran getriebene Islamisierung Europas. Es geht also um ein Phantom, das wenig mit der Wirklichkeit und viel mit einer besonders böswilligen Form der Kriegspropaganda zu tun hat.

Das Thema ist nicht wirklich neu und schon gar nicht originell. Die britische Historikerin Gisèle Littman, bekannter unter ihrem Künstlernamen Bat Ye’or, hat seit 2004 in einer Fülle gleichförmiger Artikel und einem Buch beschrieben, „how Europe became Eurabia“, wie Europa zu Eurabia wurde.2 Man beachte die Vergangenheitsform: Der Prozess ist bereits abgeschlossen. Behauptet zumindest die Autorin, die darüber hinaus meint, der gegenwärtige Verrat der europäischen Eliten sei sehr viel schlimmer als das britisch-französische Einknicken vor Hitler in München 1938.3

Artikelüberschriften wie „How Europe Died“ 4, „While Europe Slept“ 5, „Europe’s Suicide?“ 6, „The Slow Death of Europe“ 7, „Eurabia is no Fairytale“ 8, „The Rapid Islamization of Europe“ 9, „Eurabian Nightmares“ 10, „Goodbye Europe, Hello Eurabia“ 11, „The Muslim Brotherhood’s Conquest of Europe“ 12, „Why Al-Qaeda Will Dominate the European Union“ 13 und „France: The Republic of Paristan14 – solche Artikelüberschriften erinnern mich an die wahnhaften Titel antisemitischer Broschüren der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Und die Liste dieser Headlines, die oft so klingen, als kämen sie direkt aus einem Irrenhaus oder von einem Besäufnis pubertierender Jugendlicher mit einem ziemlich schrägen Humor, ließe sich noch lange fortsetzen. Jeden Moment erwarte ich die Parole „Die Moslems sind unser Unglück15 und den Kampfruf „Europa erwache!“

Denn dass Europa endlich erwachen und sich dem von den USA und Israel angeführten neuen Kreuzzug gegen die islamische Welt anschließen möge, das erhoffen sie sich alle als Ergebnis ihrer Klagen und Alarmrufe. Keiner von ihnen macht daraus ein Geheimnis. Letztlich auch Broder nicht, selbst wenn er seine Bekenntnisse zur Notwendigkeit des Straflagers Guantánamo, zu den segensreichen Folgen des Irakkrieges und zur Berechtigung des Einsatzes von Atomwaffen gegen den Iran etwas verdruckst und hintenherum vorträgt, als schäme er sich doch noch ein ganz klein bisschen über sich selbst. Broder leistet seinen Beitrag zum antiislamischen Kreuzzug vorzugsweise, indem er dessen Kritiker mit Schmutz bewirft, ohne selbst mit allerletzter Klarheit Farbe zu bekennen, worauf er eigentlich konkret hinaus will. Statt direkt für den von den Neokonservativen ausgerufenen »Weltkrieg« zu werben, lästert Broder lieber, dass sich Bin Laden über jede Antikriegsdemonstration freue (S.137). Und die Schlussfolgerung, bitte?

Broder schreibt zu Guantánamo: „Die Vorstellung, ein Unschuldiger könnte jahrelang festgehalten werden, ist ein Albtraum. Andererseits übersteigt die Idee, man könnte dem Terror nur mit rechtsstaatlichen Mitteln beikommen, die Grenzen zum Irrealen. Es ist, als ob man die Feuerwehr auffordern würde, sich bei ihren Einsätzen an die Straßenverkehrsordnung zu halten und auf keinen Fall eine rote Ampel zu überfahren. (…) Gegenüber Terroristen ‚fair’ zu sein, auf verdeckte Ermittlungen zu verzichten und im Verfahren alle Quellen offen zu legen, käme einem Verzicht auf eine Verfolgung gleich.“ (S.124) – Die Rede ist, wohlgemerkt, von Guantánamo, dessen Gefangene überhaupt nie mit gerichtlich nachprüfbaren Vorwürfen und irgendeiner noch so unperfekten Form von Verfahren konfrontiert werden. Weiß Broder das nicht, oder verdrängt er es einfach nur?

Den sachlich zutreffenden Hinweis, dass der »Krieg gegen den Terror« jetzt schon um ein Vielfaches mehr Menschenleben gekostet hat als der Terror selbst, kontert Broder mit dem Gegenargument: „Solche Fragen sind nicht zynisch, sie sind dumm. Denn in dieser Rechnung sind die irakischen Opfer des Saddam-Regimes nicht enthalten, hunderttausende von Menschen, die verfolgt, gefoltert und getötet wurden.“ (S.134) – Mit runden Zahlen ist Broder sehr flott, Quellen nennt er meist nicht, wie auch in diesem Fall. Wie auch immer: Über den tyrannischen Charakter des Saddam-Regimes muss und kann nicht gestritten werden. Tatsache ist aber, dass sich unter der US-Besatzung eine Situation entwickelt hat, die von einer großen Mehrheit der Iraker als noch erheblich schlimmer als die früheren Zustände empfunden wird. Hunderttausende sind inzwischen aus dem Land geflüchtet, weit mehr als zur Zeit Saddam Husseins. Grundsätzlich ist die Idee, man dürfe und müsse moslemische Länder überfallen, um deren Bevölkerung zu befreien, pervers und menschenfeindlich. Im Fall Iraks kommt hinzu, dass der Angriff ausgerechnet einen Staat traf, in dem islamische Fundamentalisten denkbar wenig zu sagen hatten – und ganz sicher weitaus weniger als derzeit.

Zur »Option« eines amerikanisch-israelischen Atomschlags gegen Iran schreibt Broder: „Das Berliner Büro der ‚Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges’ hat ein Papier veröffentlicht, in dem die Folgen eines amerikanischen Atomschlags gegen den Iran beschrieben werden: Mehr als zwei Millionen Menschen würden in den ersten 48 Stunden sterben, eine Million würde schwere Verletzungen erleiden. Zehn Millionen würden verstrahlt. Nur eine Frage wurde in dem Papier weder gestellt noch beantwortet: Was wären die Folgeschäden eines iranischen Atomschlages?“ (S.158)

Was versucht uns der Dichter damit zu sagen? Dass ein Atomschlag gegen den Iran immer noch vergleichsweise das geringere Übel, also »sittlich geboten« ist, wie es der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht 1976 bezüglich der Anwendung der Folter formuliert hatte? Oder was sonst? Der Autor verrät es uns nicht, und er möchte es sich offenbar selbst auch gar nicht so genau eingestehen. Denn sonst bekäme er vielleicht doch beim Blick in den Spiegel, beispielsweise während des Rasierens, ernsthafte Probleme.

Wohlverstanden: Die Rede ist von iranischen Atomwaffen, die selbst in den kühnsten Phantasien neokonservativer Kriegshetzer zumindest derzeit gar nicht existieren und die es nach offiziellen amerikanischen und israelischen Schätzungen auch in den nächsten Jahren nicht geben wird. Die Behauptung, Teheran strebe die Entwicklung solcher Waffen aber immerhin an, obwohl es stets das genaue Gegenteil behauptet, ist reine Glaubenssache. Es gibt dafür nicht die geringsten Beweise. Verglichen damit waren die seinerzeitigen kriegsbegründenden Erzählungen über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, die später nie gefunden wurden, geradezu grundsolide und hochwissenschaftlich.

Daniel Bax diagnostiziert Broders »psychische Störung« als Hysterie.16 Mir scheint diese Deutung zwar nicht absolut ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich. Broder wirkt auf mich in keinem einzigen Moment seines Buches wie jemand, der ernsthaft an das glaubt, was er schreibt. Ich denke, er spielt den Hysteriker lediglich, um dem Zweck zu dienen, den er für den guten hält: literweise Benzin ins entfachte Feuer des »Clash of Civilizations« zu kippen.

Ich will diesen Verdacht auch begründen: Henryk Broder und ich sind derselbe Jahrgang (1946), er knapp zwei Monate jünger als ich. Wir haben also dieselben Abschnitte deutscher Nachkriegsgeschichte im selben Alter erlebt. Anfang der 70er Jahre, als ich der Redaktion einer linken Zeitschrift angehörte, hat Henryk Broder, der damals ehrenvolle Fehden mit deutschen Rechten und »Ewiggestrigen« austrug, punktuell mit uns zusammengearbeitet. Ich will damit sagen: Henryk Broder weiß, wovon die Rede ist. Er kennt den gesamten rechten und rechtsextremen Diskurs. Und er merkt vermutlich auch heute noch ganz genau, wenn er sich aus dem Dreck bedient, gegen den er in früheren Jahren angekämpft hat. Wie fühlt man sich denn als Rechtspopulist, der verzweifelt so tut, als wäre er ein geistig minderbemittelter Leserbriefschreiber der BILD-Zeitung? Also kein intellektuell begabter Journalist von 60 Jahren mit einem großen Erfahrungshintergrund, sondern bloß ein ganz armes Würstchen, das außer einem Sack von blödsinnigen Ressentiments nicht viel vorzuweisen hat?

Ein konkretes Beispiel. Broder schreibt, gleich zu Beginn seines Buches, es gehe „um 1,5 Milliarden Moslems in aller Welt, die chronisch zum Beleidigtsein und unvorhersehbaren Reaktionen neigen“ (S.13). „Unvorhersehbare Reaktionen“ meint im Kontext, da ist gar kein Zweifel möglich, alle Arten von Gewalttätigkeit, bis hin zum Terrorismus. 1,5 Milliarden Individuen, von denen Broder doch höchstens einen Bruchteil persönlich kennt. 1,5 Milliarden Menschen, denen Broder exakt dieselben Eigenschaften zuschreibt. Menschen völlig unterschiedlicher Kulturen, in denen es riesige Unterschiede auch in religiöser Hinsicht gibt.

Welcher Mensch, und wäre sein IQ noch so niedrig, kann ernsthaft einen solchen Quatsch glauben? Und es geht ja dabei nicht um heitere, harmlose, womöglich sogar selbstironische Vorurteile, wie etwa, dass alle Schotten geizig oder alle Touristen in Brighton schwul seien. Sondern es geht um die Ausgestaltung eines Feindbildes, und zwar letztlich mit knallharten militärischen Konsequenzen. Also um ein widerwärtiges Spiel mit Hunderttausenden von Toten, um nur die Untergrenze zu kennzeichnen.

Ein weiteres konkretes Beispiel. Broder lobt den Fleiß und Bildungshunger der in Deutschland lebenden Vietnamesen und fragt, warum es – seiner Ansicht nach – die Moslems denn nicht ebenso machen. Als Antwort schreibt er: „Vielleicht weil sie“ (die Vietnamesen – K.M.) „aus einer Kultur kommen, in der Arbeit und Lernen zu den primären Tugenden gehören, während es bei den Moslems aus der Türkei und den arabischen Ländern (natürlich mit Abstufungen) vor allem die Ehre, der Respekt und die Unterwerfung sind. Hier stößt eine Kultur des Fleißes und der Betriebsamkeit mit einer Kultur der Scham und der Schande zusammen, die auf jede ‚Provokation’ beleidigt und aggressiv reagiert.“ (S.113)

Ich halte jede Wette, dass Broder, der zwar möglicherweise bösartig, aber doch alles andere als ein Idiot ist, es besser weiß. Aber selbst wenn nicht: Er müsste nur das Branchenbuch einer deutschen Großstadt zur Hand nehmen, um sich von der Existenz einer großen Zahl kleiner und großer türkischer Geschäftsleute, iranischer Ärzte, und was sonst noch Zeichen einer „Kultur des Fleißes und der Betriebsamkeit“ sein mögen, zu überzeugen. Geh rein in einen türkischen Imbiss, sprich mit den Leuten, mach dir ein Bild von ihrem harten Arbeitspensum – und hör auf, Hunderttausende von Menschen zu diffamieren!

Doch, wie gesagt, ich glaube nicht, dass Broder diesen Ratschlag wirklich braucht. Er weiß es. Er hat in Wirklichkeit gar keine persönlichen Vorurteile gegen Moslems. Er spielt »aus übergeordneten Interessen« den Ausländerfeind, ohne wirklich einer zu sein. Das macht sein Tun nicht besser, sondern schlimmer.

Anmerkungen

1) Henryk M. Broder (2006): Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Siedler, Berlin.

2) Bat Ye’or (2006): Eurabia, The Euro-Arab Axis. Fairleigh Dickinson University Press, Madison, NJ.. Bat Ye’or hat den Begriff »Eurabia« zwar nicht erfunden, wohl aber dessen Anwendung als Schimpfwort für die angebliche Islamisierung Europas.

3) Bat Ye’or: Beyond Munich – The Spirit of Eurabia. FrontPageMagazine.com, 02.07.04. Das Online-Magazin FrontPage ist ein wichtiger Treffpunkt dieser politischen Strömung. Der Artikel war das Transkript eines Vortrags, den die Autorin auf einem Seminar im Französischen Senat gehalten hatte.

4) Sebastian Villar Rodriguez im FrontPageMagazine, 20.09.05.

5) David Forsmark im FrontPageMagazine, 03.05.06. Der Autor besprach dort das Buch »While Europe Slept: How Radical Islam is Destroying the West from Within« von Bruce Bawer.

6) Interview mit Morten Messerschmidt im FrontPageMagazine, 26.04.06. Messerschmidt ist Parlamentsabgeordneter der nationalistischen, rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, die sich gegen Einwanderung und Multikulturalismus einsetzt.

7) Guy Millière im FrontPageMagazine, 26.04.06

8) Bruce Bawer im FrontPageMagazine, 18.04.06

9) Robert Spencer im FrontPageMagazine, 18.09.04. Spencer ist offiziell verantwortlich für die sehr aufwändig und arbeitsintensiv gemachten antiislamischen Webseiten Jihad Watch und Dhimmi Watch. Der Umfang dieser stets aktuellen Seiten übersteigt bei weitem die Möglichkeiten eines Individuums und lässt den Verdacht auf Geldgeber und Organisatoren zu.

10) Andrew G. Bostom im FrontPageMagazine, 13.03.06

11) Lowell Ponte im FrontPageMagazine, 28.03.06. Der Autor malt auf die von Rechtsaußen bekannte vulgär-demographische Weise das Aussterben der Europäer an die Wand.

12) Lorenzo Vidino im FrontPageMagazine, 14.03.05. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Die Eroberung Europas durch die Muslim-Bruderschaft“ im Internet zu finden. Lorenzo Vidino ist stellvertretender Direktor beim Investigative Project in Washington, das sich als »Antiterror-Forschungsinstitut« bezeichnet, und Autor des neokonservativen Online-Magazins National Review.

13) Der frühere tschechische Präsident Pavel Kohout im FrontPageMagazine, 07.10.04

14) Pete Fisher im FrontPageMagazine, 07.11.05.

15) „Die Juden sind unser Unglück“, behauptete der deutsche Historiker und Reichtagsabgeordnete Heinrich von Treitschke (1834 - 1896) in seinem 1879 veröffentlichten Artikel »Unsere Aussichten«. Der Satz wurde zum Motto des deutschen Antisemitismus. Broder hat sich inzwischen immerhin zu der Parole „Die Europäer sind unser Unglück“ vorgearbeitet. So die Headline eines Textes, den er am 28.07.04 auf seine Website setzte. Broder beklagte sich dort bitter über die europäische Kritik an Israels »Sperranlage«, in Israel offiziell als »Fence« (Zaun) verniedlicht.

16) „Humoristische Hasspredigt“ im taz Magazin, 18.11.06.

Knut Mellenthin lebt und arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Hauptsächlich beschäftigt er sich mit dem Kriegsstrategie der US-Regierung seit dem 11. September 2001.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/1 Terrorismus - Ursachen und Folgen, Seite