W&F 1995/1

Der deutsche Atomwaffenverzicht

Der Traum einer »nuklearen Teilhabe« wird trotzdem geträumt

von Dieter Deiseroth

Die Bundesrepublik Deutschland hat – wie eine Vielzahl anderer Staaten – auf Atomwaffen verzichtet. Seit ihrem am 2. Mai 1975 wirksam gewordenen Beitritt zum »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen« (im folgenden: NVV) ist sie wie jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet, „Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen“ (Art. II NVV).

Dieser Atomwaffenverzicht geht weiter als die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1954/55 im Rahmen der sog. Pariser Verträge eingegangene völkerrechtliche Verpflichtung, „Atomwaffen, chemische und biologische Waffen im ihrem Gebiet nicht herzustellen“. Im sogenannten 2+4-Vertrag vom 12. September 19901 hat die BRD ihren sich aus dem NVV ergebenden völkerrechtlich wirksamen Verzicht „auf die Herstellung und den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie auf die Verfügungsgewalt über sie“ bekräftigt und erklärt, „daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird“. Daraus wird oft fälschlich geschlossen, die „Atomwaffenfrage“ sei für Deutschland kein Thema mehr.

Die fünf neuen Bundesländer und Berlin sind atomwaffenfrei. Dies ist eines der positiven Ergebnisse des 2+4-Vertrages2 und der staatlichen Vereinigung von BRD und DDR. Diese Atomwaffenfreiheit gilt aber nicht für die alten Bundesländer.

Die atomar bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missiles) sowie die »nuklearen Artilleriegeschosse« und die »Gefechtsköpfe der bodengestützten nuklearen Kurzstreckenraketensysteme« sind zwischenzeitlich aufgrund der zwischen den USA und der früheren Sowjetunion abgeschlossenen Abrüstungsabkommen aus ganz Deutschland und den anderen NATO-Staaten abgezogen worden. Aber auf dem Territorium Deutschlands (und der anderen europäischen Staaten) lagern trotzdem nach wie vor Atomwaffen. Wahrscheinlich handelt es sich um atomar bestückte Kurzstreckenraketen, die aus der Luft von Flugzeugen abgeschossen werden können (sog. nukleare Flugzeugbewaffnung) sowie freifallende Bomben.

An ihren Abbau ist nicht gedacht. Sie sollen nach Auffassung der NATO und der deutschen Bundesregierung auf unabsehbare Zeit weiterhin in Deutschland bleiben. Ihre genaue Zahl und ihre Lagerorte werden von den offiziellen staatlichen Stellen geheimgehalten. Die Bevölkerung soll sie nicht erfahren3. Vielfach wird allerdings in der Öffentlichkeit davon berichtet, heute seien nach wie vor im europäischen NATO-Bereich ca. 700 Atomwaffen stationiert, darunter möglicherweise 500 in Deutschland. Diese Atomwaffen stehen unter der alleinigen Verfügungsgewalt der US-Regierung und der US-Kommandobehörden. Ob auch Großbritannien und Frankreich in Deutschland Atomwaffen gelagert haben, ist nicht bekannt.

Die nukleare Komponente der NATO-Strategie

Obwohl der Kalte Krieg zu Ende ist und erklärtermaßen eine nukleare militärische Bedrohung nicht (mehr) besteht, halten die USA und die anderen Atomwaffenmächte an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen fest. Die NATO und ihre Mitgliedsstaaten, die über Atomwaffen verfügen, treten zwar – wie die aktuellen Konflikte um Irak, Nordkorea und Pakistan zeigen – erfreulicherweise für eine strikte Einhaltung des NVV und die Verlängerung seiner Geltungsdauer über 1995 hinaus ein. Diese Staaten sind jedoch – ebenso wie in der Zeit des Kalten Krieges – nicht bereit, auf die Option des Einsatzes und sogar des Ersteinsatzes von Atomwaffen zu verzichten.

Die Regierung der NATO-Staaten und auch die deutsche Bundesregierung lehnen erklärtermaßen prinzipiell einen Verzicht auf die Möglichkeit des Erst- oder Zweiteinsatzes von Atomwaffen durch einen NATO-Staat ab. Die Bundesregierung hat vor dem Deutschen Bundestag am 21. April 1993 hierzu ausdrücklich erkärt4 : „Diese eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses, weil konventionelle Streitkräfte allein die Kriegsverhütung nicht gewährleisten können (…) Deshalb wird die Bundesregierung nicht für den Abzug dieser Waffen aus Deutschland oder Europa eintreten. Ebenfalls wird die Bundesregierung nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. (…) Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen. Die Möglichkeit und Führbarkeit konventioneller Kriege würde zunehmen.“

Diese Haltung der NATO-Staaten ist mit Art. VI des NVV nicht vereinbar. Denn Art. VI des NVV verlangt mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit von allen Vertragsstaaten, namentlich gerade von den Atomwaffen besitzenden Staaten, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der „nuklearen Abrüstung“ und zur „allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (gerade auch der Atomwaffen) unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu führen. Über die Art und die Dauer dieser Verhandlung können die Vertragsstaaten streiten. Dagegen dürfen sie das in Art. VI normierte Verhandlungsgebot und Verhandlungsziel als solches nicht in Frage stellen und nicht ignorieren. Anderenfalls sind sie vertragsbrüchig. Das grundsätzliche Ablehnen von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen und das grundsätzliche weitere Beharren auf den Besitz und auf der Option des Einsatzes oder gar des Ersteinsatzes dieser Waffen negiert die grundsätzliche völkerrechtliche Verpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages. Dies ist alles andere als eine Bagatelle, über die man zur Tagesordnung übergehen könnte.

Die Ablehnung von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen ist – ebenso wie das prinzipielle Beharren auf den weiteren Besitz sowie auf der prinzipiellen Option eines Einsatzes von Atomwaffen – ein schwerwiegender völkerrechtlicher Vertragsbruch. Dies gilt nicht nur für die NATO-Atomwaffenstaaten USA, Großbritannien und für Frankreich. In gleicher Weise gilt dies selbstverständlich für andere Atomwaffen-Staaten außerhalb der NATO, die – wie z.B. Rußland in der Nach-Gorbatschow-Ära – auf den weiteren Besitz von Atomwaffen prinzipiell beharren, an der Option ihres Einsatzes „im Fall des Falles“ festhalten und sich prinzipiell weigern, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung zu führen. Staaten, die diesen Vertragsbruch billigen und unterstützen, verhalten sich selbst völkerrechtswidrig.

Der fortgesetzte Verstoß gegen Art. VI des NVV gefährdet zugleich den NVV, d.h. die Verlängerung seiner Geltungsdauer über das Jahr 1995 hinaus. Zahlreiche Staaten haben nämlich innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen wiederholt die Nichtbeachtung des Art. VI durch die Nuklearmächte zum Anlaß genommen, ihre Bereitschaft zum weiteren Festhalten am NVV und zu einem fortgesetzten Atomwaffenverzicht für die Zukunft in Frage zu stellen. Niemand bestreitet: Eine Nichtverlängerung des NVV oder seine »Aufweichung« wäre eine äußerst gefährliche Entwicklung für den Weltfrieden. Deshalb gilt: Wer das »Regime« der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation) und damit den NVV als dessen wichtigsten Pfeiler retten will, muß für eine unverzügliche Beendigung des weiteren Verstoßes gegen seinen Art. VI eintreten.

»Nukleare Teilhabe« Deutschlands

Nach der vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) am 12. Juli 1994 vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr«, die zwischenzeitlich auch vom Bundeskabinett gebilligt worden ist, soll die Bundeswehr künftig aus »Hauptverteidigungskräften« und »Krisenreaktionskräften« bestehen.

Die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr sollen nach der Leitlinie eingesetzt werden

  • in der Landesverteidigung,
  • in NATO und WEU zur Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung sowie zur Verteidigung,
  • im Rahmen der Vereinten Nationen und
  • der KSZE (Einsätze „im gesamten Spektrum von humanitären Maßnahmen bis hin zu militärischen Einsätzen der Charta der Vereinten Nationen“).

Zu diesem Zweck müssen, so heißt es in der Leitlinie, „schnell einsetzbare und verlegefähige Kräfte vorgehalten“ werden, u.a. „in der Luftwaffe 6 fliegende Staffeln für Luftangriffe, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe“.5 »Nukleare Teilhabe« bedeutet nach einer von der Wochenzeitung »Die Zeit« zitierten diesbezüglichen Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums eine „breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben“, wobei von Seiten der Bundeswehr u.a. „eine begrenzte Anzahl von Tornado-Flugzeugen als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden6.

Im Klartext heißt dies: Die Bundeswehr wird darauf eingestellt, daß im Rahmen ihrer »Krisenreaktionskräfte« u.a. „schnell einsetzbare und verlegefähige“ fliegende Staffeln der Bundesluftwaffe mit Tornado-Flugzeugen vorgehalten werden, die als Element der »nuklearen Teilhabe« der Bundeswehr als nukleare Trägersysteme Verwendung finden sollen.

Dies wirft mehrere Fragen auf:

1. Wenn die Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr eine Reichweite von 550 bis 1.400 km haben7, ist zu fragen, wo sie als deutsche »Teilhabe« an einem möglichen Nukleareinsatz von NATO-Bündnispartnern (USA, Großbritannien, Frankreich) eingesetzt werden sollen. Die nuklearen Schaltzentralen der Atommächte Rußland und China liegen außerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge. Für welche Einsatzorte und -ziele innerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge werden dann aber Einsatzpläne im Rahmen der »nukleaen Teilhabe« konzipiert?

2. Wie dargelegt, ist nach Art. II des NVV jeder Nichtkernwaffenstaat und damit auch Deutschland „verpflichtet, (…) Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Im 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 hat Deutschland diesen Atomwaffenverzicht „bekräftigt und erklärt …, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtung halten wird“. Wenn nun entsprechend der neuen »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« für einen Nukleareinsatz von NATO-Bündispartnern deutsche Tornado-Flugzeuge mit deutschen Piloten „als nukleare Trägersysteme“ zur Verfügung gestellt werden, stellt sich die zwingende Frage, ob dann nicht deutsche Hoheitsträger zumindest mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen haben (werden), wenn ein deutsches Tornado-Flugzeug für einen Nukleareinsatz mit ihnen beladen und in den Einsatz geschickt wird? Wie soll sich dies und wie sollen sich darauf gerichtete Planungs- und Vorbereitungshandlungen mit dem deutschen Atomwaffenverzicht vertragen?

NATO-Bündispflichten

Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 1. Dezember 1993 einen Gesetzesentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der u.a. vorsieht, in Artikel 26 des Grundgesetzes einen Absatz 4 einzufügen, der fogenden Wortlaut haben soll: „Die Entwicklung, Herstellung, Lagerhaltung, Beförderung, das in Verkehr bringen, die Aufstellung und Anwendung von atomaren, bakteriologischen, chemischen und anderen Massenvernichtungswaffen sowie die Drohung mit ihrer Anwendung sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Bestehende Bündisverpflichtungen bleiben unberührt.“ 8

Die Sätze 1 und 2 des Vorschlages sind sehr zu begrüßen. Was es mit dem dritten Satz auf sich hat, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs: Dies „trägt bestehenden Bindungen der Bundesrepublik Deutschland aus der Bündnis- und Verteidigunskooperation in der NATO und in Europa Rechnung, nach denen auf ihrem Boden auch Atomwaffen gelagert und von dort eingesetzt werden dürfen“.9 Die SPD geht demnach davon aus, daß »im Fall eines Falles« die auf deutschem Boden nach wie vor noch gelagerten Atomwaffen von hier aus eingesetzt werden dürfen. Von deutschem Boden aus bleiben also Atomschläge weiterhin möglich, faktisch und – so die Auffassung der SPD – auch rechtlich?

Atomwaffengefahren

Atomwaffen stellen – objektiv betrachtet – in mehrfacher Hinsicht eine aktuelle Bedrohung für Mensch und Natur dar. Die UN-Generalversammlung hat in zahlreichen Beschlüssen jeweils mit großer Mehrheit zum Ausdruck gebracht, daß „der Einsatz von nuklearen und thermonuklearen Waffen gegen den Geist, den Wortlaut und die Ziele der Vereinten Nationen verstößt und dadurch eine direkte Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“. Ferner hat sie wiederholt festgestellt, „daß die Existenz und der Einsatz von Nuklearwaffen die größte Bedrohung für das überleben der Menschheit“ sind.10

Bereits die Produktion von Atomwaffen tötet; zu denken ist vor allem an die strahlengeschädigten Bergleute, deren Schicksal kaum jemanden interessiert. Die Beschäftigten in den Labors und Nuklearfabriken tragen gesundheitliche Risiken, die bisher niemand genau abschätzen kann. Unzählige Menschen wurden (und werden?) in der früheren Sowjetunion und in den USA, aber auch in anderen Testgebieten sonst als »Versuchskaninchen« mißbraucht.

Zudem sind mit der Lagerung, dem Transport und der Dislozierung von Atomwaffen unleugbare Unfallrisiken verbunden. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen stellt das unveräußerliche Recht der Menschen auf Leben in Frage. Atomwaffen sind stets potentielle Zielobjekte: für terroristische Aktivitäten, aber auch ggf. für präventive oder reaktive militärische Schläge anderer Mächte. Die Gefahr einens Atomkrieges aus Versehen (durch technisches oder menschliches Versagen) kann nicht ausgeschlossen werden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben zu den Auswirkungen und Folgen einer mit Atomwaffen geführten Auseinandersetzung oder eines Krieges mehrere wichtige Studien vorgelegt, die uns wissen lassen: Im Falle ihres Einsatzes können Atomwaffen zu katostrophalen Schäden, ja zu einer völligen Vernichtung des menschlichen Lebens und der Zivilisation auf unserem Planeten führen. Bestritten wird dies von kaum jemandem. Dennoch wird an Atomwaffen festgehalten.

Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig?

Es spricht vieles dafür, daß jedenfalls der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist. Denn nach geltendem (Kriegs-)Völkerrecht ist der Einsatz von Waffen oder Kriegstaktiken verboten,

  • die geeignt sind, überflüssige Verletzungen und unnötige Leiden zu verursachen,11
  • die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, daß sie ausgedehnte langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen,12
  • die unterschiedslos Zivilpersonen und Soldaten, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, treffen,13
  • die das Territorium neutraler Staaten verletzen.14

Außerdem ist die Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnliche Gasen oder entsprechenden Flüssigkeiten, Materialien, Vorrichtungen oder Waffen verboten.15 Schließlich sind Waffeneinsätze umd militärische Maßnahmen verboten, bei denen „damit zu rechnen ist“, daß sie „auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen“ verursachen, die „in keinem Verhältnis zum erwarteten und mittelbaren militärischen Vorteile stehen“.16

Die Mehrzahl der Völkerrechtler teilt – soweit bislang ersichtlich – diese Auffassung. Allerdings halten die Atomwaffenmächte und die meisten ihrer Verbündeten sowie einzelne Völkerrechtler dennoch einen Einsatz von Atomwaffen als Repressalie und auch die Androhung eines solchen Einsatzes (aus Gründen der »Abschreckung«) unter bestimmten Umständen für zulässig. Angesichts dessen kommt einer Klärung dieser hochkontroversen Frage durch den Internationalen Gerichtshof große Bedeutung zu. Die notwendigen Schritte sind bereits eingeleitet.

Antrag an den Internationalen Gerichtshof

Die Weltgsunheitsorganisation (WHO) in Genf hat im Mai 1993 beim Internationalen Gerichtshof (»Weltgerichtshof«) in Den Haag – im folgenden: IHG – nach Art. 96 der UN-Charta ein Rechtsgutachten (»advisory opinion«) zu der Frage angefordert: „Wäre im Hinblick auf die Folgen für Gesundheit und Umwelt der Gebrauch von Atomwaffen im Krieg oder in einem anderen internationalen Konflikt durch einen Staat eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtung einschließlich der WHO-Verfassung?“

Mit anderen Worten: Die Weltgesundheitsorganisation will endlich geklärt sehen, ob ein Einsatz von Atomwaffen in einem Krieg oder in einem anderen Internationalen Konflikt gegen geltendes Völkerrecht verstoßen würde17.

Der Beschluß der Weltgesundheitsorganisation, ein solches Gutachten einzufordern, erfolgte mit großer Mehrheit, allerdings gegen die Stimmen der Atomwaffenmächte und auch der deutschen Delegation. Die deutsche Bundesregierung hat sich im Verein mit ihren Verbündeten intensiv bemüht, die Anforderung eines solchen Rechtsgutachtens zu verhindern. Ungeachtet der großen Pressionen, die die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündetetn ausgeübt haben, haben zahlreiche Staaten zwischenzeitlich bis zu dem vom IGH gesetzten Termin am 10. Juni 1994 positive Stellungnahmen abgegeben, darunter Irland, Weißrußland, Schweden, Kasachstan, Litauen, Mexiko, Moldavien, Neuseeland, Nordkorea, Papua Neuguinea und die Ukraine.

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrer gegenüber dem IHG abgegebenen Stellungnahme ausdrücklich bestritten, daß die Weltgesundheitsorganisation berechtigt ist, ein solches Rechtsgutachten beim Internationalen Gerichtshof anzufordern. Zum zweiten vertritt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme die Auffassung, daß der Einsatz von Atomwaffen wie der Einsatz jeder anderen Waffe völkerrechtlich in Ausübung des naturgegebenen Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff zulässig sei; nur „Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solche“ seien stets verboten.

Trotz heftigen Widerstandes der Atomwaffenmächte und ihrer Verbündeten hat zwischenzeitlich am 16. Dezember 1994 auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen ebenfalls die Einholung eines Rechtsgutachtens nach Art. 96 der UN-Charta beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag beschlossen. Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit den Regierungen Frankreichs, der USA und Großbritanniens u.a. durch einen Geschäftsordnungsantrag bis zuletzt versucht, einen solchen Beschluß der UN-Generalversammlung zu verhindern.

Trotz allem wurde dann dieser Beschluß der Generalversammlung mit 78 Ja-Stimmen gegen 43 Nein-Stimmen (bei 38 Enthaltungen) gefaßt.

Die Fragestellung des eingeforderten Gutachtens der UN-Generalversammlung geht über diejenige der Weltgesundheitsorganisation hinaus. Die UN-Generalversammlung legt dem Internationalen Gerichtshof die Frage vor, ob nicht nur der Einsatz sondern auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen gegen geltendes Völkerrecht verstößt.

Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit sich ähnlich wie die Parlamente anderer Staaten endlich mit diesen beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingeleiteten Verfahren beschäftigen würden. Die in dem Verfahren vom Internationalen Gerichtshof zu treffenden Entscheidungen haben weitreichende Bedeutung gerade auch für die geltende NATO-Strategie, die nach wie vor an der Möglichkeit eines Einsatzes oder gar eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen festhält. Würde der Internationale Gerichtshof den Einsatz von Atomwaffen und/oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen für völkerrechtswidrig erklären, könnte die geltende NATO-Strategie nicht mehr aufrechterhalten werden. Gleiches würde für die Nuklearstrategien der anderen Atomwaffenmächte wie z.B. für Rußland gelten. Schließlich wäre dann auch kein Raum mehr für eine weitere Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden.

Anmerkungen

1) Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1990 II, S. 1318. Zurück

2) Art. 5 Abs. 3 Satz 3. Zurück

3) Vgl. dazu u.a. die Erklärung der Bundesregierung vom 21. April 1993 vor dem Deutschen Bundestag, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 12/4766, S. 2. Zurück

4) Vgl. BT-Drs. 12/4766, S. 3. Zurück

5) Bundesministerium der Verteidigung, Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr, 12. Juli 1994, S. 7. Zurück

6) vgl. Die Zeit vom 12. August 1994, S. 4. Zurück

7) Vgl. dazu Mechtersheimer/Barth, Militarisierungsatlas, 2. Aufl. 1988, S. 376. Zurück

8) Vgl. BT-Drs. 12/6323 S. 24. Zurück

9) Vgl. BT-Drs. 12/6323, S. 24. Zurück

10) Vgl. u.a. die Resolution der UN-Generalversammlung zu Nuklearwaffen von 1961, Res. 1653 (XVI); bekräftigt u.a durch Resolution 45/59 A von 1990. Zurück

11) Vgl. Art. 23e der Haager Landkriegsordnung (HLKO) vom 18. Okt. 1907, abgedr. in Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Band II, 1967, S.1892; vergl. auch Art. 35 Abs. 2 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 (im folgenden: ZP I 1977). Zurück

12) Vgl. Art. 35 Abs.3 ZP I 1977. Zurück

13) Art. 48 ZP I 1977; vgl. auch Ipsen/Fischer, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, S.1034 ff.; Eberhard Menzel, Legalität oder Illegalität der Anwendung von Atomwaffen, 1960, S.53 ff. Zurück

14) Vgl. Art. 1 des Haager Abkommens »betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges«, der normiert: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich“. RGBl 1910, S. 151. Zurück

15) Dies ist ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts. Vgl. dazu u.a. Ipsen/Fischer, in: Ipsen (1990), op.cit., S. 1028 ff.; HLKO Art. 23a; Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln in Kriegen vom 17. Juni 1925, RGBl. 1925 II, S. 173. Zurück

16) Vgl. Art. 51 Abs. 5b ZP I 1977. Zurück

17) Vgl. Document WHA 46.40 – vom 14. Mai 1993. Zurück

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter am Oberverwaltungsgericht Münster und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Sektion der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/1 Atomwaffen abschaffen, Seite