W&F 2024/4

Bernhard Sauer (2023): Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg? Berlin: Duncker & Humblot, ISBN 978-3-428-18891-8, 188 S., 49,99 €.

Um es vorweg zu nehmen: Das Buch des Historikers Bernhard Sauer über die Frage, ob das Hohenzollernreich im Ersten Weltkrieg einen Verteidigungskrieg geführt hat, sollte jede*r lesen, der sich mit alten und neuen Legenden dazu nicht zufrieden geben will.

Zunächst behandelt er die Julikrise 1914 und die Frage, wer die Schuld am Krieg, an unermesslichem Leid und der „Verheerung Europas“ trägt (S. 11-36). Überzeugend weist er manche Behauptungen der von Christopher Clark 2013 wieder aufgegriffenen Unschuldspropaganda zurück. Danach sollen die Vertreter aller Großmächte als „Schlafwandler“ in einen Krieg „hineingeschlittert“ sein, den keiner wirklich gewollt und für den alle gleichermaßen sowie die europäische Kultur verantwortlich gewesen seien.

Sauer kommt zu einem anderen Schluss und folgt damit den Forschungsergebnissen, zu denen Fritz Fischer 1961 bereits in seinem aufsehenerregenden Buch »Griff nach der Weltmacht« gelangt ist: Der Erste Weltkrieg war verhinderbar – wenn man es denn gewollt hätte. England, Frankreich und Russland bemühten sich nachdrücklich und wiederholt, den Konflikt auf einer internationalen Konferenz zu behandeln und die Verwandlung Europas in ein »Menschenschlachthaus« abzuwenden. Nicht so die deutschen und die mit ihr verbandelten österreichisch-ungarischen Regierenden und Militärs. Statt den Streit durch Verhandlungen auf höchster Ebene beizulegen, verschärften sie den Konflikt und nahmen dabei, so Sauer, einen Weltenbrand in Kauf (S. 31).

Sauer stellt zudem dar, wie sich die Diskussion im Kriegsverlauf entwickelte, auch in der SPD niederschlug (S. 88-121), Kontroversen und Spaltungen mit sich brachte und wie in den herrschenden Schichten von den »Siegfrieden«-Forderungen bis zum Zusammenbruch der Front nicht abgerückt worden ist. Und selbst nach dem Kriegsende hielten Militärs sowie Vertreter des alten und neuen Regimes an dem Mythos der Unbesiegbarkeit des Heeres fest und machten für die Niederlage nicht den Krieg selber und dessen Verursacher, sondern den »Dolchstoß« verantwortlich, der von den Kriegsgegnern in den Rücken der kämpfenden Truppe getrieben worden sei und diese um den Sieg gebracht habe (S. 139-145).

Ausführlich befasst Sauer sich am Ende des übersichtlich gegliederten Bandes damit, welche Konsequenzen Hitler aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hat und dass seine Schlussfolgerungen und Lehren daraus „unvermeidlich“ (S. 155) in den Zweiten Weltkrieg führten (S. 146-162). Wie viele andere ein Propagandist des nationalistischen Kriegserlebnisses, ging er im Unterschied zu vielen Völkischen nicht davon aus, dass der neue Krieg nur die Grenzen von 1914 wiederherzustellen, sondern weit darüber hinaus weisende Ziele anzustreben habe (S. 157). Doch war Hitler längst nicht der Einzige, der das Ziel, eine deutsche Weltmachtstellung zu erringen, nicht aus den Augen verlor und die im Ersten Weltkrieg gemachten Fehler genau studierte, um sie im Zweiten Weltkrieg zu vermeiden. Das tat der deutsche Generalstab bereits im Frühjahr 1919. Ob Hitler im Sinne Sauers also wirklich eine Besonderheit war, sei hier dahingestellt. Viel mehr hat er, was seine Erfolge betrifft, von den Fehlern und dem Versagen der demokratischen Parteien profitiert. Vor allem auf dem Boden des von den Weimarer Regierungen unterstützten Kampfes gegen die sogenannte »Kriegsschuldlüge« breitete sich der völkische und faschistische Ungeist aus. Dazu hätte es einiges zu verdeutlichen gegeben, was allerdings nicht erfolgt.

Bemerkenswert an Sauers Darlegungen ist, dass er die revisionistische Geschichtssicht Clarks ausführlich zu Wort kommen lässt – und diese widerlegt, indem er deren Beschränktheit, irreführenden Weglassungen von Fakten und die Unhaltbarkeit seiner selektiven Quellenauswahl verdeutlicht.

Auffallend ist jedoch, dass Sauer wie Clark die gesamte innerdeutsche Kritik an der kaiserlichen Kriegs- und Katastrophenpolitik ausgrenzen und so tun, als hätte es eine solche Opposition nicht gegeben. Sauer nennt in seinem Literaturverzeichnis als einzige Schrift aus diesem Spektrum lediglich Karl Kautskys Publikation »Wie der Weltkrieg entstand« (1919). Alle Neuerscheinungen der letzten Jahre (wie schon in den Jahrzehnten zuvor) von Ankläger*innen der deutschen Kriegsschuld sind mit keiner Silbe erwähnt. Weder werden ihre Namen noch die Titel ihrer Veröffentlichungen genannt, geschweige denn sich inhaltlich mit ihnen oder dem von ihnen Gesagten auseinandergesetzt. Damit sind einschneidende Konsequenzen für das Verständnis der Kriegsfrage verbunden.

Vergebens sucht man nach den Namen und den Abhandlungen des Krupp-Direktors Wilhelm Muehlon sowie nach der Denkschrift von Max Karl Fürst von Lichnowsky, 1912-1914 Botschafter in London, beide Kronzeugen deutscher Kriegsschuld. Gleiches gilt für Richard Grelling, Jurist und 1892 Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft. Er war der bedeutendste Ankläger deutscher Kriegsschuld seit 1914 bis zu seinem Tod im Jahre 1929. Sein im Frühjahr 1915 in der Schweiz anonym erschienenes Werk »J’accuse«, in Deutschland sofort verboten, war ein Welterfolg. Grelling wurde nicht nur im, sondern auch nach dem Ersten Weltkrieg zum »Landesverräter« gestempelt.

Zu den »Vergessenen« zählt auch Hans-­Georg von Beerfelde, Hauptmann im deutschen Generalstab, der im Frühjahr 1918 aus dem Gefängnis heraus als erster die amtlichen Fälschungen im Deutschen Weißbuch zum Kriegsausbruch nachgewiesen hat und der wegen seines Bemühens, das Volk über die Schuld der zivilen und militärischen Reichsleitung der Hohenzollernmonarchie aufzuklären, sowohl im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich verfolgt worden ist.

Kein Wort über Friedrich Wilhelm Foerster, Mentor des engagiertesten und stärksten Teils der Weimarer Friedensbewegung und die bedeutendste Gestalt des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen den Militarismus und Nationalismus preußisch-deutscher Provenienz. Er prognostizierte Anfang November 1928 auf der Basis seiner Beobachtung der Grundtendenzen im deutschen Volke sowie seiner Kenntnis des Willens revanchistischer Kreise, Ziele zu erstreben, die nur mit Mitteln der Gewalt durchsetzbar waren, den Zweiten Weltkrieg für das Jahr 1938, beginnend gegen Polen. Seine Gegner diffamierten ihn 1924 zum „übelsten Stinkgewächs am Giftbaum des deutschen Pazifismus, und Hitler erklärte ihn 1933 sofort zum »Staatsfeind Nr. 1«. Seine Hetzschrift »Mein Kampf« muss als Entgegnung auf Foersters 1920 publiziertes Buch »Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland – Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland« betrachtet werden.

An die fünfzig weitere Namen und Persönlichkeiten wären hier zu nennen, die sich als Kriegsopponent*innen profund geäußert und die deutsche Kriegsschuld bejaht haben. Keineswegs nur intellektuelle Einzelkämpfer*innen mit einem kaum messbaren Wirkungskreis, waren sie zudem Mitglieder von politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, die über politischen Einfluss verfügten. Sie repräsentieren jenen Teil der deutschen Gesellschaft, der sich nach 1918 anschickte, mit dem tradierten Militarismus zu brechen oder ihn zumindest einzudämmen. In keinem anderen Land wie dem deutschen hat sich der Gegensatz zwischen Militarismus und Pazifismus so stark ausgeprägt. Welche Kräfte obsiegten, entschied über die weitere Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und der ganzen Welt. Als umso bedeutsamer müsste daher das Bemühen angesehen werden, sich derjenigen Persönlichkeiten zu erinnern, die sich der Gewalt, dem Krieg und dem Freund-Feind-Denken beherzt und mutig entgegenstellten.

Auch wichtige historiographische Werke und Abhandlungen finden keine Berücksichtigung. So gibt es z.B. zu der Frage, ob Deutschland von Beginn an einen Eroberungskrieg geführt hat und in welchem Ausmaß der Annexionismus quer durch alle Schichten, Parteien, Verbände verbreitet gewesen ist, nicht einen einzigen Hinweis auf die von Salomon Grumbach herausgegebene umfangreiche Dokumentensammlung »Das annexionistische Deutschland« (1917), von der 2018 eine erweiterte Fassung erschienen ist.

Berücksichtigung hätten ebenso die von Otfried Nippold 1912 zusammengestellten Belege zum Thema »Der deutsche Chauvinismus« verdient. Ebenso fehlt Ludwig Quiddes Werk über den deutschen Pazifismus im Ersten Weltkrieg, und die Bücher von Hermann Fernau, Alexander von Hohenlohe, Wolfram Wette, Volker Ullrich, Lothar Wieland, Camille Bloch oder auch Hermann Kantorowicz’ wegweisendes »Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914« (1967) bleiben unerwähnt.

Die permanente Ausgrenzung hat Methode: Die Wahrheit über die deutsche Kriegsschuld und die unnötige Verlängerung des Krieges soll nicht ruchbar werden, und die Täter und Mittäter sollen ungeschoren bleiben. Doch die Frage nach der Schuld am und im Ersten Weltkrieg ist weiterhin von großer Bedeutung. Es geht um die Erkenntnis, dass die zivile und militärische Reichsleitung des Kaiserreiches von Beginn an und über die Kriegsjahre hindurch einem üblen Geist gefolgt ist und dass wir uns heute gründlich davon innerlich zu lösen haben. Es gibt nach wie vor Viele – und es sind keineswegs die Schlechtesten –, die am liebsten nichts von Schuld hören möchten.

Die Frage nach der Schuld ist keineswegs zu vermeiden, wie von Ch. Clark und anderen vor ihm glauben gemacht, weil es sich um einen moralischen Begriff handle, der in der Wissenschaft nichts zu suchen bzw. von der sie sich fernzuhalten habe. Wie im praktischen Leben bei Straftaten die Verantwortung und Schuld eine herausragende Rolle spielt, so auch im Leben der Völker. Für ein neues, anderes Deutschland gilt es zu erkennen, was dazu geführt hat, dass sowohl das Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich zugrunde gegangen sind – damit wir nicht erneut in die gleichen Fehler fallen. Die Beantwortung der Schuldfrage hilft, den richtigen Weg in unserem Staatsleben zu finden. Den Begriff »Schuld« wegzudiskutieren und sich mit einem Schlafwandlersyndrom zu begnügen, heißt auch, den moralischen Fortschritt der Kriegsächtung durch die Charta der Vereinten Nationen nach 1945 zu negieren und ihn auszusetzen.

Was hat Sauer veranlasst, diese Werke und Autoren nicht einmal unter »Ferner liefen« zu nennen? Ist auch er Opfer der weit in die Linkskreise bis in unsere Tage hineinreichenden massiven Verdrängung von Einsichten z.B. eines F.W. Foerster? Oder nimmt er Rücksichten, obwohl er diese selbst längst nicht in allen Belangen teilt? Eine historisch-politische Kontextualisierung der neuerlichen Debatte um die Kriegsschuld von 1914 und der Frage, ob Deutschland einen Verteidigungskrieg führte, hat der Autor jedenfalls vermieden. So bleibt weiter im Dunklen, was Hellmut von Gerlach in seinem Artikel »Grelling und Hitler« in der von F. W. Foerster herausgegebenen Halbmonatsschrift »Die Zeit« am 5. September 1932 konstatierte: „Statt die Wahrheit über die Ursachen des Kriegsausbruchs in den breitesten Schichten des Volkes zu verbreiten, ließen sie [die republikanischen Machthaber] die Unschuldskampagne der Nationalisten die Massen vergiften. Sie säten nicht die Wahrheit. Darum konnte Hitler die Früchte der Unwahrheit ernten.“

Wer über die Ursachen des Ersten Weltkrieges redet oder schreibt, die wichtigen Arbeiten der deutschen Oppositionellen aber – aus welchen Gründen auch immer – unbeachtet lässt, enthebt sich der Auseinandersetzung mit ihren Einsichten und Berichten, entzieht das aufklärerische Bemühen der linksrepublikanisch-pazifistischen Tradition dem historisch-politischen Diskurs. Das bereits im Ersten Weltkrieg und danach Ausgesprochene wird erneut von einem Mantel des Schweigens verhüllt. Mehr als hundert Jahre nach 1914 hat sich in unseren Tagen ein geradezu unglaublicher Vorgang wiederholt: Demokrat*innen fühlen sich nach einem Jahrhundert aufgerufen, sich schützend vor das autokratisches Regime des Kaiserreichs zu stellen, das sich nach innen wie außen auf Gewalt gründete.

Bernhard Sauer distanziert sich davon, zumindest indirekt. Er schreibt flüssig, und sein Text ist jede*r historisch interessierten Laienleser*in verständlich und zu empfehlen. Indem er die Kritiker*innen der Unschuldslegende und damit den wichtigsten Teil der Debatte negiert, bleibt aber die wichtige Erkenntnis auf der Strecke, dass Clark, Münkler und weitere Autor*innen mit ihren Interpretationen das Gebiet verlassen haben, in dem Vernunft und Fakten die entscheidenden Größen sind. Stattdessen bedienen sie Vorurteile und affektgesteuerte Haltungen. Annahmen, Erdachtes und Fakten werden miteinander vermischt. Sie bekräftigen damit Einseitigkeiten, vertiefen Verblendungen und öffnen Pseudoargumenten Tor und Tür. Das ist nur möglich, weil sie die Persönlichkeiten und Gruppen, die nach 1918 warnend ihrer Stimme vor den voraussehbaren Folgen der Unschuldspropaganda erhoben haben, ausblenden. Indem Sauer diesem Muster folgt, erschwert er die Einsicht, dass die Beantwortung der Kriegsschuldfrage und die damit verbundene Propaganda sehr eng damit verknüpft ist, an welchem Politikkonzept sich Deutschland heute orientieren sollte.

Helmut Donat

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/4 Eskalationen im Nahen Osten, Seite 73–75