W&F 2002/2

Der kleine Unterschied und die Gewalt

Geschlechts- und Geschlechtsrollenunterschiede in der Aggression

von Jeannette Schmid

Angeblich hat Krieg „kein weibliches Gesicht“ (Swetlana Alexijewitsch), angeblich ist Krieg immer noch „Männersache“ (Christiane Florin) – ob ohne oder mit Öffnung der Militär-Apparate für »das andere Geschlecht«. Kriegsherren wissen freilich seit eh und je die diversen weiblichen Dienste »hinter den Linien« und »an der Heimatfront« zu schätzen und zu fördern. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass darüber hinaus bei einem genaueren Blick auf die menschliche Aggressivität die Unterschiede zwischen den Geschlechtern keineswegs so eindeutig sind, wie gemeinhin angenommen. Vor allem dürfte die geschlechts- bzw. geschlechtsrollentypische Art der weiblichen Aggression eine spezifische Bedeutung für die Kriegsanfälligkeit unserer Gesellschaften haben.
In Kriegen kämpfen vorwiegend Männer. Und auch in Friedenszeiten scheint physische Gewalt meist von Männern ausgeübt zu werden. Einen Hinweis geben Daten der polizeilichen Kriminalstatistik. So weist das Bundeskriminalamt für das Jahr 2000 unter den Tatverdächtigen für Mord und Totschlag in Deutschland nur 394 Frauen, das sind 12,3% der Verdächtigen, auf. In ähnlicher Höhe (12,4%) treten Frauen bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung als Täterinnen in Erscheinung. Bei einem anderen Delikt, das ebenfalls eng mit Aggressivität zusammenhängt, dem Delikt der Beleidigung, ist der Anteil der Frauen mit 24,5% deutlich höher. Schon diese Daten zeigen, dass es wichtig ist, zwischen verschiedenen Arten der Aggression zu unterscheiden, wenn es darum geht, die Zusammenhänge zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Gewalttätigkeit aufzuklären.

Untersuchungen mit psychologischen Fragebögen, die selbst-berichtete Aggression erheben, zeigen ein ähnliches Bild. Auch hier ergeben sich für die Männer im Durchschnitt deutlich höhere Werte (Baron & Richardson, 1994). Männer geben auch wesentlich häufiger an, Fantasien über Morde (mit sich selbst in der Täterrolle) zu haben (Kendrick & Sheets, 1993).

Weibliche Gewalt – Geschlecht oder Geschlechtsrolle?

Wird eine Person ärgerlich, lässt sich dies unter anderem an Erhöhungen ihres Testosteron-Spiegels erkennen. Dies gilt für Männer wie für Frauen. Es scheint also einen Zusammenhang zwischen diesem Hormon und der momentanen Aggressionsbereitschaft zu geben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Testosteron die Ursache für die Aggression sein muss; es kann eine Begleiterscheinung sein, die mit dazu beiträgt, den Organismus auf einen Angriff vorzubereiten und diesen Zustand länger aufrechtzuerhalten. Trotzdem legt dieser Befund die Frage nahe, ob vielleicht Frauen aufgrund ihres im Mittel niedrigeren Testosteron-Spiegels weniger leicht dazu neigen, sich in Situationen, in denen sie Ärger erleben, mit physischer Gewalt Luft zu machen. Dies wäre somit ein echter biologisch bedingter Unterschied.

Neben dieser genetischen Unterschiedlichkeit leben Männer und Frauen jedoch teilweise auch in verschiedenen sozialen Umwelten, in denen sie sich mit unterschiedlichen Rollenanforderungen auseinandersetzen müssen. Zu den Umweltvariablen gehört u.a. der unterschiedliche Zugang zu Ressourcen, wozu auch die Möglichkeiten zählen, einer anderen Person physisch Gewalt anzutun (körperliche Kraft, Zugang zu Waffen). Beide Faktoren, Erbe und Umwelt, treten miteinander in Wechselwirkung.

Ein Vergleich der physischen Aggression in verschiedenen Kulturen zeigt, dass die kulturellen Unterschiede größer sind als die Geschlechtsunterschiede (Rohner, 1976). Je nach Kultur sind bestimmte Formen der Aggressivität erlaubt und andere tabuisiert. Innerhalb dieser Regeln bewegen sich dann die Unterschiede, die man in der Gewaltbereitschaft der beiden Geschlechter findet. Dies verdeutlicht, dass es sehr stark durch die Umwelt bestimmt wird, in welcher Weise und wie häufig physische Gewalt durch Frauen ausgeübt wird.

Zu den von der Sozialisation vorgegebenen Regeln kann auch gehören, dass Gewalt unterschiedlich bewertet wird, je nachdem, ob sie von einem Mann oder einer Frau ausgeht. Dabei wird die von einem Mann ausgehende Gewalt im Allgemeinen als vertretbarer bewertet. In einer umfangreichen Studie mit Jugendlichen, die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsens durchgeführt wurde, zeigte sich, dass gleichgeschlechtliche Identifikationsfiguren und Rollenmodelle von Jungen in höherem Maße als gewalt-akzeptierend erlebt wurden und dass für den Fall aktiven Gewalthandelns Mädchen viel stärker mit Ablehnung rechnen müssen als Jungen. Sofern Mädchen und Jungen in gleichem Maße keine explizite Gewaltablehnung seitens der Eltern erfahren, nähert sich die Delinquenzrate der Mädchen derjenigen der Jungen an (Pfeiffer, Wetzels, & Enzmann, 1999).

Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Umweltfaktoren einen derart starken Einfluss haben könnten, dass sie genetisch bedingte Unterschiede überdecken. Eine nahe liegende Überlegung wäre es daher, Jungen »weiblicher« zu sozialisieren, d. h. in der Erziehung nicht nur physische Gewalt zu sanktionieren, sondern auch z.B. Fürsorglichkeit und Empathie zu fördern, um auf diese Weise Gewalt zu hemmen. Allerdings übersieht ein solches Programm das Problem der mangelnden Akzeptanz einer solchen Erziehung in einer Gesellschaft, die durch das Bild des Mannes geprägt ist, der seinen Erfolg auch seinem aggressiven Durchsetzungsvermögen verdankt. Es wäre daher zu befürchten, dass »weiblich« sozialisierte Jungen von traditionalistischen Jungen zum Opfer gemacht werden (Nagayama-Hall & Barongan, 1997).

Es ist jedoch nicht nur die Bewertung der Aggression, in der sich Geschlechtsunterschiede finden lassen, sondern auch die generelle Auffassung zu diesem Thema. Frauen denken bei dem Begriff Aggression tendenziell eher daran, dass der Handelnde von seinen Emotionen überwältigt wird und die Kontrolle verliert, während Männer in diesem Zusammenhang eher daran denken, dass Gewalt auch ein Mittel sein kann, um Kontrolle über eine andere Person auszuüben (Campbell, 1993). Somit wird für Männer gewalttätiges Verhalten auch leichter zu einem legitimen Mittel der Problembewältigung.

Aggression als zwischenmenschliches Ereignis

Die meisten alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen verlaufen ohne Gewalttätigkeit. Wer Gewalt anwendet, handelt nicht der Norm entsprechend und muss sich dafür rechtfertigen. Stehen solche Rechtfertigungen bereit, ist die Ausübung der physischen Aggression erleichtert. Ein Beispiel für solche Rechtfertigungsstrategien sind so genannte Vergewaltigungsmythen (Burt, 1980), das sind im Alltag häufig vertretene, fehlerhafte Annahmen, die im Wesentlichen darin bestehen, dem Opfer einer Vergewaltigung ein Mitverschulden anzulasten und den Täter zu entlasten. Solche Mythen werden gleichermaßen von Männern und Frauen geteilt und werden natürlich auch von Tätern zur nachträglichen Rechtfertigung genutzt. Sie können sogar, wie beim Date-Rape, dazu beitragen, dass die Abwehr des Opfers als bloße Schauspielerei missverstanden wird. Solche kognitiven Verzerrungen, die dem Opfer eine Einwilligung unterstellen, treten verstärkt innerhalb patriarchalischer Gesellschaftsformen auf ( Lonsway & Fitzgerald, 1994).

Rechtfertigungsstrategien für generelle Gewalttätigkeit lassen sich auch in der Kultur des »machismo« finden, wo die Ehrverteidigung mit Gewalt legitimes und zuweilen auch unersetzliches Mittel ist (Cohen & Nisbett, 1997). Hier wird »Männlichkeit« mit »Gewaltbereitschaft« gleichgesetzt bzw. Friedlichkeit in die Nähe der Feigheit gerückt. Bei einem männlichen Vertreter der Macho-Ideologie ist jede Situation, in der seine Männlichkeit infrage gestellt wird, bedrohlich. Demjenigen, der für diese Bedrohung verantwortlich ist, wird unterstellt, dass dies in der Absicht geschah, provozieren zu wollen. Und eine solche Provokation macht eine Vergeltung zwingend notwendig; ein Verzicht auf diese Vergeltung würde dem Vorwurf der Unmännlichkeit Recht geben. Für Frauen steht kein entsprechendes Rollenmuster zur Verfügung. In der Welt des »machismo« ist, wenn die Ehre der Frau angegriffen wird, für ihre Ehrverteidigung mittels Gewalt ebenfalls der Mann zuständig.

Wenn von einer Provokation die Rede ist, bedeutet dies auch, dass für die eigene Aggression eine bestimmte Handlung einer anderen Person als Ausgangspunkt gesehen werden muss. Darüber kann indes Uneinigkeit bestehen, indem nämlich jeder die Ansicht vertritt, der andere sei derjenige, der dafür sorgt, dass die Aggression anhielte. Das eigene Verhalten sei der Situation angemessen und lediglich das des Kontrahenten zu aggressiv, worauf dann wieder mit Vergeltung reagiert werden muss. Diese so genannte Perspektivendivergenz (Otten, Mummendey & Wenzel, 1995) sorgt auch dafür, dass der Provokateur unterschätzt, wie sehr er provoziert. In einer umfangreichen Analyse untersuchten Bettencourt und Miller (1996) eine ganze Reihe von Labor-Studien, in denen Teilnehmer und Teilnehmerinnen provoziert worden waren und als Folge aggressives Verhalten gezeigt hatten. Auch hier waren erwartungsgemäß die Männer aggressiver als die Frauen. Je stärker die Provokation jedoch war, umso mehr näherte sich das Verhalten der Frauen dem der Männer an. Gegenüber Provokateuren des jeweils anderen Geschlechts wurde weniger Aggression gezeigt. Für die Männer könnte die Erklärung in einer Art »Kavaliersnorm« liegen, für die Frauen in der Furcht vor Vergeltung. Je größer diese Furcht bei den Frauen war, umso geringer war ihre aggressive Reaktion auf die Provokation. Dass Frauen bei männlichen Gegnern mehr Angst vor Vergeltung hatten, verweist auf die unterschiedlichen traditionellen Machtverhältnisse. In dieser Analyse stecken gleich mehrere interessante Befunde. Beispielsweise empfanden Männer die Provokationen als stärker. Die Stärke der begleitenden Affekte war bei den Geschlechtern jedoch nicht unterschiedlich. Frauen empfinden nicht weniger Ärger als Männer in vergleichbaren Situationen und sie äußern diesen Ärger auch (Kopper & Epperson, 1991). Die Geschlechtsunterschiede ergeben sich erst bei der Entscheidung, diesen Ärger in aggressives Verhalten gegenüber einer anderen Person umzusetzen. Man könnte also aus diesen Befunden den Schluss ziehen, dass Frauen zwar möglicherweise innerlich den gleichen Drang zu aggressivem Verhalten verspüren wie Männer, in der konkreten Situation diesem jedoch weniger nachgeben, es sei denn, die Provokation ist sehr groß. Erfragt man die Einstellung zur Vergeltung mit psychologischen Fragebögen, erreichen Männer tatsächlich die höheren Werte (Stuckless & Goranson, 1992).

Dieses Bild der weniger aggressiven Frauen ändert sich jedoch, wenn man anstelle der physischen Aggression die so genannte relationale Aggression betrachtet. Dies ist eine Variante der Aggression, die die Beziehung zu anderen Menschen zum Ziel nimmt und eine bestimmte Person absichtlich isoliert, zum Beispiel durch üble Nachrede und böswilligen Klatsch. Das Ziel dieser Aggression besteht darin, dafür zu sorgen, dass eine bestimmte Person aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird (Björkqvist, Österman & Kaukiainen, 1992). Die Folgen einer erfolgreichen relationalen Aggression können langfristiger sein als die der physischen Aggression und Täter bzw. Täterin müssen dem Opfer dabei nie direkt gegenüberstehen. Diese indirekte Art der Aggression zeigen Mädchen schon im Vorschul- und frühen Schulalter deutlich häufiger als Jungen (Crick, Casas & Mosher, 1997).

Bezieht man das Wissen um diese relationale Aggression mit ein, muss die Ansicht, dass Krieg im Wesentlichen ein männliches Phänomen sei, neu überdacht werden. Die Einbeziehung Dritter in die Ausgrenzung eines Gegners und die Bildung von Allianzen mit dem Zweck der Vernichtung des Feindes wären dann ein »weiblicher« Aspekt des Krieges.

Literatur

Baron, R. A. & Richardson, D. R. (1994): Human aggression. New York, Plenum Press.

Bettencourt, B. A. & Miller, N. (1996): Gender differences in aggression as a function of provocation, A meta-analysis. Psychological Bulletin, 119, 422-447.

Björkqvist, K., Österman, K. & Kaukiainen, A. (1992): The development of direct and indirect aggressive strategies in males and females. In K. Björkqvist & P. Niemelä (Hrsg.): Of mice and women – Aspects of female aggression (S. 51-64). San Diego, Academic Press

Bundeskriminalamt – Polizeiliche Kriminalstatistik, Berichtsjahr 2000: Geschlechtsverteilung der Tatverdächtigen bei den einzelnen Straftaten(gruppen), http://www.bka.de/pks2000.

Burt, M.R. (1980) : Cultural myths and supports for rape. Journal of Personality and Social Psychology, 38, 217-230.

Campbell, A. (1993): Out of control – men, women and aggression. London, Pandora.

Crick, N. R., Casas, J. F. & Mosher, M. (1997): Relational and overt aggression in preschool. Developmental Psychology, 33, 579-588.

Cohen, D. & Nisbett, R. E. (1997): Field experiments examining the culture of honor – The role of institutions in perpetuating norms about violence. Personality and Social Psychology Bulletin, 23, 1188-1199.

Kendrick, D. T. & Sheets, V. (1993): Homicidal fantasies. Ethology and Sociobiology, 14, 231-246.

Kopper, B. A. & Epperson, D. L. (1991): Women and anger – Sex and sex-role comparisons in the expression of anger. Psychology of Women Quarterly, 15, 7-14.

Lonsway, K. A. & Fitzgerald, L. F. (1994): Rape myths. In review. Psychology of Women Quarterly, 18, 133-164.

Nagayama-Hall, G. C. & Barongan, C. (1997): Prevention of sexual aggression – sociocultural risk and protective factors. American Psychologist, 52, 5-14.

Otten, S., Mummendey, A. & Wenzel, M. (1995): Evaluation of aggressive interactions in interpersonal and intergroup contexts. Aggressive Behavior, 21, 205-224.

Pfeiffer, C., Wetzels, P. & Enzmann, D. (1999): Innerfamiliale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen. Forschungsberichte Nr. 80. Hannover, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.

Rohner, R.P. (1976): Sex differences in aggression – phylogenetic and exculturation perspectives. Ethos, 4, 57-72.

Stuckless, N. & Goranson, R. (1992): The vengeance scale – development of a measure of attitudes toward revenge. Journal of Social Behavior and Personality, 7, 25-42.

Dr. Jeannette Schmid ist Privatdozentin für Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite