W&F 2020/3

Der »Konsens für den Frieden«

Friedenspolitische Ansätze der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

von Elsa Benhöfer

Durch die COVID-19-Krise, aber auch die sich ständig verändernden internationalen Allianzen, steht die externe Politik der Europäischen Union vor großen Herausforderungen. Am 1. Juli 2020 übernahm Deutschland für ein halbes Jahr die Präsidentschaft des EU-Rates. „Eine handlungsfähige Europäische Union für eine partnerschaftliche und regelbasierte internationale Ordnung“ – so beschreibt die Bundesregierung im letzten Kapitel ihrer Agenda »Gemeinsam. Europa wieder stark machen« das Ziel des europäischen „Außenhandelns“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 21). Dieser Artikel skizziert die dort vorgestellten friedens­politischen Ansätze und fragt, wo Lücken bestehen bleiben – mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus.

Deutschland verfolgt für die Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft verschiedene Ziele, die die EU-Friedenspolitik betreffen. Zusammengefasst finden sich dazu in der deutschen Agenda folgende Ansätze:

Deutschland möchte die Wirksamkeit der externen EU-Krisenprävention, inklusive die der Mitgliedstaaten, überprüfen und stärken. Darüber hinaus soll die Glaubwürdigkeit der EU als globaler Akteur zur „Stärkung resilienter Systeme zu Krisenprävention“ erhöht und das EU-Engagement in großen internationalen Konflikten intensiviert werden. Des Weiteren soll der »integrierte Ansatz« der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durch die Entwicklung politischer Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung gestärkt werden. Zudem arbeitet die Bundesregierung weiterhin für eine „kohärente europäische Entwicklungsfinanzarchitektur“ sowie für die Umsetzung des 2018 vereinbarten »Pakts für eine zivile GSVP« und die Verabschiedung der Europäischen Friedensfazilität zur militärischen Ertüchtigung von Partnern“ (Council of the European Union 2018a).

Inwiefern es während der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen wird, diese Ansätze umzusetzen, lässt sich anhand derzeit laufender politischer Prozesse und aktueller Diskussionen abschätzen. Dazu zählen unter anderem die Verhandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens, inklusive des »Instruments für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation«, aber auch Diskussionen rund um das deutsche und europäische zivil-militärische Engagement, etwa im Sahel, sowie die Verhandlungen zur Europäischen Friedensfazilität. Zivilgesellschaftliche Forderungen geben Aufschluss darüber, wie Deutschland seine Ratspräsidentschaft nutzen kann, um friedenspolitische Ansätze der EU zu verbessern. Sie reichen von der Schaffung neuer Strukturen innerhalb des EU-Systems über eine Erhöhung der finanziellen Mittel und die Stärkung der Instrumente für Friedensförderung bis hin zu Schutz- und Kontrollmaßnahmen auf Interventionsebene.

Geplante Ressourcen unzureichend

Damit die EU ihre selbstgesteckten Ziele erreichen kann, müsste sie sich sowohl politisch als auch finanziell stärker für die zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen. Mit Blick auf den am 21. Juli 2020 vom Europäischen Rat verabschiedeten Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) darf man skeptisch sein.

Aufgrund der zur Bewältigung der Corona-Krise neu eingeplanten Mittel wurde der übrige Gesamthaushalt gegenüber dem Entwurf vom Februar nochmals gekürzt. Der neue Entwurf enthält nun 98,4 Mrd. Euro (gut 9 % des Gesamthaushalts) für Auswärtiges bereit. Davon sind 70,8 Mrd. Euro für das neu geschaffene Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation (NDICI) vorgesehen (Europäischer Rat 2020). Im NDICI werden ehemals eigenständige Instrumente der Entwicklungs- und Friedensarbeit zusammengeführt. Die EU möchte damit fragmentierte Budgets abbauen und erhofft sich einen geringeren bürokratischen Aufwand und mehr Flexibilität bei der Mittelvergabe.

Diese Umstrukturierung wirft bei der Zivilgesellschaft gravierende Fragen auf: zunächst natürlich die nach der Höhe der für entwicklungspolitische Friedensarbeit zur Verfügung stehenden Mittel, aber auch die, ob die Politikfelder Migration und »Ertüchtigung« gegenüber Frieden und Entwicklung priorisiert werden.

NDICI – (k)ein Segen für die europäische Friedenspolitik?

Seit dem ersten MFR-Vorschlag der EU-Kommission von 2018 haben zivilgesellschaftliche Organisationen die dort eingestellten Mittel für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung (eine Mrd. Euro) als zu niedrig kritisiert und eine deutliche Budgeterhöhung für die Prävention von Gewaltkonflikten, Friedensförderung und Vergangenheitsbewältigung sowie ein politisches Bekenntnis für den Vorrang der zivilen Krisenprävention gefordert. Der nun beschlossene MFR-Entwurf steht dem entgegen: Die Kürzungen in den thematischen NDICI-Programmen, darunter auch Frieden und Sicherheit, sowie in der ohnehin niedrig bemessenen NDICI-Säule zu Krisenreaktionsmaßnahmen sind fatal für die oben genannten Ansprüche und Ziele.

Zudem ist nicht erkennbar, wieviel Prozent dieser Haushaltsrubrik tatsächlich auf die Friedensförderung entfallen soll. Es wird befürchtet, dass die Kohärenz der verschiedenen, nun in NDICI-integrierten Instrumente nicht gewährleistet wird und die in den letzten Jahren geschaffenen, auf Friedensförderung spezialisierten Instrumente durch die Zusammenlegung verlorengehen werden.

In den letzten Monaten musste trotz der Verzögerung der Haushaltsentscheidungen schon mit dem Pre-Programmierungsprozess begonnen werden, denn schließlich handelt es sich um die finanzielle Ausgestaltung von Programmen, die in wenigen Monaten Gültigkeit haben werden. In den Monaten der dt. Ratspräsidentschaft wird dieser Prozess nun mit den veränderten Haushaltsdaten fortgesetzt und präzisiert werden müssen. Für die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa und aus ihren Partnerländern wird es schwierig werden, mit dieser Situation umzugehen und Vorschläge zu unterbreiten, die ihre Arbeit nachhaltig absichern können.

Neben der Kritik an zu geringen finanziellen Mitteln und der großen Frage nach der Operationalisierung des derzeitigen Entwurfs wird von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert, dass der NDICI stark auf Migrationskontrolle und »Ertüchtigung« fokussiert und dieser Budgetanteil in Krisenzeiten noch weiter erhöht werden kann. Zur Ertüchtigung sollen insbesondere die Maßnahmen bzw. Programme für den „Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung“ beitragen (Europäische Kommission 2015), wobei »Sicherheit« in diesem Kontext »Verteidigung« einschließt. Kritisch wird die Verwicklung von Entwicklung und Migration(skontrolle) gesehen, aber auch, dass diese sicherheitsgeleiteten Ansätze mit deutlich mehr finanziellen und strukturellen Ressourcen verfolgt werden als die friedensgeleiteten. Ein Grund hierfür ist das innerhalb der EU sehr unterschiedliche Verständnis von Konfliktprävention, das oftmals einer Gleichsetzung mit Stabilisierung folgt. Dabei wäre das klassische Verständnis von Krisenprävention die Verhinderung und Prävention von struktureller Gewalt, wie Armut und Ausgrenzung/Benachteiligung, wesentlich hilfreicher, um langfristig das Entstehen gewalttätiger Konflikte zu verhindern. Nicht zuletzt die Corona-Krise führt uns diesen Zusammenhang vor Augen. Um genau diese langfristig angelegte Förderung von Frieden zu erreichen, wird gefordert, dass zumindest adäquate Risiko- und Konfliktanalysen vorausgehen müssten.

Die Vision des »Europäischen Konsens für den Frieden«

Die Verhandlungen um das NDICI und die darin abgebildeten Maßnahmen spiegeln das lang bemängelte Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses von Prävention, Friedensförderung und Konfliktbearbeitung innerhalb der EU wider. Eine Antwort darauf wäre, wie es in der deutschen Agenda heißt, „politische Leitlinien für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 23) zu entwickeln, um zwischen Parlament, Kommission und Rat einen Dialog über die Friedensförderung der EU zu ermöglichen. Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für Konfliktprävention und Friedensförderung im Europäischen Rat könnte diesen Dialog zwischen den Mitgliedstaaten eröffnen. Während seiner Ratspräsidentschaft sollte Deutschland versuchen, einen solchen Prozess anzustoßen, der sowohl die unterschiedlichen EU-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten zusammenbringt. Dies könnte unter Umständen auch das politische Interesse der Führungsebene der EU für Konfliktprävention erhöhen und langfristig friedensfördernde gegenüber kurzfristig stabilisierenden Maßnahmen prominenter platziert werden.

Ein gemeinsames Verständnis in Form eines »Europäischen Konsens für den Frieden« würde nicht nur zu mehr Durchsetzungskraft auf institutioneller und mitgliedsstaatlicher Ebene führen, auch die EU-Friedensmissionen könnten an friedensfördernder Wirkung gewinnen.

Weder konfliktpräventiv noch friedensfördernd

Die EU ist mit elf zivilen und sechs militärischen Missionen in europäischen Ländern, in den palästinischen Gebieten, im Irak und in Afrika vertreten. Die EU-»Friedensmissionen« sollen im jeweiligen Land bzw. in der Region zur Stabilisierung beitragen. Die GSVP-Missionen wurden über die letzten Jahre personell verkleinert (5-30 Mitarbeitende) und betreiben fast nur noch Kapazitätsbildung, z.B. in Form von Trainings. Um Wirkung zu erzielen, wären die Missionen auf langfristige Lösungsansätze auszurichten, anstatt auf die kurzfristige Bewältigung von »Sicherheitsbedrohungen«, wie Migration und Flucht, zu setzen. Insbesondere mit Blick auf diverse EU-Missionen oder auf Missionen einzelner EU-Mitgliedstaaten im Sahel, zum Beispiel in Mali, wird deutlich, dass die Missionen hier nicht in der Lage sind, zu einer nachhaltigen Konfliktlösung beizutragen. Auf der Basis eines »Konsens für den Frieden« wäre das EU-Engagement von der Migrations- und Terrorbekämpfungsagenda zu lösen und es wären entwicklungs- und friedenspolitische Perspektiven zu fördern.

Bewaffnete Missionen werden auch keinen Frieden bringen

Wie wichtig ein »Europäischer Konsens für den Frieden« wäre, zeigt sich einmal mehr in der Debatte um die »Europäische Friedensfazilität«, deren Budget außerhalb des MFR aus Beiträgen der EU-Mitgliedsstaaten gespeist werden soll. Aus der Friedensfaszilität sollen zukünftig u.a. die militärischen Missionen der GVSP finanziert werden. Damit soll eine gemeinsame Verteidigungspolitik gestärkt werden, und die militärischen Kapazitäten der Nationalstaaten sollen einbezogen werden können. Mit der Begründung, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gäbe, wird es möglich sein, Munition und Waffen an Sicherheitskräfte der Partnerländer zu liefern, also z.B. auch an Friedensmissionen der Afrikanischen Union, die die EU über die »African Peace Facility« unterstützt. Mangelt es hier an mit Waffen ausgestatteten, repressiven Sicherheitsorganen, oder werden Instabilitäten hier nicht doch eher durch strukturelle Ursachen, wie Marginalisierung, fehlenden politischen Dialog und Armut hervorgerufen? Sollte es zu solchen Waffenlieferungen an Partnerländer kommen, fordert die Zivilgesellschaft zumindest Kontrollmechanismen einzuführen, um nachvollziehen zu können, welche Waffen zu welchem Zweck wohin gehen.

Stärkung der zivilen Missionen

Deutschland hatte sich auf EU-Ebene sehr für den im Mai 2018 verabschiedeten Beschluss des Europäischen Rates zur Stärkung der zivilen Aspekte der GSVP eingesetzt. Hierauf ist die Gründung des »Europäischen Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement« in Berlin zurückzuführen. Als gemeinsames Projekt der Mitgliedstaaten bündelt das Zentrum »best practices« im Bereich des zivilen Krisenmanagements. Die zivilen Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten sollen professionalisiert und eine schnellere Einsatzbereitschaft ziviler Fachkräfte in GSVP-Missionen ermöglicht werden.

Jenseits dieser eher technischen Verbesserung der zivilen GSVP verweisen kritische Stimmen auf weitere notwendige Anpassungen. Zur Stärkung der GSVP-Missionen und des integrierten Ansatzes sollte sich Deutschland im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft für eine deutliche Aufstockung der personellen Kapazitäten der zivilen Missionen einsetzen. Ohne qualifiziertes Personal wird es schwierig sein, die in der deutschen Agenda beschriebene integrierte und umfassende Krisen- und Konfliktbewältigung zu betreiben. Der Schwerpunkt der GSVP-Missionen sollte wieder auf Krisenbewältigung gelegt werden, und Migrationsmanagement und Grenzschutz (sinnvoll oder nicht) sollten anderen EU-Akteuren überlassen werden. Darüber hinaus sollten die personellen Kapazitäten innerhalb der EU für Konfliktanalysen und -prävention sowie Mediation deutlich aufgestockt und professionalisiert werden. Hierbei sollten lokale Akteure in das Design der EU-Missionen mit einbezogen werden. Insbesondere die Stärkung der Aktivitäten lokaler Partner und Organisationen der Konfliktbearbeitung sollten im Fokus der EU-Förderung stehen, um resiliente Gesellschaften zu fördern.

Zu viele Baustellen für sechs Monate

Alle hier genannten Themen werden über die deutsche Ratspräsidentschaft hinaus friedenspolitisch bearbeitet und begleitet werden müssen. Nicht zuletzt die noch lange nicht bewältigte Corona-Pandemie fordert Europa dazu heraus, eine integrierte EU-Entwicklungs- und Friedenspolitik voranzutreiben. Sie untermauert, dass nur resiliente Gesellschaften Krisen etwas entgegen setzten können. Militärische Ansätze fördern keine Resilienz. Globale Agenden und deren Operationspläne, wie die der »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« der Vereinten Nationen sowie der Resolutionen 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, und 2250, »Jugend, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrates, gäben hinreichend Anleitung für eine wirkungsvolle EU-Friedenspolitik. Ein gemeinsames friedenspolitisches Verständnis sowie ausreichend finanzielle Mittel sind hierfür zentral.

Literatur

Auswärtiges Amt (2020): Gemeinsam. Europa wieder stark machen – Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Berlin. Online auf eu2020.de.

Council of the European Union (2018a): Conclusions of the Council and of the Representatives of the Governments of the Member States, meeting within the Council, on the establishment of a Civilian CSDP Compact. Dokument 14305/18 vom 19.11.2018.

Council of the European Union (2018b): Council Conclusions on strengthening civilian CSDP. Dokument 9288/18 vom 28.5.2018.

Europäische Kommission (2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. Dokument JOIN(2015)-17-final vom 28.4.2015.

Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (17., 18., 19., 20. und 21.Juli 2020) – Schlussfolgerungen. Dokument EUCO 10/20 vom 21. Juli 2020.

Elsa Benhöfer ist Referentin für Internationale Prozesse bei der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 43–45