W&F 1994/1

Der konziliare Prozess

von Ulrich Schmitthenner

Als Antwort auf die Überlebensfragen ist in den Kirchen ein gemeinsamer Lernprozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung in Gang gekommen. Er hat seine Wurzeln in der christlichen Überzeugung, daß der Mensch zum Partner und Mitschöpfer Gottes berufen ist mit dem Auftrag, Geschichte zu gestalten. An seiner Wiege stand die Idee eines Konzils, das durch die Grundlegung einer neuen ökumenischen Sozialethik zur Überlebensfähigkeit dieser Welt beitragen sollte.

Vom Konzil zum »konziliaren Prozeß«

Der Gedanke eines verbindlichen christlichen Redens zum Frieden ist in Deutschland mit dem Namen Dietrich Bonhoeffer verknüpft. Er verlangte 1934 ein gesamtchristliches Friedenskonzil. Der katholische Priester Max Joseph Metzger schlug gleichzeitig ähnliches vor.

Doch erst 1983 diskutierte der Weltkirchenrat (ÖRK), Zusammenschluß von über 320 christlichen Kirchen, auf seiner Vollversammlung in Vancouver „ob die Zeit reif ist für ein allgemeines christliches Friedenskonzil, wie es Dietrich Bonhoeffer angesichts des drohenden Zweiten Weltkrieges vor fünfzig Jahren für geboten hielt.“ In der Diskussion zeigte sich, daß für die Menschen des Südens die Frage der Gerechtigkeit die elementare Überlebensfrage ist. Deshalb wurde die Beschränkung einer Konzilszielsetzung auf die Friedensfrage obsolet. Stattdessen erfolgte die Einladung zu einem »Bund gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«. Ein Konzil war für einige Kirchen nicht möglich. Doch ein »konziliarer Prozeß« kam in Gang.

Was so als Schwäche schien, wurde später durch einen außerordentlich breiten Lernprozeß in den Gemeinden und Gruppen der Kirchen vor allem in Europa zu einer Stärke. Es wurde kein hierarchisch von oben nach unten verlaufender Belehrungsprozeß, so hätte man sich ein Konzil gedacht, sondern ein in Netzstrukturen von unten nach oben sich durchsetzender Bekehrungsprozeß in den Kirchen. Und darin wird beständiges Interesse an Dialog und Kooperation in Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen sowie Wissenschaftlern geäußert. Sie wurden programmatisch zu allen Versammlungen im konziliaren Prozeß eingeladen.

Tatsächlich hat in allen christlichen Kirchen eine breite Diskussion und Neuorientierung eingesetzt. Sie folgte stets einem methodischen Dreischritt: Analyse, Urteil, Handlungsmodelle mit Selbstverpflichtungen. Und sie mobilisierte enorme Energien. In der ehemaligen DDR z.B. flossen über zehntausend Eingaben von einzelnen Christen in die Vorbereitungspapiere der landesweiten ökumenischen Versammlungen zu Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung ein. Hier wurden die Positionen für den friedlichen Wandel formuliert.

Auf europäischer Ebene folgte schließlich 1989 eine ökumenische Versammlung in Basel.

Ähnliches geschah mit unterschiedlicher Intensität in den anderen Weltregionen. 1990 konnte im südkoreanischen Seoul in einer ökumenischen Weltversammlung ein erster Höhepunkt gefeiert werden. Der erreichte Konsens wurde in zehn Grundüberzeugungen zusammengefaßt, dem Kern eines sozialethischen ökumenischen Katechismus. Bei allen Überlebensfragen ist die Sichtweise der Armen und Marginalisierten vorzuziehen und die Festlegung auf Gewaltfreiheit.

Nach Seoul und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ging die Motivation der Engagierten zurück. Den guten Worten waren zu wenig Taten gefolgt. Die Selbstverpflichtungen auf einen neuen Lebensstil in den Kirchen – bescheidener, solidarischer, gewaltfrei – blieben zu schwach. Aber verloren ging nichts.

Schwerpunkte

Die soziale Basis des konziliaren Prozesses in der Bundesrepublik sind vor allem die ökumenischen Netze, Zusammenschlüsse von Menschen verschiedener christlicher Konfession auf regionaler Ebene.

Schwerpunkte der dem konziliaren Prozeß verpflichteten Netze und Gruppen bilden heute im Feld Gerechtigkeit die Frage der Armuts- und Kriegsflüchtlinge. Beim Nachdenken über die Schaffung von – insbesondere in der Beziehung zum Süden – gerechten, Frieden und Umwelt erhaltenden Formen des Wirtschaftens, hat eine ökonomische Alphabetisierung in christlichen Gruppen eingesetzt.

Von Interesse auch die Diskussionen, etwa während der Zusammenkunft des Weltkirchenrates kürzlich in Südafrika, über patriarchalische Gesellschaftsordnung, über eine neue Anthropologie, die Fragen der Sexualität, auch die der Homosexualität, aufgreift.

Im Bereich Frieden rückt die »Überwindung der Gewalt« in den Mittelpunkt. So lautet der Titel für ein neues Programm des Weltkirchenrates. Ein erster Schritt ist der internationale Austausch über gewaltfreie Methoden zur Konfliktlösung in unterschiedlichen regionalen Kontexten und die Organisation speziell von Runden Tischen (etwa für Ex-Jugoslawien oder auch für Jugendbandenchefs in USA). Menschen, die einen Lebensabschnitt dem Friedensdienst widmen wollen, können sich zu einem Schalomdiakonat als einem ordensähnlich strukturierten kirchlichen Dienst verpflichten.

Bei der Sorge um die Schöpfung steht ökologisches Wirtschaften im Vordergrund. Das schließt ökologische Projekte in Gemeinden ein, beim Energiesparen, Einsatz alternativer Energien, ökologischem Nahrungsanbau, Verkehrs- und Müllkonzepten. Diskussionen über Gentechnik führen zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Wissenschaftsethik.

Der Schwerpunkt bei der Fortsetzung des konziliaren Prozesses muß sicher auf einem größeren Selbstverpflichtungsgrad liegen. Der ÖRK plant eine weltweite jährliche Dekade für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung. Dazu gehören dann Gottesdienste und gemeinsame Aktionen.

Für ihre weltregionale Ebene faßte die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eine zweite Europäische ökumenische Versammlung für 1996 ins Auge, eine Art kontinentaler Kirchentag zu »Versöhnung«.

Der konziliare Prozeß wird stärker in sehr verschiedenen weltregionalen und kulturellen Kontexten fortgesetzt werden. Das bringt auch Schwierigkeiten. Aber er ist ein hoffnungstiftendes Unternehmen. Und er hat Zukunft.

Kontakte

»Programm zur Überwindung der Gewalt«: WCC, Unit III, CCIA, Dwain Epps, POB 2100, 150, route de Ferney, CH-1211 Geneve 20, Tel.: 0041-22-791-6111, Fax 0041-22-798-1346.

»Schalomdiakonat«: Ökumenische Dienste im konziliaren Prozeß, Dr. Reinhard Voß, Mittelstr. 3, D-34474 Wethen, Tel.: 05694-8033.

Gruppen und ökumenischer Informationsdienst: Ökumenisches Büro, Mittelstr. 4, 34474 Wethen, Tel.: 05694-1417.

Literatur

Studienbuch zum konziliaren Prozeß: Ulrich Schmitthenner (Hg.): Übereinstimmung und Anregung. Frankfurt 1993. 320 S.

Pfarrer Ulrich Schmitthenner, Am Schönblick 7, 73527 Schwäbisch Gmünd, Tel.: 07171-72819, Fax: 07171-72651. Er ist Redakteur der Zeitschrift Ökomenischer Informationsdienst.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/1 Religion, Seite