W&F 2015/2

Der lange Abschied Russlands von KSE

von Hans-Joachim Schmidt

Mitte März berichteten die deutschen Medien, Moskau habe einseitig den KSE-Vertrag aufgekündigt. Diese Meldungen zeichneten ein schiefes Bild von der Situation, von einer Vertragskündigung war nämlich nicht die Rede. Dass das KSE-System bröckelt, ist dennoch unübersehbar. Und es deutet alles darauf hin, dass Rüstungskontrolle zwischen Russland und den Ländern des Westens vorläufig ein schwieriges Thema bleibt.

Anton Mazur, stellvertretender Leiter der russischen OSZE-Mission in Wien, verkündete am 10. März 2015, Russland werde seine Mitarbeit in der Gemeinsamen Beratungsgruppe des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) am nächsten Tag einstellen.1 Der Leiter der Nichtweiterverbreitungs- und Rüstungskontrollabteilung im russischen Außenministerium, Michail Uljanow, versicherte nur einen Tag später ausdrücklich, Moskau wolle keineswegs Totengräber des KSE-Vertrags werden und sei trotz des Rückzugs von der Beratergruppe weiterhin zu Verhandlungen über ein neues Abkommen für konventionelle Rüstungskontrolle bereit.2

Auch wenn Michail Uljanow dies offiziell abstritt, sind sich die Experten in Russland und im Westen weitgehend einig, dass Russland mit der Ankündigung vom 10. März auf die USA reagierten. Diese hatten kurz zuvor angekündigt, sie würden im Rahmen ihrer Operation »Atlantic Resolve« für maximal 90 Tage ein bis zu 3.000 Soldaten starkes Stryker Brigade Combat Team in die baltischen Staaten verlegen.3

Russland sieht durch diese Truppenverlegung die von Bundeskanzlerin Merkel im September 2014 auf dem NATO-Gipfel in Wales durchgesetzte Verpflichtung als gefährdet an, trotz des Russland-Ukraine-Konflikts auch weiterhin die NATO-Russland-Grundakte vom Mai 1997 einzuhalten. Denn dort hatten die NATO-Staaten zugesichert, keine „substanziellen Kampftruppen dauerhaft“ in den neuen Bündnisstaaten zu stationieren, und Russland sicherte vor allem gegenüber den baltischen Staaten eine entsprechende militärische Zurückhaltung zu. Zwar haben beide Seiten bis heute nicht definiert, was genau unter »substanziellen Kampftruppen« zu verstehen ist, ein Verband in Brigadestärke zählt aber zweifellos dazu, zumal er nicht wie üblich nur zwei bis drei Wochen, sondern gleich 90 Tage bei einem Übungsmanöver in den baltischen Staaten eingesetzt wird. Das ist noch keine permanente Stationierung, kommt ihr aber recht nahe.

Schrittweiser Abbau des Rüstungskontrollregimes

Hinzu kommt: Die baltischen Staaten gehören dem KSE-Vertrag trotz ihres 2004 erfolgten NATO-Beitritts weiterhin nicht an. Russland hatte genau aus diesem Grund noch im selben Jahr den Angepassten KSE-Vertrag (A-KSE) ratifiziert, in der Hoffnung, nach dessen baldigem Inkrafttreten würden sich bald auch die baltischen Staaten anschließen und damit rüstungskontrollpolitisch begrenzt werden. A-KSE war 1999 in Istanbul von sämtlichen KSE-Staaten unterzeichnet worden. Er sollte den noch an den Bündnisstrukturen vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion orientierten KSE-Vertrag ersetzen, die militärischen Folgen der NATO-Erweiterung durch ein neues Begrenzungskonzept stabilisieren und allen europäischen Staaten offen stehen. Die NATO-Staaten banden jedoch auf dem Prager Gipfel 2002 ihre Ratifizierung von A-KSE an politische Fortschritte bei den Territorialkonflikten, vor allem in Georgien und Moldau. Diese Verknüpfung akzeptierte Moskau nie.

Letzte Rettungsversuche für die Ratifikation des A-KSE-Vertrags scheiterten im Herbst 2007, weil die USA der Debatte über eine NATO-Erweiterung um Georgien und Ukraine politische Priorität beimaßen. Daraufhin suspendierte Russland den KSE-Vertrag im Dezember 2007 und stellte den damit einhergehenden Datenaustausch und die Verifikationsmaßnahmen ein. Die russische Regierung betonte gleichzeitig, an der gegenwärtigen Stationierungsstruktur seiner Verbände werde sich nichts Wesentliches ändern, solange Russland nicht mit neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert sei.

Die im KSE-Vertrag vereinbarte Gemeinsame Beratungsgruppe hätte eigentlich u.a. die Aufgabe, technische Probleme bei der Umsetzung des KSE-Vertrags zu beraten und gemeinsam zu klären. Die Beratungsgruppe hatte zwar schon mit der russischen Suspendierung des KSE-Vertrags Ende 2007 deutlich an Bedeutung verloren, Russland nahm aber trotz der Suspendierung weiterhin an ihren Sitzungen und an der Überprüfungskonferenz des KSE-Vertrags im Jahre 2011 teil. Es lieferte zudem seit 2007 nur noch jährliche globale Summenangaben über die Stärke seiner Streitkräfte.

Die russische Regierung kam auf der letzten KSE-Überprüfungskonferenz 2011 der westlichen Forderung nach Aufhebung seiner Vertragssuspendierung nicht nach. Zudem brach Moskau die 2010 nach der Ratifizierung des Neuen START-Vertrages4 begonnenen informellen Verhandlungen im »36er Format«5 über einen neuen Rahmen für die Modernisierung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa im Mai 2011 ab.6

Daraufhin beschlossen die USA im November 2011, ihrerseits den KSE-Datenaustausch mit Russland einzustellen. Dem schlossen sich alle übrigen westlichen KSE-Staaten sowie Moldau und Georgien an. Moskau wiederum meldet seither auch keine globalen Summenangaben seiner Streitkräfte mehr. Der Beschluss der USA und der übrigen KSE-Staaten hatte für Russland eher symbolische Bedeutung, denn Moskau erhielt über seine Bündnispartner Weißrussland oder Armenien weiterhin Zugriff auf den KSE-Datenaustausch, und alle wussten dies. Seit der neuesten Suspendierung rätseln Experten, ob Russland entweder eine aus seiner Sicht erneute unverhältnismäßige militärische Aktivität der NATO-Staaten in Osteuropa nutzt, um seine Teilnahme an der nächsten KSE-Überprüfungskonferenz, die voraussichtlich im Mai 2016 stattfinden wird, abzusagen, oder dies erst kurz vor oder auf dieser Konferenz verkündet und sich damit vollständig von der Implementierung des KSE-Vertrags (nicht vom KSE-Vertrag selbt) zurückzieht.

Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa

Die jüngsten Verlautbarungen sind ein weiteres Zeichen dafür, dass das Misstrauen zwischen Russland und den NATO-Staaten wächst, die politischen und militärischen Spannungen zunehmen und gleichzeitig die kooperative Kommunikation zwischen beiden Seiten immer weiter abnimmt. Weder in Russland noch von den NATO-Staaten ist eine glaubwürdige Initiative zu erkennen, die diese verhängnisvolle Dynamik zu unterbrechen versucht, auch wenn die Bemühungen von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande für das Minsk-II-Abkommen ein wichtiges Moment waren.

Gegenwärtig schaukeln sich die militärischen Spannungen durch immer mehr und immer größere Manöver beider Seiten wechselseitig hoch. Die USA gehen mit ihren jüngsten Übungen an die Grenze dessen, was die NATO-Russland-Grundakte vielleicht gerade noch erlaubt, während Russland seit März 2014 immer mehr kurzfristig zuvor nicht angekündigte, großformatige Alarmübungen durchführt und dabei seine Kampfflugzeuge im internationalen Luftraum häufig die Transponder ausschalten lässt. Dies verhindert die Identifizierung der Flugzeuge und bedeutet auch eine Gefährdung des internationalen zivilen Flugverkehrs.

Es sieht derzeit so aus, als bewegten sich zwei Züge auf einem Gleis immer schneller aufeinander zu, es gibt aber keinen, der als Erster die Bremse zieht, um einen Ost-West-Konflikt in neuem Gewand zu verhindern.

Russland will mit seinen militärischen Drohgebärden wohl die NATO-Staaten dazu bringen, die von ihnen am 1. April 2014 beschlossene Suspendierung der militärischen Kooperation im NATO-Russland-Rat zurückzunehmen. Sonstige Bemühungen des neuen NATO-Generalsekretärs Stoltenbergs, die wachsenden militärischen Spannungen zwischen den NATO-Staaten und Russland auf anderen Ebenen als dem NATO-Russland-Rat abzubauen, etwa indem russische Luftstreitkräfte auf das Abschalten der Transponder in internationalen Lufträumen verzichten, wurden vom Kreml bislang alle abgelehnt.

Gleichzeitig versagen in dieser Hinsicht auch die bestehenden Instrumente der Rüstungskontrolle weitgehend:

  • Der KSE-Vertrag wird von Moskau wie oben beschrieben nicht mehr implementiert und steht daher für Überprüfungen in Russland nicht mehr zur Verfügung.
  • Die Streitkräfte auf der völkerrechtswidrig von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim können derzeit wegen ihres strittigen Status durch kein Rüstungskontrollregime beobachtet und verifiziert werden.
  • Die Ukraine implementiert wegen der Gefechte in der Ostukraine den KSE-Vertrag seit März 2014 nur noch eingeschränkt.
  • Das »Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen« von 2011, das der Beobachtung militärischer Aktivitäten dient, erlaubt in Russland nur drei Verifikations- und zwei Evaluierungsbesuche pro Jahr, die meist bis zum März des betreffenden Jahres schon aufgebraucht sind. Ab dann lassen sich militärische Aktivitäten dort nicht mehr vor Ort überwachen. Zudem sind die Schwellenwerte für die Beobachtung militärischer Aktivitäten noch am alten Ost-West-Konflikt orientiert und können leicht umgangen werden, da sie nur für Verbände unter einem einheitlichen Kommando gelten.7
  • Die »Special Monitoring Mission to Ukraine« der OSZE soll zwar die beiden Waffenstillstandsabkommen in der Ostukraine überwachen, wird aber von Russland bewusst schwach gehalten und kann deshalb diese Aufgabe nur teilweise erfüllen.
  • Lediglich der Open-Skies- (Offener-Himmel-) Vertrag von 1992 wird derzeit in vollem Umfang, d.h. mit knapp über 40 Überflügen pro Jahr über Russland, fast wöchentlich für Beobachtungsflüge genutzt. Damit lassen sich bei guter Sicht zwar feste militärische Einrichtungen beobachten, jedoch kaum militärische Aktivitäten, zumal die Auswertung der Bilder meist mehrere Wochen dauert.

Wäre der Angepasste KSE-Vertrag in Kraft, gäbe es pro Jahr allein in Russland 30 Inspektionen mehr. Das hätte die Transparenz im Russland-Ukraine-Konflikt und hinsichtlich russischer Übungsmanöver deutlich verbessert.

Der Russland-Ukraine-Konflikt und seine militärischen Folgen unterstreichen einmal mehr, wie dringend inzwischen eine Überarbeitung der konventionellen Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung nötig ist. Ohne einen stabilen Waffenstillstand in der Ostukraine ist jedoch nicht an entsprechende Gespräche zu denken. Und selbst wenn, würden sie sich aufgrund des gestiegenen Konfrontationspotentials und der neuen Territorialkonflikte sehr viel schwieriger gestalten.

Anmerkungen

1) Statement by the head of the Russian delegation at the talks in Vienna on military security and arms control A.Mazur at the plenary session of the Joint Consultative Group on the Treaty on Conventional Armed Forces in Europe. Vienna, 10 March 2015; mid.ru /brp_4.nsf/english.

2) Director of the Department for Non-Proliferation and Arms Control Mikhail Ulyanov’s interview with Interfax, 11.3.2015; mid.ru/brp_4.nsf/english.

3) Zur Verlegung siehe Jon Harper: Troops and hardware from 3rd Infantry Division heading to Eastern Europe. Stars and Stripes, 9.3.2015. Zur Bewertung siehe Wolfgang Richter: Warum kündigt Putin den KSE-Vertrag? »Was Russland tut, ist erstaunlich«, Interview mit n-tv, 11.3.2015; sowie Alexei Timofeichev: Experts – Russia’s withdrawal from the CFE Treaty is a signal to the West. Russia beyond the headlines. 13.3.2015.

4) Der »START-Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Reduzierung und Begrenzung der strategischen Angriffswaffen« (New START) wurde zwischen den Vereinigten Staaten und Russland im April 2010 geschlossen und sieht für beide Seiten jeweils eine Reduzierung der strategischen nuklearen Arsenale auf 1.550 Sprengköpfe und 800 Trägersysteme vor.

5) Alle NATO- und KSE-Staaten nahmen an diesen informellen Gesprächen teil.

6) Hans-Joachim Schmidt und Wolfgang Zellner: (2012): Confidence and Security-Building Measures. In: Stockholm Peace Research Institute: SIPRI Yearbook 2012. Oxford: Oxford University Press, S.444

7) Vgl. ausführlich Wolfgang Richter: Rüstungskontrolle und militärische Transparenz im Ukraine-Konflikt. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Aktuell 59, September 2014, S.2.

Dr. Hans-Joachim Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) im Programmbereich »Sicherheits- und Weltordnungspolitik von Staaten«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/2 Technikkonflikte, Seite 46–47