W&F 2017/4

Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung

Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien

von Oliver Wolleh

Die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege der frühen 1990er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht »Urkatastrophen« dar. Sie veränderten den gesamten politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt emotional-psychologischen Raum im Südkaukasus. Eine Reflexion und die intellektuelle Bewältigung dieser gewaltsamen Vergangenheit sind Voraussetzung eines jeden umfassenden Versöhnungsprozesses, wenn das Ziel darin besteht, die Bevölkerungen der Konfliktregionen für einen dauerhaften Frieden, gute Nachbarschaft und die Bereitschaft zur Annäherung zu gewinnen.

Vor dem Hintergrund der großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts erscheinen die georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Kriege vordergründig als klein und eher unbedeutend. Setzt man die Verluste und Folgen jedoch mit der Bevölkerungszahl in Bezug, so sind diese Kriege ohne Weiteres mit den Folgen des Ersten Weltkrieges vergleichbar. Der Krieg 1992/93 in und um Abchasien forderte 10.000 Tote und führte kurzfristig zur Flucht und Vertreibung der kompletten georgischen Bevölkerung Abchasiens, welche mit rund 240.000 Menschen zu diesem Zeitpunkt 46 % der Bevölkerung ausmachte. Trotz der teilweisen Rückkehr der georgischen Bevölkerung, vorwiegend in die östliche Gal/i-Region1 Abchasiens, sind bis heute rund 200.000 Georgier*innen nicht zurückgekehrt. Der georgisch-südossetische/russische Krieg des Jahres 2008 hat den in den 1990er Jahren erlittenen Traumatisierungsgrad der in Südossetien lebenden Bevölkerung noch um ein Vielfaches verdichtet. Eine Aufarbeitung und (selbst-)kritische Reflexion dieser Kriege und der mit ihn einhergehenden Gewalttaten sind Voraussetzung für eine mögliche Annäherung der Bevölkerungen der Konfliktregionen.

Die Vergangenheitsdiskurse und ihre Auswirkungen

Die vergangenheitsbasierte Annäherung war bis vor Kurzem noch durch sich gegenseitig ausschließende Diskurse in einerseits der georgischen Gesellschaft und andererseits der abchasischen und südossetischen Gesellschaft belastet. Die Art und Weise, wie die Geschichte der Konflikte in Georgien kolportiert wurde, hat die Gräben zwischen der georgischen Seite und den abchasisch/südossetischen Akteuren über die Jahrzehnte nicht verringert.

Eine detailliertere Analyse der Diskurse ist vonnöten, um die Entfaltung der mit ihnen verbundenen kontraproduktiven Wirkungs- und Wahrnehmungsketten zu verstehen. Insbesondere drei Elemente waren für das bis zum georgischen Regierungswechsel 2012 vorherrschende Konfliktverständnis bestimmend:

  • die Leugnung der inter-ethnischen Konfliktdimension (Harmonie-Narrativ);
  • die Alleinschuld Russlands für die Kriege der frühen 1990er Jahre und deren Verlauf (Fremdschuld-Narrativ);
  • die Annahme, dass ein modernisiertes Georgien sich als das attraktivere Gesellschafts- und Staatenmodel etablieren und eine Magnetwirkung auf die abtrünnigen Konfliktregionen ausüben wird (Vorbild-Narrativ).

Der innergeorgische Diskurs sieht die Ursachen der zurückliegenden Kämpfe überwiegend außerhalb des Landes (Fremdschuld). Das Verhältnis zu der abchasischen und südossetischen Minderheit wird nahezu durchgängig als harmonisch und freundschaftlich bezeichnet (Harmonie-Narrativ). Die Konflikt­eskalation der frühen 1990er Jahre wird überwiegend Russland angelastet oder einer kleinen Elite in Abchasien und Südossetien, welche als »Handlanger Russlands« agiert hätten. Dies geht soweit, dass die georgische Seite den georgisch-abchasischen und den georgisch-südossetischen Krieg von 1992/93 als georgisch-russischen Krieg definierte und definiert, welcher auf georgischem Boden geführt wurde. Konsequenterweise wurde und wird seit nunmehr 24 Jahren betont, dass sich Teile des Landes »unter russischer Okkupation« befänden.

Demgegenüber war und ist die abchasische und südossetische Konfliktinterpretation durch die Betonung der inter-ethnischen Differenzen geprägt, wobei häufig auf eine lange Periode georgischer Dominanz und Diskriminierung verwiesen wird. Der Gegensatz zu Georgien und Georgier*innen wird ferner durch ein Fremdschuld-Narrativ ergänzt, das den Ausbruch der Gewalt und die Kriege der frühen 1990er Jahre alleine Georgien und der sie unterstützenden georgischen Bevölkerung in Abchasien bzw. Südossetiens anlastet. Darüber hinaus hat der über Jahre unter den Präsidenten Schewardnadse und Saakaschwili proklamierte Kurs einer möglichen militärischen Friedenserzwingung, falls eine vertragliche Einigung nicht zu erreichen wäre, die Basis für jegliche Form ernsthafter Vertrauensbildung unterminiert.

Die Konsequenz dieser dominanten Narrative ist, dass der georgische Diskurs kein Verständnis für die Notwendigkeit von Vertrauensbildung mit den Bevölkerungen der Konfliktgebiete beinhaltete. Vertrauensbildung zwischen den Bevölkerungsgruppen wurde über Jahrzehnte nicht als notwendig gesehen, da es im Prinzip keinen Konflikt zwischen den Bevölkerungen gab oder gibt. Der Prozess der Wiedervereinigung sollte im Rahmen der Modernisierung Georgiens durch die Magnetwirkung erfolgen (Vorbild-Narrativ). Ein attraktives Georgien, so das propagierte Konzept, würde über kurz oder lang Abchasien und Südossetien aus der russischen Umklammerung lösen.

Andere Akzente der neuen georgischen Regierung

Die georgische Regierungskoalition des Wahlbündnisses »Der georgische Traum«, die seit 2012 im Amt ist, setzte neue politische Akzente und distanzierte sich in wichtigen Bereichen vom früheren Kurs der Regierung Saakaschwili.2 Die Rahmenbedingungen für eine Annäherung an die Konfliktgebiete verbesserten sich dadurch deutlich.

  • Die georgische Koalitionsregierung »Georgischer Traum« ist die erste Regierung seit dem Ende der Sowjetunion, welche sich von Anbeginn an und ohne Einschränkung für eine politische und nicht-militärische Beilegung der Konflikte ausgesprochen hat. Damit hat sie eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Vertrauen erfüllt, sowohl für zivilgesellschaftliche als auch staatliche Akteure.
  • Im Gegensatz zur Vorgängerregierung ist die neue Regierung um eine Normalisierung der Beziehungen mit Russland bemüht und geht erkennbar auf russische Interessen und Befindlichkeiten ein. Auch wenn der Normalisierungsprozess bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, gibt es doch Erfolge zu verzeichnen, darunter die Wiederaufnahme von Flugverbindungen und von Wirtschaftsbeziehungen.
  • Darüber hinaus hat sich die Meinungs- und Pressefreiheit in Georgien gegenüber den Saakaschwili-Jahren grundlegend verbessert, sodass gesellschaftliche Gruppen und Persönlichkeiten keine politischen Sanktionen zu fürchten haben, wenn sie sich in Kooperation mit Abchas*innen und Südosset*innen um die Aufarbeitung der Gewalthandlungen der Vergangenheit bemühen.

Neben diesen allgemeinen Entwicklungen hat die neue Regierung aber auch zu subtileren Formen der Distanzierung zu dem oben beschriebenen, früher dominierenden Konfliktverständnis gefunden. So kann die Umbenennung des für die Konfliktregulierung zuständigen Ministeriums von »Ministerium zur Reintegration der besetzten Gebiete« in »Ministerium für Versöhnung« als ein wichtiger symbolischer Akt verstanden werden, der den Gedanken der Aussöhnung zum Leitprinzip des Umgangs miteinander erhebt und nicht die (Re-) Integration.3

Diese seit 2012 eingeleiteten politischen Veränderung öffnete auch die Tür zu einem veränderten öffentlichen Diskurs hinsichtlich der Konflikte, ihrer Ursachen und der Konsequenzen in der georgischen Gesellschaft. Erstmals scheint eine konstruktivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich, da die daran Interessierten und Beteiligten keine politischen Repressionen befürchten müssen.4 Gleichzeitig fällt es der georgischen Regierung und Zivilgesellschaft nicht leicht, sich aus den Fesseln existierender Stereotypen zu befreien, und man bleibt teilweise dem oben beschriebenen Diskurs verhaftet.

Vor allem das Vorbild-Narrativ, dass ein europäisches Georgien eine »Sogwirkung« auf die Bevölkerung der Konfliktregionen entfalten würde, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit. Ferner konnte das unter Saakaschwili erlassene »Gesetz über die besetzten Gebiete« bislang nicht nennenswert revidiert werden. Das Gesetz stellt die wirtschaftliche Kooperation mit abchasischen und südossetischen Unternehmen unter Strafe und stellt die rechtliche Grundlage für ein Wirtschaftsembargo gegenüber den Konfliktgebiete dar. Damit ist der klassische Ansatz des »Wandels durch Handel« bei der möglichen Neugestaltung der Beziehungen für zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie für internationale Geldgeber blockiert. Ein System umfassender wirtschaftlicher Kontakte mit den Konfliktregionen könnte, so die Sorge auf der georgischen Seite, als staatliche Anerkennung Abchasiens oder Südossetiens interpretiert werden. Ein System status-neutraler Kooperation wurde somit nicht etabliert.5 Darüber hinaus basiert die erhoffte »Sogwirkung« Georgiens auf der impliziten Prämisse, dass sich Georgien wirtschaftlich attraktiver entwickelt als die abtrünnigen Gebiete. Eine Normalisierung der Handelsbeziehungen mit Abchasien oder Georgien würde, so die Befürchtung, diese Sogwirkung relativieren.

Das dominierende georgische Verständnis eines Annäherungs- oder Normalisierungsprozesses mit den Konfliktregionen ist somit nicht durch den Gedanken der »Versöhnung« oder »Vergangenheitsbewältigung« geprägt und birgt insofern auch keinen emotionalen Appell, der in der abchasischen oder südossetischen Bevölkerung auf Resonanz stoßen könnte. Dies gilt sowohl für gesellschaftliche Akteur*innen als auch für die politische Elite. Appelle georgischer Politiker*innen richten sich traditionell an die abchasischen oder ossetischen »Brüder und Schwestern« in den Konfliktgebieten und lösen bei den Angesprochenen im besten Fall verständnisloses Kopfschütteln, wenn nicht gar angewidertes Abwenden aus.

Dialogprogramme ja, aber in engen Grenzen

Vor allem seit dem erneuten georgisch-südossetischen Krieg 2008 bemühen sich verschiedene nationale Akteure sowie die internationale Gemeinschaft um die Schaffung eines Systems der Vertrauensbildung in Georgien. Neben nationalen Geldgebern sind vor allem die Europäische Union und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit eigenen Programmen aktiv. Ihr gemeinsamer »Confidence Building Early Response Mechanism« (COBERM)6 fördert insbesondere Projekte, welche (direkte) soziale Begegnungen (people to people), zumeist im neutralen Ausland, sowie Dialogvorhaben und gemeinsame Trainingsveranstaltungen unterstützen. Die Struktur und Ausrichtung der Aktivitäten sind durch Dynamiken geprägt, welche die Wirkungsebene dieser Maßnahmen beschränken. Anbei seien nur einige genannt.

  • Organisator*innen von Dialogen/Begegnungen werden von abchasischer und südossetischer Seite oft genötigt, diese als regionale und multilaterale Formate durchzuführen. Dies führt dazu, dass jede Partei nur mit ein bis zwei Teilnehmer*innen vertreten ist, und die Bandbreite an Teilnehmer*innen erschwert es, interessante Folgeprozesse zu initiieren.
  • Alle Aktivitäten finden im (neutralen) Ausland statt. Damit aber sind die Reise- und Unterbringungskosten für diese Veranstaltungen erheblich, und die zeitraubende An- und Abreise schließt beruflich eingebundene Personen oder ältere Menschen aus der Begegnung faktisch aus.
  • Es findet in den Konfliktregionen praktisch kein Ergebnistransfer von den Treffen in die Gesellschaft statt, da es angesichts der überwiegend ablehnenden öffentlichen Meinung keine Foren für die Kommunikation über diese Treffen gibt. Da vor allem junge Leute in die friedensbildenden Maßnahmen integriert sind, diese aber weder über eine starke soziale Stellung verfügen noch die Macht besitzen, die öffentlichen Meinung zu beeinflussen, bleiben die transformativen Effekte bislang fast ausschließlich auf die Teilnehmenden und die persönliche Ebene begrenzt.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit wird in diesen Maßnahmen weitestgehend ausgeklammert. Organisatoren wie Geldgeber konzentrieren sich lieber auf emotional weniger belastete Themen, die sie gerne als »neutral« bzw. »zukunftsorientiert« bezeichnen, wie Ökologie, Kultur, Dialog oder Humanität. Vor dem Hintergrund der Brutalität der zurückliegenden Kriege erscheint jedoch aus abchasischer und südossetischer Perspektive eine gemeinsame Zukunft ohne Aufarbeitung der Vergangenheit praktisch ausgeschlossen. Darüber hinaus wird das Ziel der (möglichen) Annäherung auf georgischer Seite explizit mit dem Ziel der Integration der Konfliktgebiete verbunden. Dies wird jedoch auf Seiten der Bevölkerungen und Autoritäten in den Konfliktregionen abgelehnt, welche die internationale Anerkennung ihrer Staatlichkeit anstreben. Die explizite funktionale Verknüpfung eines möglichen Annäherungsprozesses mit dem politischen Ziel der »Reintegration« hat zur Folge, dass alle gesellschaftlichen Aktivitäten im Bereich der »people-to-people«-Annäherung auf abchasischer und südossetischer Seite von der Mitte der Gesellschaft mit Misstrauen betrachtet werden. Dies ist vor allem bei älteren Bevölkerungsgruppen der Fall.

Auf georgischer Seite wurde und wird diese Skepsis, Zurückhaltung oder gar Verweigerung einer Annäherung oftmals als Konsequenz »russischer Einflussnahme« interpretiert. Im Lichte des Harmonie-Narratives werden nach georgischer Lesart die »Brüder und Schwestern« an der Begegnung und Kooperation mit Georgien gehindert. Da die innergesellschaftliche Dimension des Ursprungs des Konfliktes nicht gekannt, erkannt oder gar negiert wird, erklären georgische Analytiker immer wieder den mangelnden Fortschritt in der Beziehungsentwicklung als ein Produkt externer, d.h. russischer Einflussnahme. Die öffentliche Meinung der lokalen Bevölkerung in den Konfliktgebieten ziehen sie kaum bzw. gar nicht in Betracht und stellen diese als eine »propagandistische Projektion« dar.

Die Vergangenheitsbewältigung als ein Leitprinzip eines umfassenden Annäherungssystems zu vermeiden, birgt die Gefahr der Delegitimierung jener Begegnungs- und Friedensinitiativen, die sich um Annäherung bemühen, jedoch die harten Themen der gewaltsamen Vergangenheit ignorieren.

Vergangenheitsbewältigung als Leitmotiv der Annäherung

In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung für eine Öffnung des Annäherungssystems hat die in Berlin ansässige Berghof Foundation vor vier Jahren ihre Dialog-Aktivitäten vor Ort deutlich auf die Aufarbeitung der Gewalterfahrungen ausgerichtet.7

Durch die Erhebung biografischer Interviews in Georgien, Abchasien und Südossetien wurde die Basis für Diskussionsgruppen in den Konfliktregionen und Georgiens gelegt. In diesen Gruppen erhalten Menschen unter Führung von durch Berghof Foundation ausgebildeten »Insider Facilitators« die Möglichkeit, die Konflikt- und Kriegserinnerungen von Menschen aus ihrer und aus der anderen Gesellschaft zu hören und zu diskutieren. Die Diskussionsrunden streben die Vermittlung zentraler Werte und Praktiken für Dialoge und Begegnungen zwischen den Menschen der Konfliktregionen an. Die Vermittlung von Werten, wie Zuhören, Verstehen und Empathie, erfolgt in diesen Diskussions-Workshops, welches wir als ein Format des »indirekten Dialog« bezeichnen und das ganz bewusst auf die direkte Begegnung vieler Menschen der unterschiedlichen Seiten verzichtet. Die Etablierung einer Diskussionskultur, in der die Erfahrungen und Aussagen von Individuen in Form biografischer Interviews im Zentrum stehen, ist ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung in einem durch Pauschalisierungen gekennzeichneten Kontext. Die Veranstaltungen werden als intergenerationelle Diskussionsrunden gestaltet, in denen Jung und Alt gemeinsam die Erzählungen der Interviewten diskutieren und so einen Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen fördern.

Diese Diskussionsveranstaltungen stoßen auf wachsendes Interesse und erfreuen sich großer Akzeptanz. Während wir im Jahre 2015 noch 52 Diskussions-Workshops innerhalb Georgiens und Abchasiens durchführten, waren es im Jahre 2016 bereits 200 mit rund 3.300 Teilnehmern, eine Zahl, die wir im Jahr 2017 noch einmal steigern konnten.

Neben diesem Netzwerk an lokalen Diskussions-Workshops konnte das Kaukasusprogramm der Berghof Foundation auch in den öffentlichen Medien eigene Formate etablieren, welche die selbstreflexive Erinnerung an Kriege und an den Konfliktverlauf in den Mittelpunkt stellen. So unterhalten wir seit dem Jahr 2015 in Sochum/i, der Hauptstadt Abchasiens, den »Biografischen Salon«. In diesem Talkshow-Format sprechen Menschen über ihre Erfahrungen mit Krieg und Konflikt. In Zusammenarbeit mit dem abchasischen TV Sender »Abasa TV« wird das Programm monatlich in ganz Abchasien ausgestrahlt.8 Während in den Anfängen des Programmes nur Abchas*innen im Salon auftraten, treten mittlerweile auch in Abchasien lebende Georgier*innen und Menschen, die heute in Georgien leben, auf.9 Mit der Ausrichtung auf die vielschichtige Betrachtung und Reflexion der Vergangenheit ist es der Berghof Foundation und ihren Partnern gelungen, eine dauerhafte Präsenz in einem konventionellen Massenmedium zu erlangen.

Auch auf der georgischen Seite ist es uns gelungen, der breiteren georgischen Öffentlichkeit die Bedeutung der Konflikt- und Kriegsentwicklung deutlich zu machen. Dort unterhält die Berghof Foundation das Radioprogramm »Schnittpunkt«, welches zusammen mit Radio Free Europe in georgischer Sprache wöchentlich 40 Minuten ausgestrahlt wird.10 Auch hier stehen georgische, abchasische und südossetische Erinnerungen im Zentrum des Programms, welche von Expert*innen diskutiert ­werden, die intellektuell und emotional in der Lage sind, diese Erinnerungen sachkundig, respektvoll und gehaltvoll zu diskutieren. Das Programm ermöglicht vielen Menschen innerhalb Georgiens zum ersten Mal seit Jahrzehnten, das Ausmaß des Leids, welches alle direkt Betroffenen der Konflikte erlitten haben, zu hören und zu erfassen. Während es sich bei den Expert*innen/Diskutant*innen in den Anfängen des Programms ausschließlich um Georgier*innen handelte, konnten in diesem Jahr auch abchasische Diskussionspartner*innen zu der Radiosendung zugeschaltet werden. Dies ist das erste Mal seit dem Jahr 2006, dass abchasische Expert*innen an einem georgischen Medienformat teilnehmen.

Die Arbeit der Berghof Foundation belegt eindeutig, dass sowohl die georgische als auch die abchasische Gesellschaft prinzipiell offen für die selbstkritische Reflexion der Vergangenheit sind. Sie sind nicht nur bereit, den Gedanken der anderen Gesellschaft zuzuhören, sie sind auch bereit, sich in der jeweils anderen Gesellschaft für einen ernsthaften und offenen Diskurs einzusetzen. Hierin liegt die Chance für wirkungsvollen Dialog und Annäherung.

Ausblick

Der (selbst-)kritische Blick in die Vergangenheit eröffnet neue Anknüpfungspunkte zwischen den Menschen und stößt auf breite soziale Akzeptanz, welche zumindest in Abchasien und Georgien nicht die Öffentlichkeit zu scheuen braucht. Dennoch sind auch hier die Möglichkeiten bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Eine der wichtigsten Ressourcen für einen erweiterten vergangenheitsbasierten georgisch-abchasischen Annäherungsprozess wird bislang für die Friedensarbeit noch wenig genutzt: die heute in Abchasien lebende ethnisch georgische Bevölkerung innerhalb der Gal/i-Region und der Otschamtschira-Region, welche als »Migrelen« bezeichnet werden. Anders als die heutigen georgischen »internen Vertriebenen« konnten diese Menschen nach dem Krieg nach Abchasien zurückkehren, auch weil diese Bevölkerungsgruppe sich nicht an den Kämpfen der Jahre 1992/93 beteiligt hatte. Sie machen rund 30 % der heutigen abchasischen Bevölkerung aus und haben die Freiheit, zwischen den Seiten zu pendeln. Die in Abchasien lebende georgische Bevölkerung ist daher ein natürliches Bindeglied (connector) zwischen den Gemeinschaften. Als Bewohner Abchasiens kennen sie die Verhältnisse vor Ort sehr genau, haben den Krieg hautnah miterlebt und haben ein realistisches Verständnis der Hindernisse einer umfassenden Annäherung zwischen den Gemeinschaften.

Als Mittler zwischen den Welten kann die georgische Bevölkerung Abchasiens eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung und der Vermittlung der gewaltsamen Vergangenheit einnehmen. Gleichzeitig ist die Einnahme der Rolle des Mittlers für diese Menschen nicht unproblematisch, da Migrelen innerhalb Abchasiens auch als ein potenzieller (georgischer) Feind im Inneren gesehen werde. So sind Migrelen fast völlig vom öffentlichen abchasischen Leben ausgeschlossen und in den Medien, wie TV oder Radio, praktisch nicht präsent. Nach Einschätzung des Autors ist die systematische Einbindung der georgischen Bevölkerung Abchasiens eine der zentralen Herausforderungen hinsichtlich der Etablierung einer breiten vergangenheitsbezogenen Dialogkultur in der Region. Aus diesem Grund hat die Berghof Foundation seit 2015, finanziert vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa, Projekt Zivile Konfliktbearbeitung/zivik), das Projekt »History in Action« gestartet, welches den Fokus auf den abchasisch-migrelischen Dialog innerhalb Abchasiens legt.

Die Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit ist in Südossetien genauso dringlich wie in Abchasien. Bedingt durch den Krieg 2008 ist der Grad der Traumatisierung der Bevölkerung dort deutlich stärker als in Abchasien. Es ist daher bislang nicht gelungen, in Südossetien neben den lokalen Diskussions-Workshops öffentliche Medienformate zu dem Thema zu etablieren. Eine Möglichkeit, die breitere südossetische Gesellschaft zu erreichen, wird darin liegen, abchasischen Aktivist*innen, die Erfahrungen in der Aufarbeitung der Vergangenheit gesammelt haben, ein größeres Aktionsfeld innerhalb Südossetiens zu verschaffen.

Vergangenheitsbewältigung kann maßgeblich dazu beitragen, Vertrauen zu bilden und die Grundlage für eine breite und nachhaltige Akzeptanz vertrauensbildender Maßnahmen in Abchasien, Südossetien und in Georgien zu schaffen. Dies gilt umso mehr, da inzwischen ein Verbund georgischer, abchasischer und südossetischer zivilgesellschaftlicher Organisationen vorhanden ist, die bereit sind, gemeinsam den Dialog um die Vergangenheit zu beginnen und ihn kons­truktiv und empathisch führen wollen.

Anmerkungen

1) Abchasen nennen diese Region in der Regel »Gal«, während Georgier*innen sie als »Gali« bezeichnen. Aus diesem Grund wird hier die Schreibweise Gal/i verwendet. Dasselbe gilt für die Bezeichnung der Hauptstadt Abchasiens als Sochum/i.

2) Zu den Rahmenbedingungen der Annäherung vor 2012 siehe Oliver Wolleh (2011): Vom Dialog zum öffentlichen Handeln. Friedensforum 3/2011.

3) Paata Zakareishvili (2016): About the modest results of a unilateral peace policy. Jam News, 30.5.2016.

4) Siehe dazu Cécile Druey (2017): Zivilgesellschaft und Konfliktlösung – Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie, auf S. 32.

5) Oliver Wolleh (2009: Nachgang zum Georgienkrieg – Chancen einer Status-neutralen Annäherungsstrategie für Abchasien und Südossetien. Wissenschaft & Frieden 2-2009, S. 49-52.

6) United Nations Development Program/UNDP (o.J.): Confidence Building Early Response Mechanism (COBERM); ge.undp.org.

7) Berghof Foundation (o.J.): Kaukasus; berghof-foundation.org.

8) Link zum TV-Programm »Biografischer Salon« der Berghof Foundation auf der Webseite von Abasa TV, Sochum/i: abaza.tv/spec/?SID=57.

9) Berghof Foundation (o.J.): Erweiterter Austausch – Gäste aus Georgien im Biographischen Salon; berghof-foundation.org.

10) Link zum Radioprogramm »Schnittpunkt« der Berghof Foundation auf der Webseite von Radio Liberty, Tiflis: radiotavisupleba.ge/z/20244.

Dr. Oliver Wolleh ist Direktor des Südkaukasus-Programms der Berghof Foundation in Berlin. Er leitet die Projekte »Through History Dialogue towards Future Cooperation«, »History in Action« und »Memory and History in Azerbaijan and Karabakh«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 21–25