Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen
Wohin geht die Entwicklung in Lateinamerika?
von Dieter Boris
Lateinamerika ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Sogar hier zu Lande hat man davon Notiz genommen, wenn auch spärlich. Und es gibt eine gewisse Hinwendung, ein gewisses gesteigertes Interesse an diesen Prozessen, die sich dort offenbar abzeichnen. Stichworte: Venezuela, Uruguay, Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador. Aber was passiert dort wirklich? Gewiss, Bewegung lässt sich feststellen. Einige Präsidenten neoliberaler Provenienz sind aus ihren Ämtern vertrieben worden. Zeitweise waren erhebliche soziale Bewegungen zu beobachten. Der antineoliberale Diskurs ist stärker geworden oder, anders gesagt, der Neoliberalismus als Diskurs ist nicht mehr allein herrschend. Es gibt Neuansätze, aber die Frage ist, wie ist das Verhältnis von Kontinuität und Bruch, sind wirklich neue Verhältnisse zu konstatieren; sind diese neuen Mitte-Links-Regierungen der Anfang von etwas grundsätzlich Anderem oder nur die modifizierte Fortsetzung des Alten?
Als Ausgangspunkt für die neoliberale Hegemonie in den Ländern Lateinamerikas (Ausnahme Kuba) ist die Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre zu sehen. Diese wiederum war Ausdruck einer gewissen Erschöpfung des bisherigen Entwicklungsmodells, das auf Importsubstitutionen beruhte, also Ersatz von Importen und Binnenmarkt-Zentrierung einschloss. Damit ist eine gewisse Krisensituation bezeichnet, aus der neue Wege der Weiterentwicklung gesucht wurden. Natürlich wirkte dabei auch der Druck von außen mit, also die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Auflagen und Pressionen ausländischer Gläubiger und vor allen Dingen der so genannte berühmt-berüchtigte Konsens von Washington, der eine Skizze neoliberaler Politikmodelle beinhaltete. Diesem Druck von außen entsprach eine interne Machtverschiebung dahingehend, dass nun bestimmte Kapitalfraktionen, wie das Export- und Importkapital, die Finanzfraktion, aber auch technokratische Fraktionen gegenüber den binnenmarktorientierten Teilen der Bourgeoisie und anderen Bevölkerungssegmenten die Überhand gewannen. Das neue Programm der neoliberalen Politik, d. h. Öffnung nach außen, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Liberalisierung der Preise usw., dieser ganze Katalog wurde nun in fast allen Ländern Lateinamerikas mehr oder minder radikal und intensiv umgesetzt. Das Versprechen derjenigen, die dieses Rezept verordneten, war, dass damit die Hoch- oder Hyperinflation – ein Übel der vorherigen Entwicklung – ausgeschaltet, die Stagnation im ökonomischen Bereich überwunden, die Arbeitslosigkeit reduziert und die Polarisierung der Gesellschaft vermindert werden könne. Mit der Umsetzung neoliberaler Politik ging das Versprechen der Wohlfahrtsteigerung einher. Tatsächlich waren in der Anfangsphase dieser neoliberalen Politik auch bestimmte Erfolge zu verzeichnen, z.B. haben sich die neoliberalen Regierungen immer auf die Fahnen geschrieben, die Hoch- oder Hyperinflation, manchmal von mehreren tausend Prozent im Jahr, relativ effektiv und schnell bekämpft zu haben. In der Tat kam es in den ersten Jahren auch zu einem gewissen Wiederanstieg der Wachstumsprozesse, vor allen Dingen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre.
Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie waren zunächst sehr schwach. Es kam zwar manchmal wie bei der Regierungsübernahme in Peru oder auch in Venezuela zu spontanen Aufständen, zu Unmutsäußerungen der Bevölkerung über die Preisanstiege. Im Grunde genommen waren das aber sehr sporadische, vorübergehende Ereignisse. Es gelang vielen neoliberalen Präsidenten dann doch, sich durch- und die neoliberale Politik umzusetzen.
Länder- und phasenweise war das natürlich sehr unterschiedlich. In einigen Fällen war diese neoliberale Politik so erfolgreich, dass sie eine zumindest passive Zustimmung der Beherrschten fand, so dass manche Präsidenten nach der ersten Regierungsperiode mit großen Mehrheiten wiedergewählt wurden. Fujimori in Peru z.B. wurde Mitte der neunziger Jahre mit über fünfzig Prozent wiedergewählt, Menem mit ca. fünfzig Prozent. In der ersten Phase, Ende der achtziger bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre, kann in bestimmten Ländern tatsächlich von so etwas wie einer neoliberalen Hegemonie, d. h. einer Zustimmung großer Teile der Beherrschten zu diesem Modell, gesprochen werden. Das hängt auch damit zusammen, dass etwa gewisse Entbürokratisierungen durchgeführt wurden, manchmal den Kommunen mehr Gewicht zugemessen wurde, dass auf kommunaler Ebene gewählt werden konnte oder dass die Importe billiger geworden waren.
Hintergründe des Akzeptanz- verlustes neoliberaler Regime
Die ersten Risse und Brüche dieser neoliberalen Hegemonie zeigten sich schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Aufstand der Zapatisten am 1. Januar 1994. Die eigentliche Häufung von Protesten gegen die neoliberale Herrschaft erfolgte aber erst Ende der neunziger Jahre und vor allen Dingen mit Beginn des neuen Jahrhunderts.
Welche Faktoren führten zum Akzeptanzverlust der neoliberalen Herrschaft? Man kann feststellen, dass nach den gestiegenen Wachstumsraten Anfang der neunziger Jahre in der zweiten Hälfte in den meisten Ländern eine Stagnationsphase einsetzte. Es kam auch zu großen Krisen und langwierigen Rezessionen, wie in Argentinien von 1998 bis 2001. Es ereigneten sich eine Reihe von Finanzkrisen, die mehr oder minder tiefgreifende Wirkungen entfalteten: Finanzkrise in Mexiko 1994 und 1995, Finanz- und Währungskrisen in Brasilien Anfang 1999, Argentinien eigentlich dauernd seit 2000 bis 2002.
Die Arbeitslosigkeit stieg im Laufe dieser Krisen weiter an. Der informelle Sektor, die prekären Arbeitsverhältnisse multiplizierten sich. In manchen Ländern betrafen sie mehr als die Hälfte der Arbeitenden. Die sozioökonomische Polarisierung, also Einkommenspolarisierung, Differenzierung, Auseinanderdriften von Armut und Reichtum, nahm ungeahnte Dimensionen an. Zu all diesen ökonomischen und sozialen Defiziten der neoliberalen Politik und Herrschaft gesellten sich verschiedene institutionelle Schwächen wie das Versagen von Justiz, Polizei und der Parteien, teilweise auch der gesteuerten Medien. Es kam zu einer gewissen Unzufriedenheit mit der formalen Demokratie, die in einer Reihe von Ländern ja erst Anfang der achtziger Jahre – nach den Diktaturen der siebziger Jahren – erreicht worden war.
Zu den Momenten, die die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Modell gefördert haben, zählt auch das Ansteigen der Gewaltkriminalität im Alltag. Hinzu kam ein Phänomen, das Lateinamerika früher nicht gekannt hatte. Lateinamerika war immer ein Einwanderungskontinent gewesen, was sich aber in den neunziger Jahren ins Gegenteil kehrte. Einzelne Länder wurden geradezu für ihre Auswandererströme bekannt. Fast 20 % der Uruguayos leben heute im Ausland. Es gab die berühmten Bilder, auf denen ausreisewillige Argentinier Botschaften belagern. Die nach Spanien fliehenden Ecuadorianer und Ecuardorianerinnen sind notorisch, die Migrationsströme aus Zentralamerika, den karibischen Ländern und Mexiko in die USA ohnehin bekannt.
Die wachsende Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus und die Erkenntnis, dass die Versprechen, die mit ihm einhergegangen waren, immer weniger erfüllt wurden, führte dazu, dass es in manchen Ländern zu spontanen Aktionen kam, dass Präsidenten durch mobilisierte Massen weggefegt wurden. Das fängt schon 1997 in Ecuador mit Bucarám an, der als geistig umnachtet vom Parlament abgesetzt und dann von der Massenbewegung ins Exil getrieben wurde. Es traf auch andere Präsidenten, 2000 nochmals in Ecuador, dann in Argentinien, wo der gewählte Präsident Fernando de la Rúa völlig diskreditiert und blamiert das Regierungsgebäude in einem Hubschrauber verlassen musste, weil er im Dezember 2001 einen Einsatz der Polizei befohlen hatte, bei dem 40 Tote zu beklagen waren.
In anderen Ländern waren es eher Wahlen, die zu einer Umkehr führten wie in Brasilien, Uruguay und teilweise auch in Peru.
Neue und alte soziale Bewegungen
An den Aktivitäten gegen die neoliberalen Regime waren alte soziale Bewegungen, d. h. solche, die schon vor diesen Krisenzeiten existiert hatten, beteiligt, aber auch Bewegungen, die erst damals entstanden sind. In Argentinien bildeten sich z.B. ganz neue Bewegungen wie die der Piqueteros, die Arbeitslosenbewegung, die Stadtteilversammlungen, die Tauschbörsen, die Bewegung der besetzten Betriebe etc. All das sind Bewegungen, die es in dieser Form in den achtziger und neunziger Jahren noch nicht gegeben hatte.
Wie sind diese neuen Bewegungen einzuschätzen? Zunächst ist überraschend, dass sie sich überhaupt gebildet haben und eine solche Pressions- und Schubkraft entwickeln konnten. Denn die sozialen Bewegungen in Lateinamerika erlebten nach dem Rückzug der Militärdiktaturen und der Erringung der formalen Demokratie einen Rückgang. Fast überall konnte man beobachten, dass Bewegungen, die im Kampf gegen die Militärdiktatur einen Aufschwung erlebt hatten und sehr wichtig gewesen waren bei der Verdrängung der Militärs von der politischen Herrschaft, einen Rückgang erlebten. Das hängt mit vielen Dingen zusammen, unter anderem damit, dass viele ihrer Leute in Regierungs- oder Parteiämter kamen, dass das gemeinsame Feindbild eines Militärdiktators nun fehlte, dass mit bestimmten Maßnahmen seitens der neuen formalen Demokratien Bewegungen befriedigt wurden.
Sodann war die Revitalisierung dieser sozialen Bewegungen auch deshalb erstaunlich, weil sich unter dem Neoliberalismus Sozialstrukturen, die vorher vorhanden gewesen waren, verändert hatten. Verändert in dem Sinne, dass es jetzt wesentlich mehr Angehörige des informellen Sektors bzw. in prekären Arbeitsverhältnissen gab und eine gewisse Atomisierung der Sozialstruktur stattfand. Große Kollektive, die in Großbetrieben oder auch in Dienstleistungsbetrieben vorhanden gewesen waren, wurden im Zuge neoliberaler Politik zerschlagen oder extrem reduziert. Die Ansätze einr kollektiven Oppositions- und Widerstandsbewegung wurden dadurch sehr erschwert.
Aus diesen beiden Gründen ist es erstaunlich und bedenkenswert, dass es überhaupt wieder zu einem Aufschwung dieser sozialen Bewegung ab Ende der neunziger Jahre kommen konnte.
Sicher war entscheidend, dass ab einem bestimmten Punkt die Differenzen und Atomisierungstendenzen überdeckt wurden von dem gemeinsamen Protest gegen die neoliberalen Herrschaftsformen. Es kam zu Bündnissen zwischen Teilen der Mittelschichten und den Unterschichten. In Argentinien wurde das auf dem Höhepunkt der Krise 2001 – 2002 ganz deutlich, als sich die Cacerolazos, die Töpfe schlagenden Mittelschichtsangehörigen, die an ihre Konten wollten, mit den Piqueteros, den Arbeitslosen- und Gewerkschaftsbewegungen, verbündeten.
Wichtig war auch bei der Entstehung dieser neuen Protestbewegung, dass es in den meisten Ländern eine Bewegung gab, die voran schritt, die eine Vorreiterrolle einnahm. In manchen Ländern waren es die indigenen Bewegungen, vor allem in Ecuador und Bolivien. Im Schatten der indigenen Bewegung aktivierten sich dann auch die Gewerkschaftsbewegung, die Bewegungen der Cocaleros und der Minenarbeiter sowie der im Erziehungsbereich Arbeitenden.
In Argentinien lag die Vorreiterrolle bei den schon erwähnten Piqueteros, den neu gebildeten Arbeitslosenbewegungen. Interessanterweise sind sie im Nordwesten Argentiniens entstanden. Hier hatte die Privatisierung großer Unternehmen, z.B. der Raffinerien in Neuquén und Salta, ganze Regionen in die Arbeitslosigkeit gestürzt. In der Folge kam es zu Bündnissen zwischen Mittel- und Unterschichten, an denen sich auf lokaler und regionaler Ebene sogar Regierungsoffizielle beteiligten. In der tiefsten Provinz bildeten sich die ersten Keime dieser Arbeitslosenbewegung heraus, die dann erst relativ spät das Zentrum des Landes, den Großraum Buenos Aires erreichte. Dann aber spielte diese Arbeitslosenbewegung eine dominierende Rolle, der sich andere Bewegungen wie die Stadtteil-, die Frauen- und die Menschenrechtsbewegung anschlossen.
Ähnliches kann man auch für Brasilien konstatieren, wo der Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, die Landlosenbewegung, eine gewisse Vorreiterrolle hatte. Man kann generell sagen, dass bei diesen Bewegungen der territoriale Aspekt wichtiger ist als der betriebliche. Bei den alten sozialen Bewegungen waren immer die betrieblichen Kerne wichtig, weil im Betrieb eben viele Menschen zusammengefasst waren, große Gruppen an einem Ort kommunizieren konnten. Das ist durch die Dispersion und die Atomisierung im Zuge des Neoliberalismus erschwert worden; von daher war das territoriale Organisationsprinzip eine logische Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung. Das heißt: Stadtviertel schließen sich zusammen, Piqueteros, Arbeitslose blockieren an bestimmten Punkten der Stadt Verkehrsknoten und erheben Forderungen, nicht um den Produktionsprozess still zu legen, aus dem sie ja heraus gefallen sind, sondern den Zirkulationsprozess. Damit werden der übrigen Gesellschaft neue Signale vermittelt.
Überwindung des Neoliberalismus – Chancen und Probleme
Wie sind die neuen Regime in Lateinamerika – die allgemein als Mitte-Links-Regierungen bezeichnet werden – einzustufen? Wird mit ihnen das Zeitalter nach dem Neoliberalismus eingeläutet oder nur ein postneoliberales Zeitalter. Der von mir geschätzte Kollege Hans-Jürgen Burchardt hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Nach dem Neoliberalismus«. Ich würde sagen, das ist ein sehr hoffnungsfroher Titel, aber so weit sind wir noch nicht. Es ist eben das Problem, dass unsere Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche uns gelegentlich ein Schnippchen schlagen. Notwendig ist eine genaue Analyse, um die Relativität dieser Fortschritte bei der Ablehnung des Neoliberalismus exakt und richtig einschätzen zu können.
Ganz klar ist, dass mit den Regierungswechseln in mehreren Ländern Lateinamerikas in Richtung Mitte-Links ein Schritt nach vorne gemacht wurde. Die monolithische, erstickende pensée unique, pensamiento unico, das Einheitsdenken wurde durchbrochen, es gibt neben dem Neoliberalismus jetzt auch andere Diskurse. Das ist natürlich ein wichtiger Fortschritt, und damit haben sich die Handlungsbedingungen der Linken (im weitesten Sinne) verbessert. Aber die Situation ist eben keineswegs eindeutig. Der Neoliberalismus ist in den meisten Ländern bei weitem nicht zu Grabe getragen und hat auch da, wo er oberflächlich gekappt ist, noch sehr tiefgreifende und festsitzende Wurzeln. Dem Prestige- und Legitimationsverlust des neoliberalen Diskurses in der Öffentlichkeit, in der Kultursphäre und anderen Bereichen, stehen noch feste Bastionen in der Wirtschaftspolitik und zum Teil auch in der militärpolitischen Orientierung entgegen. Atilio Borón, ein wichtiger argentinischer Politologe, der auch Vorsitzender der CLACSO ist, umreißt diese Ambivalenz mit den Worten: „Gegenwärtig ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen Kultur, öffentliches Bewusstsein und Politik einerseits und zur gleichen Zeit deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidendem Terrain der Wirtschaft und des policy making andererseits festzustellen.“ In der Wirtschaftspolitik wird die Unabhängigkeit der Zentralbank, ein Leitdogma des Neoliberalismus, anerkannt, der Kniefall vor dem IWF wird vollzogen usw. Auf der anderen Seite redet man in wichtigen Bereichen der Politik eher antineoliberal. In Brasilien und in Uruguay sind diese Erscheinungen ganz deutlich. Diese Ambivalenz gilt es zu analysieren. Vielleicht ist es ja so, wie Anibal Quijano, ein peruanischer Soziologe, es formulierte, dass mit dem Verfall neoliberaler Hegemonie keineswegs automatisch antikapitalistische Kräfte nach vorne gekommen sind, sondern dass möglicherweise nur eine neue Form bürgerlicher Hegemonie angestrebt wird.
Eine neue Form bürgerlicher Hegemonie, die vielleicht eine etwas modifizierte Einbindung in den Weltmarkt anstrebt, vielleicht mit sozialen Beimengungen, aber keineswegs schon einen Schritt in Richtung der Überwindung des Kapitalismus darstellt.
Diese ambivalente Situation wird auch innerhalb der Linken der betroffenen Länder sehr unterschiedlich eingeschätzt. So wird z.B. das Phänomen Chávez und die »Bolivarianische Revolution« innerhalb der Linken Venezuelas außerordentlich kontrovers diskutiert. Innerhalb Argentiniens gibt es selbst unter Marxisten polar entgegengesetzte Auffassungen zu Kirchner und seiner Politik.
Vielleicht kann ich das am Fall des argentinischen Präsidenten Kirchner exemplifizieren. Kirchner hat eine ziemliche Wende gegenüber der Politik seiner Vorgänger vollzogen. Er hat eine neue Menschenrechtspolitik eingeschlagen, dafür gesorgt, dass die Amnestiegesetze oder Selbstamnestiegesetze aufgehoben und Veränderungen im Justizbereich durchgesetzt wurden. Auch eine außenpolitische Wende hat stattgefunden. Der Mercosur, das Integrationsbündnis der südamerikanischen Staaten, soll ein neues Gesicht erhalten. Auf der anderen Seite aber versucht derselbe Kirchner, die sozialen Bewegungen zu spalten, etwa die Piqueterobewegung: manche sind die guten und manche die schlechten Piqueteros. Auch Kirchner plädiert dafür, dass die Exportpolitik und der bürgerliche Wiederaufbau gestützt wird. Er macht daraus keinen Hehl, er sagt offen, wir wollen ein »país en serio«, einen seriösen ernsthaften Kapitalismus. Für die Linke stellt sich damit die Frage, ob sie eine diametrale Oppositionspolitik gegen diese Kirchner-Linie machen muss. Ist Kirchner, wie James Petras, Maristella Svampa und andere Linke sagen, der Typus des besonders raffinierten, neuen Konservativen, den es zu bekämpfen gilt, oder muss man der Kirchner-Regierung mit kritischer Distanz und zeitweisen Bündnissen begegnen?
Nirgendwo ist eine antikapitalistische sofortige Umwälzung in Sicht. Von daher erscheint auch die Frage der distanzierten Unterstützung dieser Mitte-Links-Regierungen in einem anderen Licht. Gerade die Tatsache, dass eine Linke z. B. in Argentinien, in Venezuela oder anderswo, in einer kompakten, konzentrierten, entschlossenen Form überhaupt nicht vorhanden ist, welche systemtranszendierende Qualitäten hätte, zeigt, dass der Prozess einer weitreichenden Umwandlung dieser Gesellschaften und Ökonomien wahrscheinlich ein sehr langfristiger Prozess ist. Kurz- und mittelfristig ist wohl nicht von einer grundlegenden Veränderung auszugehen. Das bedeutet, dass mit der Ablehnung und sukzessiven Zurückdrängung des neoliberalen Modells auch ein Lernprozess einhergehen muss, eine Suche nach neuen Formen der politischen Vergesellschaftung, nach neuen Formen auch von ökonomischen Handlungsweisen. Also genau das, was in Lateinamerika jetzt als Sektor der solidarischen Ökonomie bezeichnet wird, ein genossenschaftlicher, solidarischer Sektor. Alternative Wirtschaftsformen fallen nicht vom Himmel oder sind nicht schon da, sie sind nichts was man einfach von der Stange nehmen könnte, sondern sie müssen langwierig entwickelt, für sie muss Bewusstsein entfaltet werden. Das ist ein sehr langwieriger Prozess sowohl auf ökonomischer und auf politischer Ebene, aber vor allen Dingen auch auf der Ebene der politischen Kultur. Eine ganz neue politische Kultur muss erlernt werden, die von dem Vertikalismus, also hierarchischen Beziehungen, die auch in der Linken durchaus verbreitet sind, wegkommt und die Horizontalität, die Autonomie der einzelnen Bewegungen, Toleranz für pluralistische Ansätze in unterschiedlichen Bewegungen und die Konzentration dieser unterschiedlichen Bewegungen auf einen Punkt hin anstrebt.
Aufgrund der Schwäche der Linken in den meisten Ländern Lateinamerikas können solche Prozesse der schrittweisen Zurückdrängung des Neoliberalismus eine Chance besitzen. Auf Seiten der Linken gilt es, diese Prozesse als Lernphase und Akkumulation eigener Kräfte zu reflektieren und mit Politikvorschlägen und Alternativen zu begleiten, bis dann irgendwann eine gerechtere Ordnung durchgesetzt werden kann.
Literatur:
Boris, D./St. Schmalz/A. Tittor (Hg.) (2005): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?, Hamburg: VSA Verlag.
Burchardt, H.J. (2004): Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag.
Lateinamerika-Jahrbuch Nr. 29 (2005): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot
Das Argument, Nr. 262 (H. 4/2005): Links-Regierungen unterm Neoliberalismus, Hamburg: Argument Verlag.
Dr. Dieter Boris, Professor für Soziologie an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Probleme der Entwicklung/Unterentwicklung, Weltwirtschaft, Soziologie und Ökonomie Lateinamerikas