W&F 2024/3

Der »olympische« Mythos, eine Friedens-Botschaft?

von Claus Tiedemann

Die olympischen Spiele von Paris und Marseille 2024 werden vorbei sein, wenn Sie dies lesen. Hoffentlich sind sie friedlich geblieben!

Wissen Sie, woher das Wort »olympisch« kommt? Nicht von Olympia, dem Dorf, in dem die ältesten und berühmtesten der griechischen »Kranzspiele« stattfanden, sondern vom Olymp, dem höchsten Berg Griechenlands, der als Wohnsitz der griechischen Götter angesehen wurde. Im Duden wird als erste Bedeutung des Wortes »olympisch« angegeben: „göttergleich, hoheitsvoll, erhaben“ – abgeleitet vom Berg Olymp. Erst an zweiter Stelle steht die Bedeutung „die Olympiade betreffend“ – also abgeleitet von Olympia und den dort zu Ehren des »olympischen« Göttervaters Zeus ausgetragenen Wettkämpfen.

Wenn in der Neuzeit wieder von »olympischen Spielen« die Rede war, sollte nach der Absicht ihres französischen Gründers Coubertin die Bedeutung »göttergleich« immer mitschwingen, zumal er die »olympische Idee« als eine Religion propagierte. Dass das Adjektiv »olympisch« heute fast immer groß geschrieben wird, lädt es zusätzlich mit einer hoheitsvollen Aura auf.

Diese Aura der »olympisch« genannten Spiele ist also erschlichen, aber eine sehr willkommene Schmuggelware, die – nicht nur sprachlich – große Wirkung hat. In Deutschland gibt es sogar seit 2004 ein Bundesgesetz zum »Schutz des olympischen Emblems und der olympischen Bezeichnungen«. Unser Parlament hat sich den Vermarktungsrechtsansprüchen des IOC unterworfen – verfassungsrechtlich fragwürdig und vor allem ein politischer Skandal!

Die olympischen Spiele sind inzwischen wie der gesamte »Weltsport« zu Erscheinungen geworden, in denen „eine kritiklose kapitalistische Wachstumsideologie zum Tragen kommt“, wie der Sportwissenschaftler Helmut Digel erst jüngst in der Zeitschrift »SportZeiten« feststellte. Er konnte selbst lange Zeit als ehemaliger Präsident des deutschen Leichtathletik-Verbandes die Entwicklungen auch »von innen« beobachten. Mit seinem »Weckruf« appelliert er, dass dieser Welt­sport nicht gefördert, sondern bekämpft werden muss! Digel hat zwar nicht nur die olympischen Spiele im Blick, sondern den gesamten »Weltsport«, aber seine kritische Analyse trifft in fast allen Hinsichten auch auf die olympischen Spiele zu.

Er stellt folgende bedenkliche Entwicklungen fest: Ökologischer Overkill, Zunahme krimineller Strukturen und Zunahme von Korruptionsfällen, Zunahme sozialer Ungleichheit im System des Sports, Zunahme von Gewalt, Verlust der Autonomie der Sportorganisationen, Zunahme von Privatisierungsmaßnahmen, Zunahme von Fremdbestimmung durch staatliche Politik, beschleunigter Wertezerfall, Macht­übernahme durch externes und fremdbestimmtes Führungspersonal, Zunahme des Wettbetrugs, Zunahme der Manipulation sportlicher Leistungen, Entdemokratisierung und Entwicklung scheindemokratischer Strukturen, und Zunahme der Gefährdung der Gesundheit der teilnehmenden Athletinnen und Athleten.

In starkem Gegensatz dazu steht die von einer weiten Öffentlichkeit kritiklos angenommene Friedens-Rhetorik des IOC und seiner zahlreichen Nachbeter.

Sport ist und bleibt ein Tätigkeitsfeld, in dem wohl mit regeln-ausnutzender Härte um den Sieg gekämpft wird, in dem aber das Kämpfen durch Regeln und Schiedsrichter friedlich eingehegt wird. Der Gegner im Sport ist eben nicht ein Feind, sondern ein Konkurrent. Dies können die vielen Sport treibenden Menschen als schönen Eigen-Sinn erleben und gerne auch vorleben, aber direkte Auswirkungen auf politische Auseinandersetzungen hat es nicht.

Das 2000 vom IOC und Griechenland gegründete »International Olympic Truce Centre«1 zitiert als zentrales Motto einen Ausspruch Mandelas, dessen erster Satz für sich genommen genau diese übertriebene idealistische Aufladung des Sports als Friedensbringer ist: „Sport has the power to change the world. Die nächsten Sätze kommen den Wirkmöglichkeiten von Sport schon näher: „It has the power to inspire. It has the power to unite people in a way that little else does.

Wenn insbesondere Politiker und Sportfunktionäre vom »friedenbringenden Sport« reden, versuchen sie meistens, andere, meist gar nicht friedliche Interessen damit zu verschleiern. Helmut Digel hat in seinem kurzen, eindrucksvollen »Weckruf« dafür Beispiele angeführt, die an Zahl und Bedeutsamkeit leicht ergänzt werden können.

Es wird Zeit, nicht nur die gegenwärtig herrschenden Erscheinungsformen des olympischen und Welt-Sports, sondern insbesondere die sie hervorbringenden und fördernden Wirk-Prinzipien nicht mehr (gesellschaftlich-politisch) zu fördern, sondern sie entschieden zu bekämpfen.

Anmerkung

1) Immerhin hat das IOC mit diesem Namen seine Friedens-Rhetorik schon etwas abgerüstet: »Truce« heißt nur Waffenstillstand. Auch in der Antike gab es keinen »olympischen Frieden«, sondern nur einen örtlich begrenzten Waffenstillstand für die freie An- und Abreise der Teilnehmer und Zuschauer.

Dr. Claus Tiedemann ist Professor für Sportwissenschaft i.R. der Universität Hamburg und hat vielfach zu Sport und Frieden publiziert; Website: kulturwiss.info.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/3 Widerstehen – Widersetzen, Seite 5