W&F 2022/2

Der Preis der Energiewende

Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien

von Theresa Bachmann

Weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeit der Kolonialreiche längst vorbei. De facto aber prägen neokoloniale Beziehungsmuster bis heute die Beziehungen zwischen Staaten und Konzernen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden. Ausgehend von Überlegungen kritischer Intellektueller des Globalen Südens zur Rolle von Kolonialität im globalen Machtgefüge, zeigt dieser Beitrag am Beispiel der Cerrejón-Mine auf, welch hohen Preis Kolumbien für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.

Der bereits eingeleitete Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom ist ein zentraler Bestandteil von Deutschlands Energiewende. Während die stärkere Förderung erneuerbarer Energien alternativlos ist, muss gleichzeitig jedoch auch die Energiesicherheit gewährleistet werden. In der aktuellen Übergangsphase heißt das, dass eine geringe Stromproduktion durch deutsche Windkraftanlagen durch vermehrte Importe, beispielsweise von französischem Atom- oder polnischem Kohlestrom, kompensiert wird. In einer zunehmend globalisierten Welt bleibt Deutschlands Energiemix also nicht ohne Folgen für und in anderen Staaten. Diese Verflechtungen spielen zwar in der öffentlichen Debatte in Deutschland zumeist nur eine untergeordnete Rolle, sind aber zum Teil gerade deswegen sozial-ökologisch, ökonomisch wie politisch besonders problematisch. Der globale Abbau und Handel mit Kohle zu Stromgewinnungszwecken ist diesbezüglich ein Paradebeispiel.

Obwohl in Deutschland der Steinkohleabbau bereits beendet wurde, stammt ein signifikanter Anteil in Deutschland verbrauchten Stroms weiterhin aus Steinkohle. Angaben des Vereins der Kohlen­importeure (VDKi 2022) zufolge, betrug dieser 2021 ca. 8,6 % am gesamten Primärenergieverbrauch. Die dafür notwendigen Kohleimporte steigerten sich allein im letzten Jahr um 24,5 % – das entspricht einer Menge von 7,2 Mio. Tonnen – auf insgesamt 39 Mio. Tonnen (Ibid.). Während in Deutschland intensiviert über einen früheren Kohleausstieg diskutiert wird, wird dabei kaum thematisiert, dass dasselbe Deutschland seit Jahren mit großem Abstand größter Steinkohleimporteur Europas ist. Die Steinkohle wird dabei nicht nur aus Australien oder den USA eingekauft, sondern auch aus Südafrika und Kolumbien, wo niedrigere Förderstandards mit großen Umweltschäden sowie zum Teil schwersten Menschenrechtsverletzungen in direktem Zusammenhang mit dem Export von Kohle stehen. So werden in Förderregionen lebende Gemeinschaften vertrieben, von der Wasserversorgung abgeschnitten, Proteste kriminalisiert sowie Gegner*innen aktiv mundtot gemacht. Selektive Gewalt in Form von gezielten Tötungen von Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen erreicht – global gesehen – derzeit einen traurigen Höchststand. Global Witness (2020) beschreibt die Lage in Kolumbien, Zentralamerika und den Philippinen, gerade für die indigene Bevölkerung, als besonders prekär. Nichtsdestotrotz beziehen Deutschlands fünf größte Stromversorger allesamt auch Kohle aus Kolumbien.

Neokolonialismus und globale Machtgefüge

Auf dem Höhepunkt der »Dekolonisierung«, während immer mehr Staaten formal ihre Unabhängigkeit erlangten, wies Ghanas Unabhängigkeitsheld Kwame Nkrumah bereits auf die reale Möglichkeit des Neokolonialismus hin. In seinen Worten ist die „Essenz des Neokolonialismus, dass der Staat, der ihm unterworfen ist, theoretisch unabhängig ist und nach außen hin internationale Souveränität genießt. Praktisch jedoch ist sein ökonomisches System und damit einhergehend seine Politik von außen gesteuert“ (Nkrumah 1963: ix). Für Nkrumah sind die Regierungen neokolonial regierter Staaten dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da sie „ihre Autorität zum Regieren von der Unterstützung ihrer neokolonialen Vorgesetzten ableiten. Sie haben daher nur wenig Interesse daran, […] Schritte jedweder Art einzuleiten, die koloniale Handelsbeziehungen herausfordern würden“ (Ibid., S. 1). Wenngleich die Hochphase der Kolonialreiche weltgeschichtlich passé ist, so setzen sich koloniale Beziehungsmuster – mit denselben, klar definierten Gewinner*innen und Verlierer*innen – demnach bis in die Gegenwart fort.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Neokolonialismus galt in akademischen Kreisen lange Zeit als marxistisch und nicht zeitgemäß. Manche assoziierten Neokolonialismus „mit modernen Tyrannen wie Robert Mugabe, die das Konzept in ihren politischen Diskurs eingebunden haben. Und für viele wird es zu Unrecht als dreistes polemisches Mittel angesehen, um den „Westen“ für die anhaltende Misswirtschaft afrikanischer Eliten verantwortlich zu machen“ (Langan 2018, S. 4). Nichtsdestotrotz erscheinen Überlegungen wie die oben dargelegten angesichts der politischen und ökonomischen Realität in weiten Teilen des Erdballs hoch relevant und haben daher in den letzten Jahren zu einem klaren Umschwung beigetragen.

In Anbetracht der Thematik dieses Beitrages1 ist dabei die intellektuelle Arbeit im sogenannten Globalen Süden besonders hervorzuheben: Lange bevor sich kritische Forschende in Universitäten des Globalen Nordens verstärkt post- und dekolonialen Theorien zuwandten, dekonstruierten zahlreiche Denker*innen weit über den afrikanischen Kontext hinaus anhaltende koloniale Kontinuitäten. An dependenztheoretische Arbeiten anknüpfend, ist für Lateinamerika in diesem Zusammenhang insbesondere die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Modernität/Kolonialität« von Bedeutung. Den ihr angehörenden Autor*innen zufolge kann das Phänomen scheinbar universeller Formeln wie »Modernität« und »Fortschritt« nicht „ohne Bezugnahme auf die damit einhergehenden Kolonialität von Macht sowie die Marginalisierung von Kulturen und Wissen subalterner Gruppen“ (Escobar 2008, S. 181) verstanden werden. Das global aktuell dominierende Machtgefüge entsteht dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (2019, S. 1) zufolge aus dem Zusammenspiel von: „1) der Kolonialität der Macht, d. h. die Idee von „Rasse“ als universeller Grundlage sozialer Klassifizierung und Herrschaft; 2) Kapitalismus als universelle[m] Muster sozialer Ausbeutung; 3) dem Staat als universeller, zentraler Kontrollinstanz kollektiver Autorität und dem modernen Nationalstaat als seiner hegemonialen Variante; 4) dem Eurozentrismus als besondere[r] Form der Wissensproduktion.“ Die im lateinamerikanischen Fall zumeist von europäischstämmigen, weißen Eliten vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Mutterländern ist dabei nicht als Bruch zu verstehen, da diese nicht mit einer „Dekolonisierung der Gesellschaft einhergingen (Quijano 2019, S. 34). Stattdessen veränderten diese lediglich die institutionellen Grundlagen, auf Basis derer sich Macht innerhalb und zwischen Staaten ungleich verteilt und Gesellschaften, Wirtschaften und Politik prägt.

Eine Einordnung am Beispiel von »El Cerrejón«

Die konkreten Wirkungsmechanismen und die Auswirkungen dieses Machtgefüges werden mit Blick auf Kolumbiens Kohlesektor im Allgemeinen und den Fall »El Cerrejón« im Besonderen schnell sichtbar. Seit Kolonialtagen ist der Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen eine tragende Säule der kolumbianischen Wirtschaft. Bedingt durch stark ansteigende Weltmarktpreise, nahm der Abbau und die wirtschaftliche Relevanz von Rohstoffexporten Anfang des Jahrtausends weiter zu. Wurden zu Beginn der 1980er Jahre noch weniger als 5 Mio. Tonnen Kohle jährlich abgebaut, so stieg die Fördermenge zwischen 2010 und 2020 auf jährliche 80 bis 91 Mio. Tonnen (Urrego 2021). Der weitaus größte Teil wird dabei in den beiden nördlichen Bundesstaaten La Guajira und Cesar abgebaut, wo ausländische Bergbauunternehmen einige der größten Kohleminen weltweit betreiben und von dort aus in die ganze Welt verschiffen.2 Alle kolumbianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben diese Entwicklung explizit gefördert. So wird in den nationalen Entwicklungsplänen das durch die sogenannte »Bergbau-Energie-Lokomotive« erzielte wirtschaftliche Wachstum und damit einhergehende Staatseinnahmen als zentral für die Reduzierung von Armut und Ungleichheit dargestellt.

Die Lebensrealität vieler Kolumbianer*innen widerspricht dieser Argumentation. Trotz konstantem ökonomischem Wachstum seit 2000 lebt mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Armut, mit stark ansteigender Tendenz und verschärft durch die Effekte der Covid-19-Pandemie. Gerade die Regionen, in denen die meisten natürlichen Reichtümer liegen, sind besonders stark betroffen. Besonders extrem ist die Lage in dem bereits genannten La Guajira, wo 63 % der Bevölkerung in Armut lebt und rund ein Viertel in extremer Armut. Die Lage der indigenen Bevölkerung der Wayúu – die rund 45 % der Bevölkerung La Guajiras ausmacht – ist noch prekärer: Allein zwischen 2010 und 2018 verhungerten ca. 5.000 Kinder unter 5 Jahren, die meisten davon Wayúus (Guerrero 2018). Die an der Grenze zu Venezuela gelegenen Halbinsel La Guajira ist zu 97 % von Wüste bedeckt. Seit 1983 beherbergt sie den größten Kohletagebau Lateinamerikas. Bis zuletzt wurde die gemeinhin nur als »El Cerrejón« bekannte Mine vom schweizerischen Konzern Glencore, dem britischen BHP und dem US-Konzern Anglo American betrieben.3

Die Geschichte El Cerrejóns liest sich bis dato wie eine Chronologie der Gewalt und Straflosigkeit. Mehrere tausend Menschen und Gemeinden wurden aus dem »Kohlekorridor« zwangsumgesiedelt bzw. vertrieben. Den damit einhergehenden Verpflichtungen, beispielsweise für adäquaten Ersatz zu sorgen, kamen weder Betreiber noch staatliche Behörden nach. Während die Mine in einer der trockensten Regionen des Landes täglich 24 Mio. Liter Wasser verbraucht bzw. verschmutzt, wird der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer schwieriger. Trotz gerichtlicher Verbote wurden seit 2016 Teile der letzten für die Bevölkerung noch zugänglichen Wasserzuflüsse zugunsten der Mine umgeleitet. Eine durch den Klimawandel begünstigte Dürre hat die humanitäre Krise in den letzten Jahren weiter verschärft und Befürchtungen eines Ethnozids sowie eines Ökozids an den Wayúus und mehreren afrokolumbianischen Gemeinschaften geweckt. Deren Rechte sind durch die kolumbianische Verfassung und die ILO-Konvention 169 eigentlich besonders gut geschützt, doch wurden diese seit Inbetriebnahme missachtet und entsprechende Gerichtsurteile nicht oder nur stark verzögert umgesetzt. Mittlerweile 14 Gerichtsurteile (Stand: 25. Januar 2022) bestätigen den Betroffenen allesamt, dass u.a. ihre territorialen Rechte, ihr Recht auf Wasser und auf Gesundheit durch El Cerrejón verletzt werden und damit drohen, ihren angestammten Lebensraum unbewohnbar zu machen.

Betroffene und ihre Unterstützer*innen leisten seit Jahren Widerstand. Angesichts miserabler Arbeitsbedingungen solidarisierten sich zuletzt auch Minenarbeiter*innen mit ihnen. Dennoch zieht sich die Kriminalisierung von Protest und Repression wie ein roter Faden durch die Geschichte El Cerrejóns. In Einklang mit Kwame Nkrumahs Befürchtungen, ist das Handeln des kolumbianischen Staates für die Betroffenen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da dieser gemeinsame Sache mit den Betreibern macht. Häufig zeichnen Armee und Polizei für gewaltsame Räumungen und Vertreibungen verantwortlich. Lokale Armeeeinheiten werden durch die Minenbetreiber direkt mit Lebensmitteln und Logistik unterstützt. Anwohner*innen wurden in der Vergangenheit durch den Konzern zudem Subventionen aus staatlichen Kompensationsprogrammen angeboten, der behauptete, diese Mittel stammten aus seinen eigenen Entschädigungszahlungen an den kolumbianischen Staat. Die Vorzugsbehandlung der El Cerrejón-Betreiber durch den Staat wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des australischen Centre for International Corporate Tax Accountability and Research (CICTAR) (2021) belegt, die aufdeckt, dass Glencore in Kolumbien so drastische Steuernachlässe gewährt bekommt, dass das Unternehmen nahezu zum Nulltarif die Reichtümer La Guajiras ausbeuten darf. Gleichzeitig müssen die Anführer*innen der Proteste mit Bedrohungen, Verschwindenlassen oder ihrer gezielten Ermordung rechnen. Oft genug sind dafür direkt Paramilitärs zu verantworten, zu denen sowohl Minenbetreiber als auch der Staat zweifelhafte Kontakte pfleg(t)en.

Fazit

Seit Jahrhunderten bestehende Machtgefälle und „weiße Privilegien“ (Escobar 2008, S. 38) werden im Namen von »Globalisierung« und »Fortschritt« weiter zementiert. Nicht nur in Kolumbien, weltweit wird diese neokoloniale Ordnung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Mitnichten eine veraltete, marxistische Debatte, beeinflussen in der Kolonialzeit entstandene Beziehungsgefüge weiterhin Politik, Wirtschaft und Gesellschaften und konsolidieren die dramatische Ungleichheit zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen dieses globalen Systems. Unwissenheit und/oder Ignoranz kann dieses System durchaus begünstigen, wie das El Cerrejón-Beispiel zeigt. Obwohl die Vorgänge in der Region sehr gut dokumentiert und international bekannt sind, gibt es in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten, wo die zu Strom verarbeitete kolumbianische Kohle verbraucht wird, nur wenig substantiellen öffentlichen Druck, diese Kohle nicht mehr zu importieren. Dies ermöglicht die aktuelle paradoxe Situation, in der in Deutschland im Rahmen der Energiewende möglicherweise der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 durchgesetzt wird, während durch die dadurch steigende Nachfrage nach Kohle in Kolumbien und anderswo mehr Umweltschäden, Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen verursacht werden: „Das ist globale Kolonialität in ihrem unmittelbarsten Sinne“ (Escobar 2008, S. 38).

Anmerkungen

1) Viele der hier zitierten Autor*innen weisen in ihrer Arbeit auch auf die geopolitische Dimension von Wissen und seiner Produktion hin (s. folgender Absatz). Die »Kolonialität des Wissens« drückt sich demnach u. a. darin aus, dass global als relevant betrachtetes Wissen sowie die Art, es zu produzieren, bis heute ausschließlich in Zentren des Weltsystems definiert und hervorgebracht wird, während die Peripherien des Globalen Südens lediglich Forschungsobjekt oder Empfänger*innen von Wissen sind.

2) Ungefähr 95 % der in Kolumbien geförderten Kohle wird exportiert.

3) Seit Januar 2022 ist Glencore der einzige Betreiber.

Literatur

CICTAR (2021) Broke: Coal mining giant games global tax system. 26.10.2021. cictar.org/glencore.

Escobar, A. (2008): Territories of difference: Place, movements, life, redes. Durham/ London: Duke University Press.

Global Witness (2020): Defending tomorrow: The climate crisis and threats against land and environmental defenders. London: Global Witness.

Guerrero, S. (2018): “4.770 niños muertos en La Guajira es una barbarie”: Corte. El Heraldo, 15.10.2018.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. Cham: Palgrave Macmillan.

Nkrumah, K. (1963): Neo-colonialism: The last stage of imperialism. New York: International Publishers.

Quijano, A. (2019): Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. Espacio abierto, Vol. 28, Nr. 1, S. 260-301.

Urrego, A. (2021): Colombia ya es el tercer exportador de carbón coque y metalúrgico a nivel mundial. La República, 26.08.2021.

Verein der Kohlenimporteure (2022): Pressemitteilung 1/2022. Berlin, 14.01.2022.

Theresa Bachmann ist Doktorandin der Friedens- und Konfliktforschung an der University of Kent (GB). Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Räumen der Bürger*innenbeteiligung im Kontext des aktuellen kolumbianischen Friedensprozesses.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 32–34