Der Schaden ist groß!
Frankreichs Außenpolitik unter Chirac
von Harald Bauer
In dem folgenden Artikel wird zunächst die Genese der neuen französischen Testserie untersucht. Wesentlich dabei waren die Interessen der Atomlobby. In einem zweiten Teil soll die Außenpolitik unter Chirac beleuchtet werden. Bereits in der Zeit der zweiten Kohabitationsregierung, mit Premier Balladur, zeichnete sich ab, daß ein stärker nationaler Einschlag zu erwarten war. In der Europapolitik ist eine Annäherung an britische Positionen unverkennbar.
Zuerst war da das Lamento des großen Vorsitzenden »HiroChirac«, wie er vom Satireblatt Canard enchainé getauft wurde, er sei von seinen Beratern nicht auf jenen fatalen 50. Jahrestag des ersten Abwurfs einer Atombombe aufmerksam gemacht worden. Doch da konnte er schon nicht mehr zurück, ohne bereits nach wenigen Monaten Amtszeit politisch erledigt zu sein. Der erste Atomversuch wurde folgerichtig am 6. September gezündet. Der Schaden ist groß. Für alle Beteiligten. Die sich gaullistisch gebende Sturheit, mit der vom neuen Präsidenten die Wiederaufnahme der Atomtests angekündigt und durchgedrückt wurde, schadet in erster Linie Frankreich selber. Sein Ansehen hat gelitten, die Beziehungen zu vielen Staaten sind stark ramponiert, in erster Linie zu den Südseeanrainern. Der wirtschaftliche Boykott trifft die Wirtschaft erheblich, und zwar Gerechte wie Ungerechte, Teilhaber am Atomgeschäft wie einfache Bauern und Winzer.
Aber auch die Beziehungen innerhalb der Europäischen Union werden von Chiracs nationalem Alleingang belastet. Die antiatomare Haltung der nordischen EU-Mitglieder wird auf eine harte Probe gestellt. Das deutsch-französische Verhältnis, durch die gegensätzliche Bosnienpolitik sowieso schon unter Anspannung, gerät durch die Atomtests und den Protest, Boykottaufrufe und wechselseitiges Unverständnis noch weiter unter Druck. In Deutschland erhalten die Kräfte Auftrieb, denen die Frankophilie von je her verdächtig war, in Frankreich diejenigen, die den Boches noch nie trauen wollten. Das Fehlen einer grenzübergreifenden Debatte macht sich ein weiteres Mal fatal bemerkbar.
Die immer stärkeren Hinweise und Angebote von französischer Seite für eine Europäisierung ihrer Atomwaffe helfen ihr auch nicht weiter. Zum einen sind sie nichts neues. Bereits in den 80er Jahren sprach Präsident Mitterrand im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte davon, daß die französische Abschreckung auch die europäischen Partner schütze, in erster Linie die Bundesrepublik. Nur wurde nie präzisiert, wie weit das geht. Dies hängt auch mit der französischen Strategie zusammen. Die will nämlich den potentiellen Gegner bewußt darüber im unklaren lassen, wann er den Einsatz der als letzte Warnung gedachten sogenannten prästrategischen Atomwaffen (die als taktische Atomwaffen anzusehen sind) zu gewärtigen habe. Leider gilt diese Unsicherheit auch für den Verbündeten. Darüber beklagten sich die bundesdeutschen Politiker stets. Sie wollten genauere Informationen über die französische Planung, zumal die Kurzstreckenwaffen »Pluton« und »Hadès« nur bis auf deutsches oder tschechisches Territorium gereicht hätten. Das andere Ziel der Deutschen war, die Franzosen wieder näher an die NATO heranzuführen. Dabei gab es bereits eine doppelte französische Zielplanung: eine rein nationale und eine mit der NATO koordinierte. Das war aber bis 1989 streng geheim.
Die Planlosigkeit in den französischen Europaangeboten ist allein schon Ausweis genug dafür, daß es sich bei dem Nuklearschirmangebot um den Versuch eines Befreiungsschlages und eines Einklagens der EU-Staaten-Solidarität handelt. Zunächst wurde vage vom Beitrag zur europäischen Sicherheit gesprochen, weil diese sonst allein von amerikanischen Waffen abhinge. Europaminister Barnier brachte Mitte August nicht weiter präzisierte Hinweise auf die Verhandlungen zu Maastricht II und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ins Spiel. Anfang September legte Parlamentspräsident Séguin in der Herald Tribune nach. Mit den Staaten des Eurokorps, Belgien, Deutschland und Spanien, könne man über ein neues System nuklearer Garantien reden. Der Planungsprozeß werde den Partnern viel mehr Mitsprache geben als von den USA in der NATO je eingeräumt worden sei. Im Extremfall sei es denkbar, auf den französischen Atom-U-Booten ein System mit zwei Schlüsseln zu installieren. Einen Tag später griff Premier Juppé in das Verwirrspiel ein. Er will den französischen atomaren Schutzschirm mit den Deutschen teilen. Nach einem politisch zielgerichteten Vorgehen sieht das nicht aus.
Testen, weil die Atomlobby es so will
Allem Anschein nach ist Chiracs Gang in die Sackgasse auf den Versuch zurückzuführen, vor der Wahl die Unterstützung der Militärs und der militärischen Atomtechniker der staatlichen Atombehörde CEA zu erhalten. Diese sind sehr einflußreich und wohlorganisiert, ihre führenden Köpfe gehören zu den renommierten Ingenieurkorps aus der Ecole Polytechnique, genau wie ihre Kollegen in den Rüstungsbetrieben. Sie kontrollieren praktisch den gesamten Energiebereich, angefangen von der Atombehörde CEA über die Ölmultis Elf und Total bis hin zu den einschlägigen Abteilungen im Industrieministerium.
An den Atomwaffen und den Trägersystemen hängen aber noch viele weitere, meist staatliche Betriebe wie die Arsenalbetriebe der Rüstungsbehörde DGA, der Luft- und Raumfahrtkonzern Aérospatiale und der Spezialist für Rüstungselektronik Thomson-CSF. Alles in allem einige wichtige zigtausend Stimmen, die wertvoll sind, wenn der Wahlausgang knapp erscheint. Es war klar, daß die Sozialisten am Moratorium festhalten würden und der Gegner aus dem eigenen Lager, Balladur, hatte sich vorsichtig ablehnend geäußert. Deshalb beschloß der Kandidat Chirac, durch die öffentliche Ankündigung, im Falle seiner Wahl die Versuche wieder aufzunehmen, seine Siegeschancen zu erhöhen. Mit zweischneidigem Erfolg.
Die Militärs und die CEA sprachen seit längerem davon, daß sie noch 10 bis 20 Tests benötigten. Das von Mitterrand 1992 verkündete Moratorium war für Roger Baléras, bis 1994 Leiter der DAM, der Abteilung für Atomsprengköpfe der CEA, und seine Kollegen ein »Schock«. Laut einem Sicherheitsexperten formuliert er die Position zum Thema für Chirac. Das geht aus einer Studie US-amerikanischer Atomwaffenspezialisten hervor, die im November 1994 eine Erkundungstour in Frankreich unternahmen. Diese Mission sollte die französische Einschätzung zur Notwendigkeit weiterer Atomtests in Zusammenhang mit einem umfassenden Teststoppabkommen (CTBT, Comprehensive Test Ban Treaty) erkunden.
In den Verhandlungen bestand Frankreich bisher darauf, Tests von 100 bis 200 Tonnen Sprengkraft weiterhin zuzulassen. Das Abkommen soll 1996 unter Dach und Fach gebracht werden. Die Zeit drängt also. Vor allem, wenn man 10 bis 20 Tests für notwendig hält und Mitterrand die Tour vermasselt hat. Die französischen Atomtechniker meinen, sie hätten im Vergleich zu den US-Kollegen sehr viel weniger Erfahrung, Probleme bestünden bei der Mischung der verschiedenen Komponenten unmittelbar vor der Zündung der Sprengköpfe. Die Materialien müßten getestet werden, weil die Sprengköpfe alterten. Französische Sprengköpfe seien nicht robust genug. Darüber hinaus müßten die Sprengköpfe für die neue M-5 Rakete sowie den Marschflugkörper längerer Reichweite ASLP (Air – Sol Longue Portée) erprobt werden.
Später sollen die Tests auf Laser-Fusionsanlagen mit Computerunterstützung simuliert werden, ein entsprechendes Abkommen für den Bau einer geeigneten Anlage wurde bereits zwischen den USA und Frankreich geschlossen. Beim Beschluß, die Atomversuche simulieren zu wollen, stand ein Parlamentsbericht des neogaullistischen Abgeordneten Galy-Dejean aus dem Dezember 1993 zur Computersimulation von Atomversuchen Pate. Er gab die Initialzündung für die Umsetzung der schon bestehenden Pläne der CEA zur Computersimulation. Ein Programm namens PALEN – übersetzt heißt das Vorbereitung auf die Einschränkung von Atomversuchen – wurde gebilligt. In fünf Jahren sollen dafür 10 Mrd. FF, rund 3 Mrd. DM, ausgegeben werden. Die US-Experten kritisieren vehement einige der Annahmen des Berichts. Sie sagen, neue Atomsprengköpfe ließen sich nicht erst nach einigen realen Tests über Simulation weiterentwickeln. Die Betonung der Simulation im Parlamentsbericht sei eine „gefährliche und falsche Auffassung“.
Dennoch werden die USA den Aufbau der Anlage unterstützen. Das setzt eine langjährige Praxis fort. Zwar lehnten die USA zunächst die französische Atombombe ab und behinderten deren Entwicklung. Seit Anfang der 70er Jahre wurde jedoch höchst geheim kooperiert. 1985 und 1989 schloß man dann richtige Abkommen. Daraus erwuchs die 1994 besiegelte Übereinkunft, das US-Know-how von der NIF (National Ignition Facility), vom Lawrence Livermore Labor gebaut, dem französischen Pendant des LMJ (Laser Mega Joule), ebenfalls ein Fusionslaser, in Limeil zugute kommen zu lassen.
Über Zahl und Ziel der letzten Versuchsreihe vor dem Zeitalter der Simulation gibt es die verschiedensten Angaben und Mutmaßungen. Schon die Zahl verblüfft: lediglich acht, wo die Experten doch 10 bis 20 fordern. Und plötzlich sagt ein französischer Minister, vielleicht reichten doch sieben aus. Angeblich kennen nur etwa sieben Eingeweihte alle Einzelheiten des Atomprogramms wirklich. Es wird das Bonmot kolportiert, wer wisse, rede nicht und wer rede, wisse nichts. Die Atomingenieure lassen sich auch von den verantwortlichen Politikern nicht in alle Karten sehen. Einer von ihnen ist Jacques Bouchard, der neue Leiter der DAM. Er sprach über die Ziele der Testserie. Ein Versuch soll danach zum Test des Sprengkopfes TN-75 der M-45 Rakete sein, drei bis vier für nicht weiter spezifizierte andere Sprengköpfe, u.U. für die ASLP, drei weitere zur Vorbereitung der Simulationen und eine für den neuen TN-100 Sprengkopf der M-5 Rakete.
Beide, M-45 und M-5, sind für das Rückgrat der französischen strategischen Atomwaffe, die U-Boote, geplant worden. Sie gehören zum Programm der U-Boote der neuen Generation (SNLE-NG). Das erhielt 1983 die parlamentarische Billigung. Die ASLP soll im Jahr 2010 die ASMP (mittlere Reichweite) ablösen, die ihrerseits freifallende Bomben ersetzte. Sie soll sowohl in 20.000 als auch in ein paar hundert Metern Höhe fliegen können, vom Flugzeug aus gestartet. In französischer Diktion sind das prästrategische Waffen, denn die Strategie kennt keine taktischen Atomwaffen. Schließlich stand am Anfang die Ablehnung des amerikanischen Konzepts der »flexible response«, des Denkens, Konflikte atomar führen und begrenzen zu können. Dennoch wurde auch das französische Konzept in Frage gestellt und harrt, nach 1989, der Überarbeitung.
Die U-Boote sind der Kern des französischen Abschreckungskonzepts des »Schwachen gegen den Starken«. Mit ihnen sollte einem übermächtigen Angreifer, der Sowjetunion, unakzeptabler Schaden zugefügt werden. Bei der Modernisierung ist mit der neuen Generation, nach dem ersten Boot »Le Triomphant« genannt, ein Quantensprung im Arsenal eingeleitet worden. Die alten U-Boote waren von der M-20, ein Sprengkopf von einer Megatonne und 3.000 km Reichweite, auf die M-4, 6 Sprengköpfe à 150 kt und 4.500 km Reichweite, aufgerüstet worden. Pro U-Boot 16 Raketen, bei allen Typen. Die M-45 Raketen des »Le Triomphant«, der im März 1996 in Dienst gestellt wird, haben 6 TN-75-Sprengköpfe, die leichter, für Radar schwerer erfaßbar (furtiver) und penetrationsfähiger sind, mit 5.000 km Reichweite. Für die M-5 sind 8 bis 12 Sprengköpfe pro Rakete vorgesehen, mit 6.000 km Reichweite und weiter verbesserten Penetrationsfähigkeiten. Ein Aufrüstungsprogramm aus dem Kalten Krieg soll hier ungerührt durchgezogen werden. Zwar wird über das Programm M-5 (soll 87 Mrd. FF kosten) erst 1997 endgültig entschieden, doch angesichts der Vorinvestitionen und der Durchsetzungsfähigkeit der Atomlobby ist an der Billigung kaum zu zweifeln.
Die Kosten des gesamten Programms der vier neuen U-Boote, mit M-45 und M-5 Raketen , werden offiziell mit 186 Mrd. FF angegeben. Eine Studie von CDRPC und Greenpeace kommt auf 280,12 Mrd., denn es wurden Kosten für Industrialisierung, wie tiefere Hafenbecken, Infrastruktur, Kommunikationssysteme, Begleitschutz etc. mit einberechnet. Das heißt, neben den 5.700 Arbeitsplätzen der DAM und weiteren Abteilungen der CEA haben Aérospatiale (Raketen), die staatlichen Werften der DCN, Firmen aus den Bereichen Elektronik, Telekommunikation, Maschinenbau und Bauwesen ein Interesse an dem Programm und mit den Ingenieurskorps an ihrer Spitze eine starke und durchsetzungsfähige Lobby.
»Monsieur Ungestüm« und die Außenpolitik
Das Schwanken, gepaart mit einem unüberlegten Ungestüm, sind eine Konstante der politischen Karriere des neuen Präsidenten aller Franzosen. Unvergessen ist beispielsweise die Episode aus den 70er Jahren, als er in seiner Funktion als Premier bei einer Ratssitzung der EU im Konflikt mit Frau Thatcher auf seine Genitalien zu sprechen kam. Ähnlich Drastisches wird sich wohl kaum wiederholen, doch auf manchen Gemütsausbruch kann man sich schon einrichten.
Der jüngste Wahlkampf sah nicht zum ersten Mal einen neuen Jacques Chirac. Um sich von seinem (mittlerweile ex-) Freund Edouard Balladur abzusetzen, griff der Kandidat Chirac tief in die Kiste des Gaullismus und holte dessen sozialverantwortliche Seite hervor. Er gab sich einen linksgaullistisch-populistischen Anstrich. Arbeitsplätze und deren Schaffung, der soziale Ausschluß wurden seine Themen. Der Technokratie erklärte er den Kampf – obwohl er selbst als »ENArch« zum Herzen der technokratischen Elite gehört und auch sein neuer Premier Juppé, zusätzlich zum ENA-Abschluß, mit der Agrégation der Ecole Normale Supérieure zu den Geistesgrößen des Landes zählt.
In den politischen Maximen ist das alte Schwanken deutlich zu erkennen. Als Beispiel können Wirtschafts- und Finanz- sowie Europapolitik gelten. Während des Wahlkampfes hat Chirac Versprechen gegenüber den sozial Schwachen abgegeben, die sich auf viele Milliarden Franc belaufen. Beschäftigungsplan (contrat initiative emploi) inklusive Senkung der Sozialabgaben, Lohnerhöhungen (Mindestlohn), Absicherung des Sozialsystems (la sécu, wie die Krankenkasse, Alterssicherung und Arbeitsamt umfassende französische Organisation genannt wird), neue Formen der Altersvorsorge und Bau von Sozialwohnungen für die »exclus« (Ausgeschlossenen). Gleichzeitig will Chirac die Defizite erheblich reduzieren, z.B. die Schulden der »sécu« nicht einfach à la Balladur der Staatsschuld zuschlagen, die Erlöse der Privatisierung für den Schuldenabbau nutzen, und nicht für die Haushaltsfinanzierung. Die Kriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion sollen erfüllt werden. Gleichzeitig soll »in den Grenzen von Maastricht« eine größere Marge für unabhängigere Politik gesucht werden – letztendlich unabhängig von der Politik der Bundesbank. Aber andererseits soll die junge Unabhängigkeit der Banque de France auch nicht angetastet werden. In der Wirtschaftspolitik gilt weiter das liberale Credo, das die Kräfte durch Überschuldung und Bürokratie gehemmt sieht. Außerdem, wir erinnern uns, soll die unpersönliche Technokratie umgewandelt werden.
Frankreich nähert sich britischen Europapositionen an
In der Europapolitik lassen sich die Widersprüche Chiracs sogar personifizieren. Er hat zwei Ratgeber, den Antieuropäer und Parlamentspräsidenten aus den Vogesen Philippe Séguin und den gemäßigten Proeuropäer Alain Juppé, Premier, Bürgermeister von Bordeaux und Vorsitzender der RPR. Beide rivalisieren überdies um die Nachfolge Chiracs nach der Jahrtausendwende. Im Verlauf des Wahlkampfes hielt Chirac eine neue Volksabstimmung über den Eintritt in die dritte Stufe der WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) für eine gute Idee. Nach unvorteilhaftem Echo nahm er wieder Abstand davon. Das Bemühen um mehr Abstand von »Maastricht«, um einen größeren nationalen Spielraum, ist unverkennbar. In der Finanzpolitik wollte noch jede neue Regierung in Frankreich in den letzten 15 Jahren mehr Spielraum erkämpfen, um nach kurzer Zeit vor der Übermacht der Finanzmärkte und der Bundesbank zu kapitulieren. Bleibt abzuwarten, wie sich die erste Regierung unter Chirac aus der Affäre zieht.
Doch auch in der sonstigen Europapolitik zeichnet sich ein Wandel ab. Als Außenminister hatte Juppé, als Proeuropäer bezeichnet, immer mehr Sympathie für britische Positionen erkennen lassen. Als ersten außenpolitischen Akt nach der Amtsübernahme traf sich Chirac mit Kanzler Kohl in Straßburg, um ihm die Kontinuität der deutsch-französischen Beziehungen und der französischen Europapolitik zu versichern. Das hinderte ihn aber nicht, eine weitere Annäherung an britische Positionen zu konstatieren. Frankreichs Europapolitik werde sich, so ist zu hören, auf eine Mittlerfunktion zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik zu bewegen. Unverkennbar hat die Stärkung der nationalen Parlamente bei der Kontrolle der Kommission in Brüssel und die Konzentration auf den intergouvernementalen Bereich der Zusammenarbeit Priorität in der zukünftigen französischen Europapolitik. Nicht das Europäische Parlament ist in dieser Sicht der Ort der parlamentarischen Überwachung der Politik der Union, sondern das nationale Parlament. Nicht die Entwicklung der Union in Richtung auf mehr Supranationalität ist gewollt, sondern die Stärkung der Rolle der nationalen Regierungen im Rahmen der Kooperation der 15 Mitgliedstaaten. Auch ist zunehmender Widerstand gegen das »Einheitsdenken« (la pensée unique) – Credo der französischen Europapolitik der letzten zwölf Jahre – zu konstatieren. Die Betonung der Währungsstabilität und die Finanzpolitik in der Nachfolge der Bundesbank, die damit gemeint sind, werden von Parlamentspräsident Séguin und dem Unternehmer mit Schnellschreiberqualitäten Alain Minc in einem neuen Buch kritisiert. Das heißt in letzter Konsequenz, die Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage zu stellen. Für die Kommission und die Befürworter einer weiteren Vergemeinschaftung von Politikfeldern brechen harte Zeiten an. Das gilt um so mehr, wenn es den britischen »Euroskeptikern« eines Tages doch noch gelingen sollte, Premier Major zu stürzen.
Gegensätzliche Vorstellungen in den deutsch-französischen Beziehungen
Aber auch im deutsch-französischen Verhältnis werden die Probleme eher zunehmen. Denn die verkündete Politik Kanzler Kohls und die außenpolitischen Papiere der CDU besagen so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was die Tendenzen der französischen Europapolitik ankündigen. Einen europäischen Bundesstaat will man, ein immer engeres Zusammenwachsen der Gemeinschaft und die Vergemeinschaftung weiterer Politikfelder, inklusive der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik). Allein schon bei der Frage der weiteren Ausdehnung der Union stehen sich die Interessen der Regierungen diametral entgegen. Die jüngste Erweiterung erbrachte eine in französischer Sicht schmerzliche Verschiebung des Schwerpunktes nach Norden. Die Union ist »erblondet«. Die Aufnahme der Länder Mittel- und Osteuropas, die dem deutschen Einflußbereich zugerechnet werden, ist da ohne Ausgleich im Süden nicht akzeptabel. Eine Debatte um eine mögliche gemeinsame Politik im Osten wie im Süden gibt es nicht. Bisher sind, wie zuletzt beim Gipfel in Essen, die Interessen nur frontal aufeinandergestoßen. Geld für Osteuropa gibt es nur bei einem Ausgleich für den Mittelmeerraum. Dieses Gebiet ist in deutschen Augen Sache der Franzosen.
Die aus der französischen Not geborene Debatte um eine atomare Garantie Frankreichs für Deutschland, die Union oder auch nur Teile von ihnen wird wenig dazu beitragen, die politische Lage zu beruhigen. Zum einen ist, so bei Séguin, die alte Richtung solcher Vorstöße in den 60er und späteren Jahren erkennbar, die USA beiseite zu drängen und zu ersetzen. Unter solchen Umständen hat sich bundesrepublikanische Politik noch stets für die Seite der USA entschieden. Darüber hinaus weiß ja auch die französische Seite nicht so recht, was man denn genau anbieten will. Auf der anderen Seite wissen die politischen Strategen von CDU/CSU, FDP und SPD ebenfalls nicht genau, was sie von französischen Politikern und ihrer Force de Frappe erwarten sollen. Früher überwog das Interesse an Information, Einbindung und Selbstschutz, man wollte im Kriegsfall nicht zusätzlich französische Sprengköpfe abbekommen. Jetzt gibt es ein vages Interesse an die Einbindung in eine zukünftige Gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Einem Herrn Rühe und einem Herrn Lamers (CDU) könnte Außenpolitik mit Rückendeckung französischer Atomwaffen eher zusagen. Dabei muß ihnen klar sein, daß die letzte Entscheidung über den Einsatz stets beim französischen Präsidenten läge und bliebe. An einen zukünftigen Präsidenten der Union als oberstem politischen Machthaber glaubt wohl niemand. Aber nur einem solchen würde Frankreich den Oberbefehl über die Atomwaffen übergeben, jedenfalls nach bisherigen Aussagen.
Bei so vielen offenen und nicht einmal andiskutierten Fragen wird das Vorgehen der französischen Regierung eher die Konfusion weiter steigern und den Widerstand gegen eine Europäisierung ihrer Atomwaffen anstacheln. Bei den nordischen Mitgliedstaaten, Österreich und Irland ist jedenfalls wenig Verständnis zu erwarten. Damit soll nicht gesagt werden, es gebe keine Risiken hinsichtlich einer Europäisierung französischer und britischer Atomwaffen. Doch das chaotische Vorgehen der Politiker eröffnet alle Möglichkeiten, dagegen vorzusorgen.
Harald Bauer ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied des Institutes für Internationale Politik (Berlin).