Der Schutz des Zivilen?
von Wolfgang Send
„Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“ (Shakespeare, Hamlet) Nicht frei von tiefer Sorge kann eine Bestandsaufnahme sein, die sich vor dem Hintergrund des Entwurfs zu einem neuen Zivilschutzgesetz um absehbare Entwicklungen Gedanken machen will. Aber auch bittere Erinnerungen aus der Geschichte müssen auftauchen, wenn eine Bundesregierung unter dem Motto „Zivilschutz ist Friedensdienst und kein Akt der Kriegsvorbereitung“ glauben machen machte, daß zivile Techniken aus dem Gesamtrahmen der Politik herausgelöst und isoliert bewertet werden können.
Nichts belegt einen solchen untauglichen Versuch besser als ein unlängst erschienenes Buch von Raul Hilberg: „Sonderzüge nach Auschwitz“. Dieser im Dumjahn-Verlag im letzten Jahr erschienene Dokument zur deutschen Eisenbahngeschichte ist Mahnung und Warnung an jeden Deutschen, auf der Hut zu sein vor Leuten, die von Pflichtbewußtsein und wertneutralen Aufgaben des Staates reden. In diesem Sinne ist auch militärische und zivile Verteidigung nicht an sich gut oder verwerflich, sondern ihre ethische Bewertung richtet sich nach dem Bewußtsein und dem politischen Handeln der Verantwortlichen, die die für diese Aufgaben geschaffenen Institutionen mit Geist und Leben erfüllen. Es sind wir Bürger unseres Staates, die wir jeder an seiner Stelle den Maßstab anlegen und beurteilen müssen.
Um was geht es im einzelnen? Die Bundesregierung plant die Novellierung des Zivilschutzgesetzes, wobei eine Reihe von bereits bestehenden Gesetzen und Verordnungen in einem Gesetz zusammengefaßt werden soll. Allerdings enthält der Entwurf einige Neuerungen, die auf erhebliche Kritik gestoßen sind. Eine Übersicht über das Gesetz mit der Heraushebung der markanten Kritikpunkte sei kurz vorangestellt:
Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes (EZSG) Grundlagen des Zivilschutzes
Schutzmaßnahmen
- Warnung vor Gefahren
- Selbstschutz
- Bau und Betrieb von Schutzräumen
- Aufenthaltsregelung
§ 17 Bestimmung des Aufenthaltsortes
§ 18 Evakuierung im Spannungs und Verteidigungsfall
3. Hilfeleistung durch den erweiterten Katastrophenschutz
4. Maßnahmen im Gesundheitswesen
5. Dienst im Zivilschutz, Ausbildung und Ausstattung
§ 38 Heranziehung im Spannungs- und Verteidigungsfall
6. Durchführung des Zivilschutzes
7. Übergangs- und Schloßvorschriften.
Kopfschütteln befällt einen, wenn man nach langen Jahren der Tätigkeit im Zivil- und Katastrophenschutz die weit verbreitete Ahnungslosigkeit sieht, mit der ein nach Umfragen nicht unerheblicher Teil der Öffentlichkeit sich an die Hoffnung auf Sicherheit durch Schutzbauten klammert. Die Zeiten sind vorbei, als vor Bombern aus England mit Zielrichtung Ruhrgebiet noch so rechtzeitig gewarnt werden konnte, daß ein Aufsuchen von Schutzräumen noch möglich war und Erfolge zeitigte. Auf perfide Weise wird das Gesetz der Wahrscheinlichkeit mißbraucht, um der Bevölkerung das Gefühl trügerischer Sicherheit durch Schutzraumbau zu vermitteln. Das Vertrauen mißbrauchend ist die Art der Aufklärung deswegen, weil sie verschweigt, daß der Schutz eben immer an die notwendige Entfernung von Kampfhandlungen gebunden ist. Dort, wo die Bombe fällt, hilft auch der Schutzraum nicht, was allerdings auch schon im Zweiten Weltkrieg bisweilen eintrat: die Bunker in den großen Städten waren voller Leichen, wo Sauerstoffmangel und hohe Außentemperaturen sie zu Menschenfallen machten. Eine Mittelklassebombe mit der Ausbeute von einer Million Tonnen Sprengkraft TNT macht Hamburg, Frankfurt oder München nicht mehr allein zu einem Feuermeer, sie löscht die Städte aus. In der Summe und als Staatsziel mag Bunkerbau je nach Umfang der Kampfhandlungen den Unterschied zwischen dem totalen Zusammenbruch und Untergang oder einem mühsamen Wiederaufbau in einer trostlosen Welt ausmachen. Welches groteske Mißverständnis von Demokratie aber ist es, eine Entscheidung von so epochaler und vielleicht globaler Tragweite, wie sie der Einsatz von Atomwaffen darstellt überhaupt noch zum Katalog rechtsstaatlichen Handelns zu zählen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. „Sie zu wahren und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Vor allem aber müßte es Aufgabe eines Zivilschutzgesetzes sein, die Prinzipien des humanitären Völkerrechts mit aller Entschlossenheit gegenüber Bedenken von Militärstrategen durchzusetzen und gesetzlich zu verankern. Nichts dergleichen geschieht; nicht einmal die Zusatzprotokolle von 1977 zur IV. Genfer Konvention von 1949 sind bisher vom Parlament ratifiziert worden - ein beschämendes Zeichen für ein Land, das soviel Unglück in die Welt gebracht hat. Diese Zusatzprotokolle sind ein Meilenstein in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, und sie verdienen die volle Aufmerksamkeit aller, die nach rechtsstaatlichen Hebeln suchen, um eine sich wie ein Krebsgeschwür immer tiefer in die Gesellschaft hineinfressende und ausufernde Verteidigungsplanung auf Ziele und Inhalte korrigieren zu können.
Die konzentrierten Luftangriffe auf deutsche Großstädte im Zweiten Weltkrieg waren aus militärischer Sicht das Ärgste, was man seinem Feind antun konnte. Eine Waffentechnik hat seither Fortschritte gemacht, die in Hiroshima und Nagasaki noch in den „Kinderschuhen“ steckte. In welchem Kriegsbild mit den Waffen von gestern und vorgestern sollen denn Luftangriffe auf deutsche Großstädte stattfinden, so daß die Bevölkerung noch Zeit hat, in nennenswertem Umfang Schutzräume aufzusuchen, die dann auch noch ausreichend Schutz bieten sollen? Es geht ja auch nicht um irgendwelche Bunker oder besser Schutzräume, die vielleicht gerade noch dem Trümmerkegel des eigenen Hauses standhalten. Nein - die sogenannten Mehrzweckbauten in den großen Städten, die so manche Stadtväter in der Entscheidung zwischen einer Tiefgarage mit Atomwaffenschutz oder überhaupt keiner angesichts leerer Stadtsäckel haben mit Bundeshilfe erbauen lassen, sollen für das Ärgste ausgelegt sein, was der Feind uns heute antun kann. Möge nie die Gelegenheit kommen, die Probe auf's Exempel machen zu müssen, um die Bunkerbauer widerlegt zu sehen. Die Bundesrepublik ist auch nicht irgendein Land, dessen Regierung mit welcher Aussicht auf Erfolg auch immer die Bevölkerung nach bestem Wissen und Gewissen vor den Torheiten seines Nachbarn schützen möchte. Vieles spricht dafür, daß zumindest die Bundesrepublik in jedem zukünftigen Krieg in Mitteleuropa mit ihrem ganzen Territorium Zentrum der Kampfhandlungen sein und folglich kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Keine politische Handlung ist frei von Mißdeutungen, und letztlich ist der bekundete Wille, welchen Zielen eine politische Handlung dienen soll, Maßstab der Bewertung. In diesem Sinne wird man auch der gegenwärtigen Bundesregierung mangelnden Friedenswillen nicht vorwerfen wollen. Daß wir aber unser Land immer voller stopfen lassen mit Atomwaffen, sie selbst als Option der Kriegsführung für unverzichtbar halten, erst dies macht unsere militärischen Planer zu potentiellen Völkermördern und verkehrt ein humanitäres Anliegen zum perversen Zweckbündnis mit politischen Vabanquespielern.
Es kann nicht unsere Aufgabe als Deutsche sein, die wir zweimal in diesem Jahrhundert auf russischem Boden gestanden haben, uns in maßloser Überhöhung unserer eigenen Bedrohung durch die heutige Sowjetunion zum willfährigen Schießplatzwart unseres Verbündeten USA zu machen.
Gerade gegenüber der Sowjetunion haben wir noch die moralische Pflicht uns den militärischen Konsequenzen blinder Abneigung zwischen den beiden großen Mächten zur Wehr setzen. Es sollte den Gegnern jeder Art von Zivilschutz allerdings auch des Nachdenkens wert sein, daß Zivilschutz mit einer überzeugenden Friedenspolitik keineswegs als Bedrohung empfunden werden muß, wie dies das Beispiel neutraler Länder um uns herum zeigt. Es kommt wohl wirklich auf den bekundeten politischen Willen an.
Wenn bei uns jemals zivile und militärische Verteidigung zu einem ausgewogenen Verhältnis zueinander kommen sollten, wie es die Parteiprogramme aller großen Parteien in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten fordern, dann wird sich in der Verteidigungspolitik unseres Landes einiges ändern müssen. Ein „Ermächtigungsgesetz für den Innenminister“ nannte der Geschäftsführer des Deutschen Feuerwehrverbandes, Reinhard Voßmeier den Entwurf des neuen Zivilschutzgesetzes. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn- Wittgenstein, sieht existentielle Grundsätze seiner Organisation, insbesondere den Grundsatz der Freiwilligkeit berührt. Der Gesetzentwurf werde dem Auftrag nicht gerecht, die Gesamtsituation des Zivilschutzes in der Bundesrepublik entscheidend zu verbessern. Darüber hinaus lasse der Entwurf wichtige humanitäre völkerrechtliche Regelungen der Genfer Rotkreuz- Abkommen unberücksichtigt, und er stellt fest: Bei wirklichkeitsnaher Betrachtung einer möglichen Konfliktsituation wird davon auszugehen sein, daß breitgefächerte, zentral gelenkte Zivilschutzmaßnahmen in aller Regel nicht wirksam werden können, sondern daß jede Stadt und jedes Dorf auf sich selbst gestellt sein wird.
Wozu, so muß man sich fragen, dient also ein Gesetzentwurf, der von allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen - nicht nur den beiden erwähnten - mehr oder weniger stark abgelehnt wird, da er die eigentlichen humanitären Anliegen gar nicht im Auge hat? Der Gedanke ist naheliegend, daß er Ausfluß von militärstrategischen Neuorientierungen innerhalb des NATO-Bündnisses ist. Dafür spricht, daß die angekündigte Gesetzesvorlage zur Ratifizierung der erwähnten Zusatzprotokolle mit dem ausdrücklichen Vorbehalt erfolgen soll, daß Atomwaffen nicht zu den unterschiedslos wirkenden und somit verbotenen Waffen gezählt werden, wie Staatsminister Dr. Alois Mertes in einem Interview kürzlich zu verstehen gab.
Sichert also das Gesetz den Schutz des Zivilen? - Leider tut es dies nicht.
Dr. rer. nat. Wolfgang Send, Greitweg 48 a, 3400 Göttingen. Der Autor ist nebenamtlicher Leiter der Einsatzeinheiten des Technischen Hilfswerks (THW) in Göttingen und gehört dem Katastrophenabwehrstab der Stadt Göttingen an. Hauptberuflich ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) im Forschungszentrum Göttingen.