W&F 2001/1

Der Traum von der Unverwundbarkeit

von Paul Schäfer

Wie sich die Zeiten ändern. Früher galt die Bundeswehr als Kriegsverhinderungsarmee – heute ist sie nach Scharping, Kujat und Angelika Beer eine Einsatzarmee.

Die alte Bundesrepublik hielt sich die Kultur (militärpolitischer) Zurückhaltung zugute – heute sind wir in Sachen Interventionsfähigkeit „in der Nato (…) auf der Überholspur“, wie der Inspekteur des Heeres schwärmerisch zu berichten weiß. Für die neue Eingreiftruppe der Europäischen Union stellt Deutschland das größte Kontingent, insgesamt mehr als ein Fünftel der Truppe.

Früher wollte ein konservativer Bundeskanzler „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ – heute werden militärische Beschaffungsprogramme im Umfang von weit über 200 Milliarden DM für die nächsten fünfzehn Jahre aufgelegt.

Nach der Kosovo-Kriegsbeteiligung, die der Bundesrepublik Deutschland einen deutlichen Zugewinn an Macht und Einfluss gebracht hat, sprießen die außenpolitischen Gestaltungsfantasien der Eliten hierzulande immer üppiger. Von wegen Begrenzung auf Europa. Minister Scharping hat auf dem Bundeswehr-Forum der Welt am Sonntag (September 2000) im militärtypischen Verschleierungsjargon formuliert: „Ob der Nahe und Mittlere Osten, der Kaspische Raum, Süd- oder Ostasien oder das von Kriegen und humanitären Katastrophen geschüttelte Afrika – gewaltige Instabilitäten gefährden die regionale, aber auch globale Sicherheit. Unsere politischen und sicherheitspolitischen Ressourcen müssen wir auch an anderen Stellen dieser Welt in regionalpolitische Lösungsansätze einbringen.“

Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei voll im Trend. Die Bevorzugung einer auf militärische Macht gestützten Außenpolitik ist allenthalben unverkennbar. Während die Bewältigung der Umweltkrisen auf der Stelle tritt, die Armutsbekämpfung nicht richtig vorankommt, sind Erfolgsmeldungen über den Ausbau der »sicherheitspolitischen Ressourcen« an der Tagesordnung. Die NATO verfolgt energisch ein weitreichendes Rüstungsmodernisierungsprogramm (Defense Capability Initiative) und die EU hat gerade die Einzelheiten für die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe beschlossen.

Dabei sieht sich der frühere Hauptfeind gerade genötigt, die Armee um weitere 600.000 Angehörige zu verkleinern. Zur Verteidigung wird die von der Bundesregierung vorgesehene 280.000 Mann/Frau-Armee nicht mehr benötigt.

Die Dekade der blutigen Balkankriege scheint vorbei. Die Quasi-Protektorate der NATO in Südosteuropa indes müssen aufrechterhalten bleiben. Ist das das Modell »Zukunft« auch für andere Regionen?

Die auf militärische »Machtprojektion« verengte Sicherheitspolitik bringt alles andere als Stabilität. Ressourcen werden gebunden, die für die wirkliche, sprich ökonomische, öko-logische, gesellschaftliche Stabilisierung der Konfliktregionen dringend gebraucht würden. Die »subalternen« Länder des Südens werden die Ungleichgewichte korrigieren wollen – indem sie mit gleicher Münze heimzahlen und sich militärisch wappnen. Dies wiederum wird als Bedrohung in den Industriemetropolen empfunden. Der klassische Fall einer Rüstungsspirale.

Wer in der Logik militärischer Abschreckung befangen ist, wird immer dafür sorgen wollen, eine möglichst große Überlegenheit zu erringen. »Eskalationsdominanz« soll ein Optimum eigener Handlungsfreiheit sichern. Das US-amerikanische Projekt einer Nationalen Raketenabwehr folgt dieser Logik: sich einen Schutzschild zulegen, um unbegrenzt schlagen zu können. Die genuin US-amerikanischen Konnotationen – der Traum von der Unverwundbarkeit nach dem Trauma von Pearl Harbour – sind das eine, die militärstrategischen Voraussetzungen das andere. Und in diesem Fall gehören National Missile Defense und Theater Missile Defense zusammen. Die Raketenabwehr auf dem Kriegsschauplatz soll den möglichst reibungslosen Einsatz der NATO/EU-Interventionstruppen garantieren: Unverwundbarkeit »im Konkreten«, die ebenfalls die Hemmschwelle für den Einsatz militärischer Gewalt senkt.

Dabei erscheint die nationale Raketenabwehr der USA um einiges gefährlicher, weil sie zu weltpolitischen Verwerfungen und Konfrontationen führen kann, deren Ausgang unwägbar scheint. Natürlich können China und Russland der Entwertung ihrer Nukleararsenale nicht tatenlos zusehen. Sie werden ihre Sprengköpfe aufstocken. Wenn die allgemeine Atomabrüstung auf den St. Nimmerleinstag verschoben wird, werden auch die de-facto-Atommächte Indien und Pakistan ihre Zurückhaltung aufgeben. Die Folgen wären alles andere als beruhigend.

Sich gegen die Pläne einer US-Raketenabwehr zur Wehr zu setzen, wird jetzt eine vorrangige Aufgabe. Zugleich sollten wir nicht die Raketenabwehrprogramme im Rahmen der NATO, wie MEADS, aus den Augen verlieren. Auch hier gilt es NEIN zu sagen!

Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/1 Von SDI zu NMD, Seite