Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach
von Jost Dülffer
Die zeithistorischen Gedenkjahre häufen sich in diesem Jahr – 1939, 1949 und 1989; Versailles 1919 blieb im Hintergrund. Das öffnet jedem Datum nur begrenzte Fenster der medialen Aufmerksamkeit, regt jedoch Verknüpfungen an. Es hätte nahe gelegen, die Spaltung in zwei deutsche Staaten 1949 als Folge von 1939 anzusehen, doch das unterblieb weitgehend.
Die Erinnerungskonkurrenz gab dennoch dem 1.9.1939 kurzzeitig breiten Raum. Eindrucksvoll im Vorfeld war eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, »Deutsche und Polen. Abgründe und Hoffnungen«, die die »schwierige Geschichte« der beiden Nationen über die letzten 200 Jahre thematisierte, mit dem Zweiten Weltkrieg und den Folgen des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, aber differenziert das Spannungsverhältnis des Untertitels unterstrich.
Ein solcher Akkord wurde durchweg angeschlagen. Die großen Zeitungen, Rundfunkanstalten und Fernsehen widmeten dem Thema Gedenkartikel und Kommentare. Es waren nicht nur die relativ kleinen Einsatzgruppen von SD und SS, welche gleich zu Beginn des Krieges im September 1939 vorbereitete Mordaktionen starteten. Es war auch nicht erst die Besatzungspolitik in den offiziell annektierten Reichsgauen und dem Generalgouvernement: mit dem deutschen Überfall fingen Tötungsaktionen aller deutschen Behörden, auch der Wehrmacht, an. Sie trafen von den ersten Tagen an Juden und die polnische Intelligenz. Diese Sachverhalte hatte erst vor wenigen Jahren Jochen Böhler mit »Auftakt zum Vernichtungskrieg« thematisiert, jetzt konnte er dazu auch einen populären Band »Der Überfall« vorlegen. Das wurde der meist gebrauchte Terminus. Alle Ansätze, auch polnische Politik wegen eines sicher wenig glücklichen, da die eigenen Kräfte stark überschätzenden Auftretens mit verantwortlich zu machen, unterblieben in diesem Jahr. Die »Entfesselung« (so Walther Hofer schon 1954) eines Krieges, auf den die deutsche Politik hin gearbeitet hatte, blieb die zutreffende Einschätzung.
Konnte man vor einem Jahrzehnt noch annehmen, eine gemeinsame deutsch-polnische Erinnerung sei vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen nun auch für die Erinnerung an Flucht und Vertreibung danach möglich, so wurden durch das Bestreben nach einem europäischen Zentrum gegen Vertreibungen durch die Vertriebenen einerseits, durch eine stark von Ängsten vor Deutschland und dessen Rolle in der EU bestimmte Politik der Brüder Kaczynski andererseits die deutschen Verbrechen wieder direkte Fragen der Gegenwart.
Das änderte sich mit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Donald Tusk vor zwei Jahren. So sind wir dennoch wieder bei 1939 angelangt und der Rückblick lohnte sich. Die Gedenkfeier in Danzig auf der Westerplatte am 1.9.2009 wurde zum zentralen Erinnerungspunkt und -ort. Tusk legte an diesem Tag den Grundstein zu einem Museum des Zweiten Weltkrieges, ohne dass das deutsche Vertreibungsthema zur Sprache kam. Vielmehr traf die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrem Eingangssatz in Danzig auch die europäische Stimmung: „Heute vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen das tragischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.“ Sie gedachte auch des Leids der Juden, Widerstandskämpfer, der 60 Millionen Toten des Weltkrieges und erntete damit auch bei uns Zustimmung. Mir ist keine politische oder historische Stimme bekannt geworden, die das anders oder gegensätzlich gesagt hätte.
Die Gedenkstunde geriet insgesamt zu einer historisch rückblickenden europäischen Feier, auf der neben drei Polen in unterschiedlichen Ämtern auch der französische und schwedische Ministerpräsident sprachen. Durch Pressepolemik zuvor belastet trat auch Wladimir Putin auf und erinnerte immerhin auch an den Hitler-Stalin-Pakt und die Ermordung polnischer Offiziere 1940 bei Katýn. Das war vielen Polen zu wenig, da ja auch die ganze Nachkriegsgeschichte Polens als sowjetische Unterdrückung erinnert wurde; hier stellt man den 17. September 1939, als die Rote Armee arbeitsteilig mit der Wehrmacht in Ostpolen mit Folgen bis heute einmarschierte, gern an die Seite des 1. September; angesichts russischen Geschichtsrevisionismus in der Gegenwart war dies jedoch viel.
Eine bemerkenswerte Einordnung des 1.9.1939 nahm Putin bereits zuvor in einer polnischen Zeitung und später nochmals vor: der Versailler Vertrag sei an allem Schuld, er habe durch die „Demütigung einer großen Nation“ den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt, der deren Weg aus der Staatengesellschaft heraus bestimmte und die Sowjetunion zum Pakt mit Hitler gleichsam zwang. „Demütigung einer großen Nation“: Das zielt auch auf die russische Gegenwart. Zugleich knüpfte er damit an einen üblen, bis in die Gegenwart bei uns wirkenden Geschichtsmythos an: die Deutschen hätten ja nur bedingt Schuld an Hitler und seinen Folgen, die Alliierten hätten mit dem 1919 als unannehmbar gesehenen Frieden die weitere Entwicklung programmiert. Dabei hatte das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verloren und die Politiker stilisierten diesen Vorgang in kollektiver Realitätsverweigerung nur zur schlimmen Demütigung um.
Mit dem 1. September begann in Europa der Zweite Weltkrieg, der in unserer aller Köpfe in seinen Folgen noch längst nicht abgeschlossen ist – oder doch sein sollte. »Danzig 1939« folgt jedoch nicht aus »Versailles 1919«.
Dr. Jost Dülffer ist emerierter Professor für Neuere Geschichte