• Archiv
  • Alle Ausgaben
  • 1987/3
  • Artikel: Deutsche Blockaden. Die Pershing Ia und die „Doppelte Null-Lösung“
W&F 1987/3

Deutsche Blockaden. Die Pershing Ia und die „Doppelte Null-Lösung“

von Dietrich Schulze-Marmeling

Blockiert das bundesrepublikanische Beharren auf Beibehaltung der Pershing Ia Option ein Abkommen über die Abrüstung landgestützter Nuklearwaffen der Reichweiten 500 bis 1.000 bzw. 1.000 bis 5.000 km (sogenannte „doppelte Null-Lösung“)? Jedenfalls hat die Sowjetunion wiederholt kundgetan, daß sie die westliche Interpretation – wonach es sich bei der Pershing Ia um ein „Drittstaaten-System“ handelt, das von einer sowjetisch-amerikanischen Vereinbarung ausgespart bleiben müsse – nicht akzeptiert.

Doch zunächst zu dem System – als Stein des Anstoßes – selbst: Die Pershing Ia wurde 1962 eingeführt. Ihre Reichweite wird gemeinhin mit 720 km angegeben (andere Quellen sprechen auch schon mal von 750 oder 780 km, was indes am Charakter der Waffe wenig ändert). Damit taugt sie zum Angriff gegen militärische Ziele in der Tiefe des gegnerischen Raumes („deep Strike“) – d.h. zur Ausschaltung zentraler Flughäfen und zur Unterbrechung des sowjetischen Nachschubs an Engpässen (Brücken etc.). Diese Fähigkeit und Zweckbestimmung begründet die ständige Alarmbereitschaft, in der sich das System befindet.

Im Zusammenhang mit der Stationierung der Pershing II, die im Gegensatz zur Pershing Ia auch Ziele in den drei westlichen Militärbezirken der Sowjetunion abdecken kann, haben die USA ihre 108 Pershing Ia Systeme aus der BRD abgezogen. Es verblieben auf bundesrepublikanischem Territorium 72 Ausgaben dieser Waffe, deren Trägersysteme der Bundesluftwaffe zugeordnet sind (sich somit in deutscher Hand befinden), während der atomare Sprengkopf unter US-Verschluß verbleibt (andere Quellen geben die Zahl der noch existierenden Pershing Ia Systeme allerdings mit 126 an, was bedeuten würde, daß ein vollständiger Abzug der amerikanischen Systeme noch nicht erfolgt ist).

Nach den bisherigen Planungen der NATO soll die Pershing Ia, an die sich die BRD nun so klammert, 1991 außer Dienst gestellt werden, da dann die Ersatzteilbevorratung endet. Allerdings keineswegs ersatzlos: Noch zur Amtszeit der sozialliberalen Koalition wurde beschlossen, die auszumusternden Pershing Ia Systeme durch eine entsprechende Anzahl von Pershing Ib Raketen zu ersetzen. Bei der Pershing Ib handelt es sich um eine „gekürzte“ Ausgabe der LRTNF (= Long Range Theater Nuclear Force)-Waffe Pershing II, deren Reichweite unter 1.000 km (und über der der Pershing Ia) liegt und die somit in die Kategorie der MRTNF (= Medium Range Theater Nuclear Forces)-Waffen bzw. unter die „zweite Null-Lösung“ (500 bis 1.000 km Reichweite) fällt. Zudem verfügt die Pershing Ib über eine höhere Zielgenauigkeit als ihre Vorgängerin. Abgesehen davon, daß dies nicht Abrüstung, sondern vielmehr Umrüstung und qualitative Aufrüstung bedeutet, würde die Dislozierung der Pershing Ib erhebliche Probleme bezüglich der Verifizierbarkeit eines Abkommens bei den Waffen der Reichweite 1.000 bis 5.000 km aufwerfen. Denn die Pershing Ib läßt sich binnen 48 Stunden zu einer eurostrategischen – d.h. sowjetisches Territorium erreichenden – Pershing II umbauen.

Doch damit längst nicht genug: Mittlerweile ist bekannt geworden, daß Wörner nicht nur gedenkt, 72 Pershing Ia durch 72 modernere Pershing Ib zu ersetzen, sondern zusätzlich die Anschaffung von 80 weiteren Exemplaren dieses Systems beabsichtigt. Desweiteren impliziert die Annahme des sogenannten „Rogers-Planes“ die Anschaffung eines umfangreichen Arsenals von Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km, die indes mit einem konventionellen Sprengkopf ausgerüstet sind. Auch hier ist die BRD mit von der Partie.28 Mio. US-Dollar, untergebracht in einem insgesamt 50 Mio. US-Dollar-Programm zur Unterstützung deutsch-amerikanischer Vorhaben zur „Stärkung der NATO-Luftverteidigung in Mitteleuropa“ (zu dem sich die BRD im Rahmen des „Roland/Patriot-Abkommens“ verpflichtete), werden für ein Projekt mit dem Namen „Technex“ veranschlagt. „Technex“ ist die Bezeichnung für ein Technologie- und Experimental-Programm, bei dem konventionelle Sprengköpfe, konventionelle Submunition und Startgeräte für Mittelstreckenwaffen erarbeitet werden sollen. Bei diesen handelt es sich offensichtlich um ein Nachfolgesystem der Pershing Ia. Diesbezüglich wird ein Problem evident, das in der aktuellen Debatte um die „doppelte Null-Lösung“ gänzlich ausgeblendet wird: Im Zuge der Modernisierung der NATO-Strategie betreibt der Westen bewußt die „Konventionalisierung“ bestimmter Bereiche der regionalen Kriegsführung, die bislang ausschließlich den Atomwaffen vorbehalten blieben. So erfolgt z.Zt. u.a. die konventionelle Umrüstung der NATO-Luftverteidigung, die bislang auf den „Nike“- und „Hawk“-Raketengürteln basierte und nun durch bivalente (d.h. konventionell wie nuklear armierbare) „Patriot“-Systeme ersetzt werden. Das „Nike“-System – als Rückgrat der Luftverteidigung – hatte den Nachteil, daß sein Einsatz bei einer Reichweite von 150 km und nuklearer Armierung zur Verwüstung des eigenen Territoriums geführt hätte. Eine Eigenschaft, die abschreckungspolitisch Glaubwürdigkeit kostet und eher „selbstabschreckend“ wirkt.

Innerhalb der NATO wird der Streit bei den Waffen mit einer Reichweite von 500 bis 1.000 km darum geführt, ob neben der neuen konventionellen (auch die Pershing Ib ist bivalenten Charakters) auch die alte atomare Option beibehalten werden soll. Hier prallen gleich mehrere NATO-Schulen aufeinander, wie dies auch in anderen Rüstungskategorien – so u.a. bei den LRTNF-Waffen – der Fall ist. Aus der Sicht der BRD würde eine vollständige „Konventionalisierung“ in diesem Bereich auf eine nukleare Entkoppelung von den USA, auf die Errichtung einer Brandmauer zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung hinauslaufen, was von bundesrepublikanischen Militärs stets abgelehnt wurde, da dies eine Relativierung der Abschreckungskraft der BRD wie der „flexible response“ hinsichtlich ihrer Interpretation als „Kriegsverhinderungsstrategie“ bedeuten würde. In den USA ringen wiederum zwei Schulen miteinander, von denen die eine die Auffassung vertritt, daß sich – sofern sowjetisches Territorium ausgespart bleibt (wobei einige nicht einmal dies als Voraussetzung anerkennen wollen) – ein Krieg in Europa mit nuklearen Mitteln (und abgekoppelt vom nuklearstrategischen Arsenal wie vom Territorium der USA) führen läßt, während die andere hingegen der Einschätzung frönt, daß der Einsatz jeder Nuklearwaffe – ganz gleich welcher Reichweite, welcher Zielbestimmung und welcher Zerstörungskraft – mit dem Risiko der nuklearstrategischen Eskalation belastet und deshalb zu vermeiden ist. Folglich seien Nuklearwaffen nicht als Mittel der Kriegsführung, sondern als „politische Waffen“ zu verstehen und „ins zweite Glied“ zu verbannen. Der Einsatz von Nuklearwaffen – wenn er denn nicht zu umgehen ist – habe lediglich zum Zwecke der Kriegsbeendigung zu erfolgen. Letztere Schule propagiert eine sehr weitgehende „Konventionalisierung“ der NATO-Strategie und der Kriegsführung auf dem potentiellen europäischen Kriegsschauplatz. Vom Standpunkt der bundesrepublikanischen Abschreckungslogik her betrachtet ist weder die eine noch die andere Sichtweise akzeptabel. Was die Schule der „Nuklearisierer“ anbelangt, so herrscht insoweit Übereinstimmung, daß diese an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen in Europa festhalten und eher zum frühzeitigen Einsatz dieser Waffen neigen. Andererseits herrscht dort Widerspruch, wo es um die Interpretation des Nuklearwaffeneinsatzes geht bzw. dieser als integraler Bestandteil eines regionalen Kriegsführungskonzeptes erscheint. Mit den „Konventionalisierern“ ist sich die bundesrepublikanische Abschreckungslogik dahingehend einig, daß Nuklearwaffen primär als politische Waffen – und nicht als Kriegsführungsmittel – zu verstehen sind. Andererseits klaffen die Positionen dort auseinander, wo es um den Zeitpunkt des Einsatzes von Nuklearwaffen wie um die Frage einer Brandmauer zwischen nuklearer und konventioneller Kriegsführung geht. Was die bundesrepublikanische Abschreckungslogik von beiden US-Schulen unterscheidet, ist, daß diese – aus der Sicht der BRD – die NATO-Strategie als Kriegsführungsstrategie (denn als Kriegsverhinderungsstrategie) interpretieren wie eine Aufkündigung der NATO-internen „Risikogemeinschaft“ intendieren.

Im Resultat läuft die (alte) NATO-interne Auseinandersetzung darauf hinaus, daß rüstungspolitisch allen Schulen Rechnung getragen wird. Dies ist noch stets so gewesen und bestimmt bis heute die vielschichtige Rüstungsstruktur der NATO. Die NATO-Rüstung ist dadurch gekennzeichnet, daß für jedes, aber wirklich auch jedes irgendwie am Reißbrett vorstellbare Kriegsszenario eine entsprechende Kriegsführungsoption und Bewaffnungsstruktur bereit gehalten wird. Hieraus ergibt sich eine unübersehbare Tendenz zur „Doppelung“ der NATO-Rüstung, die Abrüstung zusätzlich erschweren muß.

Was nun den Bereich landgestützter Raketen der Reichweite 500 bis 1.000 km anbelangt, so darf davon ausgegangen werden, daß die NATO hier sowohl neue konventionell armierte Systeme dislozieren wird, wie aber auch eine nukleare Option beibehalten wird. Dies findet nicht zuletzt in der Orientierung auf bivalente Systeme seinen Ausdruck. Strategie- (Stichwort „Eskalation“) wie anatomiebedingt (Stichwort „Verkoppelung") ist in den Reihen der NATO das „worst case“-Denken wesentlich stärker ausgeprägt, als sich dies für die Sowjetunion konstatieren läßt, die es sich offensichtlich leisten kann, in den Kategorien eines „dynamischen Gleichgewichts“ zu denken.

Die Probleme der BRD mit der „doppelten Null-Lösung“

Aus dem bislang Gesagten resultiert, daß die militärische Bedeutung der Pershing Ia aus der Sicht der BRD eher als gering einzuschätzen ist. Was bleibt, das ist ein politischer und symbolischer Wert, auf den noch einzugehen ist. Zunächst gilt es indes, allgemeiner die Probleme der BRD mit der „doppelten Null-Lösung“ zu eruieren.

Die diesbezüglichen Einsprüche von CDU/CSU und Militärs muten – sofern sie die Waffen der Kategorie 500 bis 1.000 km betreffen – etwas erstaunlich an. Denn es waren exakt diese Kräfte, die im Zusammenhang mit dem Gipfel von Reykjavik eine Abrüstung auch bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite einklagten. Eine „Null-Lösung“ bei den LRTNF-Waffen sollte an eine sowjetische Abrüstung bei den Raketen kürzerer Reichweite gekoppelt werden. Doch seit die UdSSR dieses Junktim positiv aufgenommen hat, ist alles anders. Denn nun taugt es nur noch bedingt dazu, eine Null-Lösung“ bei den LRTNF-Waffen zu torpedieren. Die Angelegenheit wird noch skurriler, wenn man berücksichtigt, daß das Bundesverteidigungsministerium die sowjetischen SS 12/22 etc. Waffen noch 1985 als „keine neue Bedrohung“ qualifizierte, die westlicher Aufmerksamkeit und entsprechender Antworten bedürften. So drängt sich der Verdacht auf, daß es um die „zweite Null-Lösung“ zumindest zunächst nur mittelbar ging. Es spricht einiges dafür, daß die Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km nur thematisiert wurden, um durch „Draufsatteln“ ein Zustandekommen der „ersten Null-Lösung“ zu hintertreiben.

Denn nach der konservativen Sicherheitsphilosophie sind die eurostrategischen Systeme für die BRD von weitaus größerer abschreckungspolitischer Bedeutung, als Waffen wie die Pershing Ia und erst recht solche Nuklearwaffen, deren Reichweite noch unterhalb von 500 km liegt. Nur die LRTNF-Waffen können sowjetisches Territorium erreichen und versprechen so den intendierten Ankoppelungseffekt. Der konservative Sicherheitsstratege Kaltefleiter schreibt dazu in der „Europäischen Wehrkunde“, dem Hausblatt des bundesrepublikanischen Offizierskorps: „Mit der sehr glaubwürdigen Ankündigung der Sowjetunion, sie würde jeden Schlag, der ihr Territorium erreiche, mit einem Gegenschlag auf das Territorium der USA beantworten, war nach der Stationierung der ersten Pershings und Cruise Missiles die nukleare Ankoppelung Europas an die USA erreicht. Es ist das Verdienst von Bundeskanzler Schmidt, dem amerikanischen Präsidenten diese Ankoppelung Europas abgerungen zu haben“ („Europäische Wehrkunde“, 5/1987). Der von Kaltefleiter beschriebene Mechanismus wurde von mir als „negative Verkoppelung“ bezeichnet (siehe D. Schulze-Marmeling: Die NATO. Anatomie eines Militärpaktes, Göttingen 1987): Die Sowjetunion wird von Westeuropa aus in einer Weise (strategisch) bedroht, daß diese nicht nur mit nuklearen Schlägen etwa gegen die BRD (als Stationierungsland eurostrategischer Waffen), sondern auch gegen US-Territorium antworten würde. BRD und USA säßen in einem Boot, eine NATO – interne „Risikogemeinschaft“ wäre hergestellt, die es dem einzelnen Mitgliedsstaat verunmöglicht, seine Interessen von denen der anderen zu trennen. Der BRD gelingt es, mittels des Mechanismus der „negativen Unkoppelung“ sich des gesamten militärischen Potentials von USA und NATO auch dann zu versichern, wenn es zunächst primär um die Wahrung spezifisch bundesrepublikanischer Interessen geht. Zu Lande und in der BRD müssen entsprechende Ankoppelungssysteme deshalb stationiert sein, weil so bereits räumlich (BRD) wie was die Wahl der Kriegsmittel anbelangt (konventionell) begrenzte Kriegshandlungen mit dem Risiko der nuklearstrategischen Eskalation – also einer Eskalation, die sowjetisches Territorium mit einbezieht – belastet sind. Denn, so das Kalkül: bevor diese Systeme der gegnerischen Kriegsführung zum Opfer fallen, wird man sie verschießen. Und zwar mitten in das Herz der Sowjetunion.

Gesetzt den (nicht belegbaren) Fall, das bundesrepublikanische Ankoppelungs- und Abschreckungskalkül ist realitätstüchtig, dann muß es im Interesse der USA liegen, den Einsatz dieser Waffen zu verhindern oder aber zumindest hinauszuzögern. BRD- und US-Interessen treffen sich dort, wo es um die sogenannte vorbedachte Eskalation geht. Diese soll in Form des nuklearen Ersteinsatzes (aus der Sicht der USA können allerdings taktische Nuklearwaffeneinsätze vorgeschaltet werden) gegen sowjetisches Territorium erfolgen, der erkennbar begrenzt ausfallen muß. Denn er soll einerseits die UdSSR bis dicht an den Abgrund zur allgemeinen nuklearen Eskalation führen, ihr andererseits jedoch auch ein Zurückweichen – das den Weg zur Kriegsbeendigung frei machen würde – ermöglichen.

An dieser Option (selektiver strategischer Schläge) sind auch die USA interessiert, als Alternative zum nicht fahrbaren allgemeinen Nuklearkrieg. Zur Durchführung der „vorbedachten Eskalation“ bedarf es extrem eindringfähiger und zielgenauer Waffen, wie der Pershing II, deren Streukreishalbmesser gemeinhin auf 30 bis 40 m beziffert wird. Denn fällt der nuklearstrategische Ersteinsatz nicht erkennbar begrenzt bzw. zu massiv aus (was z.B. bei zu geringer Zielgenauigkeit oder mangelhafter Eindringfähigkeit, die eine Mehrfachabdeckung des selektiven Zieles notwendig macht, der Fall ist), besteht die Gefahr einer Eskalationsfortsetzung seitens der Sowjetunion, die es jedoch exakt zu vermeiden gilt. Die USA sind daran interessiert, daß dieser Ersteinsatz bzw. die Strategie selektiver nuklearstrategischer Schläge oder der vorbedachten Eskalation mit eurostrategischen Waffen durchgeführt wird, da dies den lediglich „quasi-strategischen“ Charakter des eigenen Vorhabens politisch unterstreichen würde. Hier wird der paradoxe Charakter der Strategie- und Ankoppelungsdebatte evident: Soll die USA strategische Waffen zugunsten der BRD einsetzen, dann muß die theoretische Möglichkeit der regionalen Begrenzung aus der Sicht der USA möglichst glaubwürdig gegeben sein. Das BRD-Kalkül der Verkoppelung muß sich also mit dem US-Interesse an einer regionalen Begrenzbarkeit nuklearer Kriegsführung vermengen können!

Zur Bestätigung der These, daß die bundesrepublikanischen Querschüsse bezüglich der zweiten „Null-Lösung“ tatsächlich der Verhinderung der „ersten Null-Lösung“ gelten, sei aus der „FAZ“ zitiert: „Die Bundesregierung hat sich mit ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu einer Null-Lösung bei den weitreichenden Mittelstreckenraketen in eine üble Lage manövriert, aus der sie nur mit einer Umkehr wieder herauskommen könnte – was der Außenminister freilich nicht will. Schwer tun sich diejenigen CDU-Politiker, die begründen wollen, warum „null“ bei den Raketen längerer Reichweite wünschenswerte Fortschritte, aber bei den kürzeren verkehrt sein soll. Die Abschreckung muß ja nicht in Warschau oder in Ost-Berlin wirken, sondern in Moskau. Logisch ist es nicht, im Westen auf diejenigen Nuklearwaffen in Europa zuerst und ganz zu verzichten, die sowjetisches Territorium erreichen können, aber der Sowjetunion diejenigen (konventionellen) Mittel zu lassen, mit denen sie am ehesten riskieren könnte, Westeuropa anzugreifen. (…) Der Fehler Bonns lag schon im ersten Schritt, in der Ansicht, die eigene Glaubwürdigkeit verbiete es, 1987 zu einer „Null-Lösung“ (die keine sein wird – DSM) nein zu sagen, weil man 1982 zu einer anderen Null-Lösung ja gesagt habe“ (Günther Gillessen: „Rapacki Plan auf neue Weise?“, in „FAZ“ v. 6.5.1987). Der selbe Autor offerierte wenige Wochen später einen alternativen „Abrüstungs“modus, der bei den Waffenkategorien beginnt, die für die BRD von geringerer abschreckungspolitischer Bedeutung sind bzw. ohnehin rationalisiert und umgerüstet („konventionalisiert“) werden: „Die Bedeutung dieser Waffen (der weitreichenden Mittelstreckenraketen, – DSM) liegt darin, daß sie ermöglichen, von europäischem Boden aus Abschreckungsdruck dorthin zu richten, wo er hingehört: auf die Sowjetunion selbst. Seitdem konnte dafür eine vielmals größere Zahl von Atomwaffen kurzer Reichweite aus Europa weggeschafft werden und die NATO nuklear,abmagern. Auf diesem Wege könnte das Bündnis auch dort noch fortfahren, sogar ohne sowjetische Gegenleistung – solange nur eine gewisse Mindestmenge der weiterreichenden Mittelstreckenwaffen erhalten bliebe“ (Günther Gillessen: „Am Nerv des Bündnisses“, in „FAZ“ v. 26.6.87). Gillessen spricht hier den NATO-Beschluß von Montebello an, der besagt, bis 1988 die in Europa gelagerten amerikanischen taktischen Atomsprengköpfe von 7.000 auf 4.600 abzubauen wie die verbleibenden Sprengköpfe zu modernisieren (Ausbau der Reichweiten, Erhöhung der Zielgenauigkeit, auf daß ein zweckbestimmter – weniger selbstabschreckender und eskalationsträchtiger – Einsatz möglich wird). Tatsächlich ist ein Großteil der bisherigen TNF (= Theater Nuclear Forces) - Struktur militärisch sinnlos und überflüssig. Was die Waffen sehr kurzer Reichweite anbelangt, die z.T. auf dem Territorium der BRD detonieren würden, so benötigt die NATO von diesen lediglich eine Menge, die dazu geeignet erscheint, den Kontrahenten von konventionellen Kräftekonzentrationen, die der Herstellung örtlicher Überlegenheit bei der Vorbereitung eines Durchbruchs auf das Territorium der BRD dienen könnten, abzuhalten. Denn derartige Truppen- und Panzerkonzentrationen würden ein geradezu einladendes Objekt für den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln darstellen.

Welche Bedeutung haben die Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km?

Allerdings geht es nicht ausschließlich um die bloße Torpedierung der „ersten Null-Lösung“, auch wenn die BRD an den bodengestützten LRTNF-Waffen mehr hängt als die USA. Denn was die Option der vorbedachten Eskalation bzw. selektiver nuklearstrategischer Einsätze anbelangt, so sind Pershing II und Ground Launched Cruise Missiles (GLCMs) alsbald ersetzbar. Denn: Zu den Kompensationsmaßnahmen, auf die sich die NATO – für den Fall des Zustandekommens einer „Null-Lösung“ bei den weitreichenden landgestützten Mittelstreckenwaffen – bereits geeinigt hat, zählt u.a. die Ausrüstung von in Europa stationierten nuklearfähigen Bombern mit bis zu 1.500 Air Launched Cruise Missiles (ALCMs). Damit steht der NATO eine Option zur Verfügung, die zum Zeitpunkt der Beschlußfassung über die „Nach“rüstung noch nicht existent war. Bis dahin wurden Ziele in der westlichen Sowjetunion vorrangig durch nuklear bestückte Flugzeuge abgedeckt (abgesehen von den bei Holy Loch (Schottland) dislozierten Submarine Launched Ballistic Missiles/SLBMs, die 1973 dem NATO-Oberkommando Europa unterstellt und für eurostrategische Zwecke ausgewiesen wurden). Die Eignung der alten Bomberstruktur für selektive Einsätze galt indes als problematisch aufgrund der Gefährdung ihrer Überlebensfähigkeit und Eindringfähigkeit in den gegnerischen Luftraum (bedingt durch sowjetische Abwehrmaßnahmen: Boden-Luft-Raketen und Abfangjäger). Um ihr Ziel anzuvisieren, mußten sie zunächst in den gegnerischen Luftraum eindringen. Zudem waren diese Bomber bzw. ihre Waffen von erheblich geringerer Zielgenauigkeit. Dies alles zwang zur Mehrfachabdeckung ausgewählter Ziele, um ganz sicher zu gehen, daß der selektive Einsatz erfolgreich ausgeführt wurde, was jedoch mit dem Ansinnen der für den Gegner erkennbaren Einsatzbeschränkung und Schadensbegrenzung unvereinbar war. „Ungewollte“ größere Kollateralschäden hätten den Kontrahenten vermutlich zur (massiveren) Vergeltung genötigt, was die westliche vorbedachte Eskalation ad absurdum geführt hätte. Aufgrund der Reichweite luftgestützter Marschflugkörper, müssen mit ALCMs ausgerüstete Bomber nicht erst in den gegnerischen Luftraum eindringen, um ein bestimmtes Ziel anzuvisieren. Desweiteren verfügen die ALCMs selbst über eine hohe Eindringfähigkeit (wie alle Marschflugkörper, die für den gegnerischen Radar kaum erfaßbar sind) und Zielgenauigkeit, erfüllen somit die militärtechnischen Voraussetzungen für den selektiven nuklearstrategischen Einsatz. Aus der Sicht der USA sind sie allein schon deshalb landgestützten eurostrategischen Systemen vorzuziehen, weil ihnen nicht der gleiche Eskalationsautomatismus (im Falle konventioneller Kriegshandlungen, s.o.) innewohnt und rückrufbare Bomber mehr zeitlichen Spielraum für die Krisenkommunikation mit dem Kontrahenten gestatten.

Mit den Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km, die sowjetisches Territorium erreichen können, läßt sich – gemäß der Verkoppelungslogik – eine nukleare Kriegsführung eher regionalisieren. Folgerichtig sind sie auch operativ-taktischen Aufträgen zugewiesen („deep Strike“) und in das Air-Land-Battle Kriegsführungskonzept integriert. Die bundesrepublikanischen Probleme werden evident, wenn man mal die folgende These postuliert: Je kürzer die Reichweite einer in Europa stationierten Nuklearwaffe, desto größer die Chance, mit ihr eine vom strategischen Arsenal der USA abgekoppelte, regionale Kriegsführung zu praktizieren. Vor allem dann, wenn diese Waffe auch noch „sauber (Neutronenwaffe) und zielgenau ist. Was die CDU/CSU befürchtet, ist, daß nach zwei „Null-Lösungen“ eine Nuklearwaffenstruktur in der BRD übrig bleibt, mit der sich aus US-Sicht vortrefflich der Nuklearkrieg begrenzen läßt, der BRD hingegen verwehrt bleibt, von ihrem Territorium aus eine nuklearstrategische Drohung gegen die Sowjetunion auszusprechen und somit die USA glaubwürdig strategisch anzukoppeln. Es stünden keine Mittel bereit, der Sowjetunion die Option der räumlich, zeitlich wie von der Wahl der Mittel her begrenzten Kriegsführung – als Alternative zum bedingungslosen Wohlverhalten – zu verwehren. So besehen wird auch die „zweite Null-Lösung“ für konservative Sicherheitsstrategen zu einer unerträglichen Angelegenheit; vor allem deshalb, weil der Aufkündigung der Ankoppelung an die USA das Ende der Verkoppelung mit den anderen westeuropäischen NATO-Staaten – allen voran den Nuklearwaffenbesitzern Frankreich und Großbritannien – folgen würde. Denn gemäß der Ankoppelungslogik wie des Mechanismus der „negativen Verkoppelung“ besteht das Problem der „zweiten Null-Lösung“ pikanterweise nicht nur in der eventuellen Abrüstung der eigenen Waffen (wobei es lediglich um die Pershing Ia/Ib geht), sondern auch (und gerade) der der Sowjetunion. Von daher die Formulierung: gemeinsame Obergrenzen statt Abrüstung auf „Null“. Denn: Wenn Großbritannien und Frankreich – als Folge einer „doppelten Null-Lösung“ – nicht mehr länger von landgestützten sowjetischen Mittelstreckenwaffen (längerer wie geringerer Reichweite) bedroht werden, sondern gegnerische Nuklearwaffen nur noch die BRD betreffen, entfällt für London und Paris ebenfalls der etwaige Zwang zum nuklearen Engagement an der Seite der BRD. „Die einfache „Null-Lösung“, die sich „nur“ auf Mittelstreckenwaffen bezieht, würde – obwohl dies geleugnet wird – die Bindungen Amerikas an Europa zweifellos lockern. Und die „doppelte Null-Lösung“, die auch Kurzstreckenraketen erfaßt, würde zusätzlich die NATO-Mitglieder unseres Kontinents in zwei Sicherheitszonen trennen (…)“ (Wolfram v. Raven: „Demontage der Abschreckung?“, in „Europäische Wehrkunde“, 5/1987). Von daher war auch Kohls Versuch, eine westeuropäische Anti-Abrüstungsfront gegenüber den USA zustande zu bringen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Realisierung der „doppelten Null-Lösung“ würde das nukleare Gewicht Großbritanniens und Frankreichs erhöhen. Beide Staaten würden eine erhebliche Aufwertung erfahren, wenn die Bedrohung durch sowjetische Nuklearwaffen längerer wie kürzerer Reichweite verschwindet, während die eigenen Nuklearstreitkräfte, die auf die Sowjetunion zeigen, vom Abrüstungsprozeß ausgenommen bleiben. So zeigten sich die britische und französische Regierung nach kurzem Zögern bereit, gegen gewisse Zusicherungen (Kompensation in Form der Ausrüstung nuklearfähiger Bomber mit ALCMs wie der Verstärkung des für den europäischen Kriegsschauplatz abgestellten SLBM-Arsenals) der „doppelten Null-Lösung“ ihr Plazet erteilen. Zwar bedauert Frankreich den eventuellen Abzug eines auf dem Territorium der BRD dislozierten – unter Einsatzgewalt der USA stehenden – strategischen Eskalationsautomatismus, andererseits ist Paris selbst nicht dazu bereit, diesen dadurch zu ersetzen, indem französische strategische Waffen in die BRD verschoben werden (wie dies Dregger fordert). Was diese Frage anbelangt, so decken sich wiederum die Interessen der Nuklearmächte USA und Frankreich gegenüber denen der BRD, da beide wenig Lust verspüren, in allzu enger Weise an das Wohl und Wehe des Frontstaates BRD angekoppelt zu werden.

Die Pershing Ia/Ib-Debatte

Die Rebellion der CDU/CSU gegen die „zweite Null-Lösung“ war aber auch von der Furcht bestimmt, eine zusätzliche „Null-Lösung“ bei den Waffen der Reichweite 500 bis 1.000 km könnte die Pershing Ia bzw. deren Nachfolgesystem Ib zur Disposition stellen. Ein weiterer Grund, warum man plötzlich gemeinsamen Obergrenzen statt von Abrüstung auf „Null“ sprach. Die Pershing Ia begründet und symbolisiert das nukleare Mitspracherecht der BRD innerhalb der NATO (das sich allerdings auf die Einsatzplanung beschränkt, also nicht die Einsatzstruktur selbst berührt). Sie ist somit für die BRD von primär politischer Bedeutung. Nach dem Abzug von Nuklearwaffen vom Territorium der BRD, mit denen sich die gegnerische Blockführungsmacht bedrohen ließ, würde die Abrüstung der Pershing Ia aus der Sicht der CDU/CSU eine weitere Relativierung der nuklearen Rolle der BRD innerhalb der NATO bedeuten. Mittlerweile haben die USA der Pershing Ia/Ib den Status eines „Drittstaaten Systems“ attestiert, obgleich – im Gegensatz zu den britischen und französischen Waffen – der Sprengkopf unter US-Obhut bleibt. Damit wird die BRD auf der Ebene von Abrüstungsverhandlungen Frankreich und Großbritannien gleichgestellt und nuklearpolitisch aufgewertet. So hat die BRD – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – eine wichtige politische Schwelle in Richtung Eigenbesitz von Atomwaffen überschritten. Frankreich und Großbritannien ist dies wohl bewußt, weshalb beide Staaten zwar die Ausklammerung der Pershing Ia aus einer „zweiten Null-Lösung“ unterstützen, sich jedoch strikt gegen eine Etikettierung dieser als „Drittstaaten-System“ verwahren.

An dieser Stelle seien einige allgemeinere Anmerkungen zur Drittstaaten - Argumentation erlaubt. Politisch bedeutet die Drittstaaten-Argumentation, daß jeder über Nuklearwaffen verfügende oder nach solchen frachtende NATO-Staat eine eigene Abschreckungsoption gegenüber der Sowjetunion beansprucht; obgleich – jedenfalls nach der Ankoppelungslogik – im Fall des Falles – alle westlichen Nuklearstreitkräfte zusammenwirken würden. Allein die französischen Nuklearstreitkräfte besitzen die Fähigkeit, in einem zweiten Schlag 130 bis 150 sowjetische Städte zu bombardieren. Aufgrund ihrer seegestützten Dislozierungsform sind sie zudem gegenüber sowjetischen Schlägen, die ihrer präventiven Ausschaltung dienen, relativ unverwundbar. Wie es auch immer um den Ankoppelungseffekt in der Realität bestellt sein mag: entscheidend ist, daß alle westlichen Nuklearwaffen auf die Sowjetunion oder die Territorien der ihr vorgelagerten Warschauer-Pakt-Staaten zeigen. Umgekehrt wird Moskau das Recht bestritten, gegenüber den auf den eigenen Pakt gerichteten Nuklearwaffen in ihrer Gesamtheit gleichzuziehen, da dies Überlegenheit gegenüber den einzelnen NATO-Nuklearwaffenstaat implizieren würde. Während dies jedoch auf ein globales Gleichgewicht hinauslaufen würde, bedeutet die Drittstaaten-Argumentation – konsequent praktiziert – ein gigantisches Obergewicht an nuklearer Rüstung und nuklearen Optionen zugunsten der NATO.

Was die Pershing Ia/Ib anbelangt, so könnte die Sowjetunion die hier angewandte Drittstaaten-Argumentation konterkarieren, indem sie die Trägersysteme der in der DDR und CSSR stationierten Nuklearwaffen den dortigen Regierungen übereignet (während der Atomsprengkopf – analog zur Pershing Ia – unter sowjetischem Verschluß bleibt). Folgt man der NATO-Logik, dann müßten die in den östlichen Frontstaaten dislozierten Nuklearwaffen dann vom Abrüstungsprozeß ausgespart bleiben (…)

Die Gewährung des Status einer „halben Atommacht“ mag von der Warte der USA her betrachtet wahrscheinlich als das „kleinere Übel“ erscheinen. Denn hätten die USA nach den LRTNF-Waffen auch noch die Pershing Ia, die der BRD immerhin „halb“ gehören, im Verhandlungsprozeß zur Disposition gestellt, dann hätten sich in der bundesrepublikanischen Sicherheitspolitik all jene bestätigt gefühlt, die schon die erste „Null-Lösung“ zum Ruf nach einer Neuorientierung der hiesigen Sicherheitspolitik – inklusive des Eigenbesitzes von Nuklearwaffen – veranlaßte. So dient die Einstufung der Pershing Ia als Drittstaatensystem nicht zuletzt der nuklearen Satisfaktion der BRD. Seitens der BRD wurde die LRTNF-„Nach“rüstung als allianzimmanente und transatlantische Alternative zum französischen Weg der nationalen Verfügungsgewalt über A-Waffen gefeiert.

Noch einmal Günther Gillessen, der nach einer Beschreibung des seinerzeitigen Bruchs zwischen de Gaulle und den Amerikanern konstatiert: „In der historischen Perspektive wird deutlich, was Amerikaner und Europäer mit dem Doppelbeschluß 1979 politisch geleistet haben und was jetzt mit deutscher Zustimmung hergegeben werden soll“ („FAZ“ v. 1.4.1987). Genau betrachtet war die LRTNF-Stationierung die zweitletzte Option unterhalb des französischen Modells: Dislozierung eurostrategischer Nuklearwaffen auf dem Boden der BRD, während die Einsatzgewalt bei den USA verbleibt. (Was – aus der Sicht einiger Fraktionen der herrschenden Sicherheitspolitik – gar von Vorteil ist, da für die BRD keine glaubwürdige Ersatzoption existiert.) Soll heißen: Während man von den USA einen schnellen Einsatz von strategischen Nuklearwaffen verlangt, würde man selbst davor eher zurückschrecken, da ein solcher wohl die Zerstörung der BRD im Vergeltungsschlag provozieren müßte, wozu bedingt durch die Enge ihres Territoriums bereits wenige Einsätze genügen würden. Stellen die USA die Existenz der BRD zur Disposition, so ist dies glaubwürdiger, jedenfalls sofern die Möglichkeit besteht, sich selbst in der nuklearen Auseinandersetzung weitgehend schadlos zu halten.)

Parallel dazu hat die BRD in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO durchgesetzt, daß der nukleare „first use“ zukünftig direkt gegen sowjetisches Territorium ausgeführt wird (ob des damit verbundenen Koppelungseffektes, s.o.). Ende 1986 wurden die bis dahin gültigen „Provisional Political Guidelines“ abgelöst. „Besonders wichtig ist die Tatsache, daß sich das Bündnis in den neuen Richtlinien darauf verständigt hat, zur nuklearen Abschreckung nicht vorrangig solche Ziele auszuwählen, die im Vorfeld des Aggressors liegen, sondern solche auf dessen eigenem Territorium. Die hierzu notwendigen weitreichenden Mittelstreckenraketen – wie die Pershing II-Rakete hatte sich das Bündnis mit dem Nachrüstungsbeschluß gesichert“ (Karl Feldmayer: „Die Abrüstung verändert die Voraussetzungen für die Planung der NATO“, in „FAZ“ v. 12.5.1987).

Zwischen das französische und das transatlantische Modell schiebt sich noch die britische Option: eine technologisch von den USA abhängige Nuklearstreitmacht mit doppelter Einsatzstruktur und Einsatzplanung. Für die BRD würde die britische Option in der Übergabe von Pershing II und Cruise Missiles sowie in einem „zweiten Schlüssel“ bezüglich des Einsatzes bestehen, der dann zur Anwendung käme, wenn die BRD ihre Interessen existentiell bedroht sehen würde (so etwa lautet die britisch-amerikanische Regelung).

Zweifellos ist der bundesrepublikanischen Sicherheits- und Abschreckungsphilosophie eine Logik immanent, die in Richtung eigene Nuklearwaffen strebt. Den USA kann kaum daran gelegen sein, diese noch zu fördern. Vielmehr muß es der US-Administration darum gehen, bundesrepublikanische Abkoppelungsbefürchtungen zu beruhigen und den Hunger der BRD nach nuklearstrategischen Optionen gegenüber der Sowjetunion zu stillen. Denn je mehr die BRD NATO-eingebundener nuklearer Optionen beraubt wird, desto evidenter wird, worin der Vorteil eigener Nuklearstreitkräfte besteht. Frankreich und Großbritannien bleiben nicht nur vom Abrüstungsprozeß untangiert, es steht ihnen gar frei, die gemeinsame Produktion eines nuklear armierten Marschflugkörpers anzukündigen, der die durch den Abzug der Ground Launched Cruise Missiles angeblich entstehende Abschreckungslücke auszufüllen hätte. Das Dilemma der konservativen Sicherheitspolitik besteht indes darin, daß der Aufbau einer bundesrepublikanischen Nuklearstreitmacht abgekoppelt von den USA und den westeuropäischen Nuklearmächten keinen Sinn ergibt sowie mit der Gefahr der internationalen Isolierung der BRD belastet ist. Von daher ist der Spielraum der BRD im gegenwärtigen Abrüstungsprozeß von vornherein beschränkt.

Dietrich Schulze-Marmeling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dokumentationsstelle Friedens- und Sicherheitspolitik e.V. wie der Bundestagsfraktion der GRÜNEN

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/3 Der mühsame Weg zur Abrüstung ..., Seite