Deutsches Leid mit Leit-Kultur
von Werner Dosch
Zu Beginn seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen« äußert sich Nietzsche zur deutschen Reichsgründung 1871: „Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste…der Irrtum der öffentlichen Meinung, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe…Dieser Wahn ist höchst verderblich…weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des »deutschen Reiches«.“ Bei dem zweiten Zusammenschluss der Deutschen, 120 Jahre später, erhob sich die Frage nach einer Mehrung oder Minderung von Kultur nicht mehr; die Forderung nach einer »deutschen Leitkultur«, ausgestoßen von einem Politzwerg, zielte wieder einmal auf das Primat des Deutschen gegenüber Andersartigem. Der zynische Reim vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, drängt sich dabei in die Erinnerung, auch wenn klar ist, dass Fremde diesmal nicht um Leib und Leben fürchten müssen, jedenfalls von Seiten der Staatsmacht nicht und nicht, solange sie im Lande bleiben (dürfen). Das einzig Zeitgemäße an dieser und ähnlichen Forderungen aus dem deutschen konservativen Lager besteht in der wohl nicht so ganz ungewollten Übereinstimmung mit dumpfen Empfindungen, wie sie über Stammtischen wabern, – wie sie sich seit einigen Jahren aber auch immer wieder in Gewalttaten der Straße entladen.
Gehen wir es eine Stufe bescheidener an, fragen wir anstatt nach Kultur nach Zivilisation. Zu deren Errungenschaften gehört, dass noch vor allen geschriebenen Verbotenen und damit verbundenen Strafandrohungen ein stillschweigender gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass man bestimmte Dinge einfach nicht tut, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht hingenommen werden. Man macht eben hierzulande nicht auf die Strasse!
Wenn Deutsche jetzt wieder Fremde »klatschen«, sie zu Tode jagen, in Häusern verbrennen, dann ist das schlimmer und spielt sich eine ganze zivilisatorische Stufe niedriger ab, als wenn sich diese Deutschen nur mit ihrem eigenen Dreck besudelten. Die barbarischen Geschichten aus deutscher Vergangenheit liegen lange zurück, aber sie sind seitdem zu Maßstäben des nicht Hinnehmbaren geworden. Wenn aus Geschichte ein Sinn gezogen werden kann, dann doch der, dass sich der erlebte Wahnsinn nicht wiederholen soll. „Von deutschem Boden darf kein neuer Krieg ausgehen“… „nach Auschwitz kann kein Gedicht mehr geschrieben werden“… Leider stellt sich bei solchen Lehren und Erkenntnissen immer wieder heraus, dass sie kaum über die Lebenszeit derer hinaus Bestand haben, die die Lektion noch selbst erfahren hatten. Inzwischen haben sich Deutsche ja wieder an einem Krieg beteiligt und – dies in einer ganz anderen Bedeutung – schon Celan hatte Adorno mit seinem Gedicht über Auschwitz widerlegt. Aber Einsichten in die Brüchigkeit menschlicher Lernfähigkeit und die grandiose Erneuerungsmacht von Vergesslichkeit können nicht verdecken, dass dennoch die grundlegenden Verbotstafeln im Blick bleiben, ja, dass hier doch eine gewisse Entwicklung stattfindet.
Wie ist also das geringe Maß des Erschreckens oder gar die gelegentliche klammheimliche Zustimmung von Augenzeugen braunen Terrors, deren Passivität, die Verweigerung von Hilfe zu verstehen? Wie die formalistische Borniertheit der deutschen Justiz, die solche Unholde stolz demonstrieren lässt anstatt sie schon bei nächster Wortmeldung einzulochen, und die für braune Verbrechen kaum angemessenere Strafmaße kennt als solche, für die ein Ladendieb noch dankbar wäre? Wohlgemerkt, die erwähnten Vorkommnisse betreffen »nur« das Vorfeld von Kultur, wären sie undenkbar, wäre damit noch keine Kultur geschaffen, geschweige denn eine »Leitkultur«.
Wie vorhergesagt lässt sich aus nationalem Feuer kein Honig für Kultur ziehen, weder die erwähnte Reichsgründung wirkte sich hier stimulierend aus noch die langweilige Geschichte der BRD oder das Ende der DDR. Und der Terror der Straße wäre durch eine verordnete »Leitkultur« gewiss nicht zu beeindrucken.
Kurzum: Gäbe es in unserer Gesellschaft den klaren Konsens, dass braunes Denken und Tun keinerlei Akzeptanz findet, dann käme es gar nicht mehr zu den erwähnten Untaten. Diesen Konsens gibt es aber offensichtlich nicht. Wir haben aus der Geschichte nicht gelernt!
Nicht zur Entschuldigung von Untaten, aber zu einem gewissen Verständnis für ihr Zustandekommen lassen sich Gründe benennen und damit sagt man kaum Neues. Bei den brutalisierten rechten Jugendlichen, die im Gebiet der ehemaligen DDR leben, sind häufig die mangelnden Lebens- und Berufsperspektiven, Frust aus Arbeitslosigkeit, Armut und Langeweile bestimmend. Sie fühlen sich von dem neuen Staat im Stich gelassen, der alte hatte bei all seiner stupiden diktatorischen Gängelei immerhin ein Mindestmaß an persönlicher Fürsorge für sie übrig gehabt. Der Großteil der westdeutschen Bevölkerung ließ sich seinerzeit bereitwillig und schließlich sogar aus Überzeugung zur Demokratie bekehren. Denn diese Politikform, vor allem die damit verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, waren vorteilhafter als alles zuvor Gewesene. Außerdem hatte das »deutsche Wirtschaftswunder« den angenehmen Effekt, dass es nicht nur alle Erwartungen an einen Wiederaufstieg überstrahlte, sondern damit auch die aus der Vergangenheit liegen gebliebenen Probleme als vergangen erscheinen ließ. Beide deutschen Bevölkerungen waren nach 1945 so ausschließlich mit ihrem Überleben beschäftigt, dass für Reflexionen über den gemeinsamen Vorgängerstaat und die oft allzu persönlichen Verwicklungen mit ihm kaum Raum blieb und noch weniger Interesse für solche »Grübeleien« vorhanden war. „Keine Experimente“, nicht daran rühren, hieß der erfolgreiche Wahlspruch der Nachkriegszeit. Den Ostdeutschen wurden die neuen Anführer von Moskau her eingeflogen, die Westdeutschen konnten wählen, sie »wählten die Freiheit« und entschieden sich für einen Großvater, für den deutsche Geschichte erst mit Gründung der BRD bzw. mit seinem Patronat wieder in Gang kam und der nichts aufkommen ließ, was diesen Gang ins Stolpern bringen konnte. Noch länger als der erste Kanzler konnte sich der Historiker Kohl behaupten, für den, qua »Gnade der späten Geburt«, die Neuzeit ebenfalls erst mit Kriegsende oder gar erst ab der von ihm in Aussicht gestellten, dann aber doch ausgebliebenen »geistig-moralischen Wende« zählte. In Ost wie West gerierte man sich staatstragend antifaschistisch bzw. antinazistisch – gewisse als unabkömmlich geltende Repräsentanten des alten Regime in Staat und Wirtschaft freilich ausgenommen. Ost- und Westdeutschland glichen sich darin, dass die entsetzliche menschliche und kulturelle Katastrophe des Dritten Reiches überlebt aber nicht wirklich verarbeitet wurde. Es gab ja genug Gründe Mitleid mit sich selbst zu haben, dass für darüber hinaus gehende Reflexionen kaum Platz war. Einverstanden, die Nazis waren böse, die Nazis hatten die inzwischen nachgewiesenen Untaten tatsächlich begangen, nur – wer, wo waren sie, diese Nazis? Sie kamen doch nicht vom anderen Stern, waren keine Anderen – soviel sprachliche Ehrlichkeit sollte sein!
Unter den Schupos, die im Krieg zu Polizeibataillonen eingezogen wurden, gab es eher weniger Parteigenossen als dem Durchschnitt der Nation entsprach. Sie waren Familienväter, viele schon zu alt oder wegen anderer Behinderungen nicht mehr voll »kriegsverwendungsfähig«. Wenigstens eine Million wehrlose Menschen, Frauen und Männer, Kinder, Greise, meist Juden, haben solche Einheiten im Osten auf barbarische Weise umgebracht. Diese Männer waren ursprünglich zu Gehilfen der Justiz ausgebildet, aber kaum ein Gericht hat sich ihrer richtend angenommen, nachdem sie sich so schrecklich schuldig gemacht hatten.
Andererseits wird es in diesen wirren Zeitläufen auch die Gläubigen der Nazi-Ideologie gegeben haben, die sich nur wenig versündigt hatten. Es gab vor allem aber die exorbitant hohe und durchaus nicht getürkte Wahlzustimmung des deutschen Volkes zu Hitler und ein Vertrauen zu dessen Führerschaft, das bei manchen noch das Kriegsende überstand. Und es gab und gibt über Deutschland und die Zeit von damals hinaus allerorten und -nationen Menschen, die unter holocaust-trächtigen Umständen schuldig wurden und werden, wie auch solche, die dem widerstehen. Darauf lässt sich verweisen, falls man lieber relativieren möchte als vor der eigenen Hütte zu kehren. Das zwanzigste Jahrhundert ging mit Völkermord nicht sparsam um.
Was ist los mit diesem Deutschland, wo sich Naziterror wieder auf die Straße wagt? Das war doch alles längst passé! Die Besorgnis über dieses anscheinend neue Phänomen ist groß und allenthalben. Es wird demonstriert und gerätselt wie sich diesem Aufwuchs entgegentreten lässt. Lichterketten und Ermunterungen zu Zivilcourage. Das Angebot und Interesse an Dokumentationen über die Hitlerzeit war noch nie so lebhaft.
Zur gleichen Zeit ist das vereinigte Deutschland dabei sich zu seiner vollen Souveränität und staatlichen Größe zurück zu entwickeln. Auch was den Anspruch an kulturelle Integrität anbelangt, der wegen der leidigen Auschwitz-Inkompatibilität lange kleingeschrieben werden musste, gilt reuige Zurückhaltung jetzt nicht mehr als zeitgemäß. In dieser Aufbruchstimmung, die Stammtische fest im Blick, lassen sich krause Vorstellungen wie die von einer »deutschen Leitkultur« wieder in die Welt setzen.
Allerdings – bei aller neugewonnenen Größe ex machina, wenn das Nationale wieder so zentral ins Spiel kommt, dann lässt es sich nicht erst mit einem »von hier und jetzt an« in die Arme schließen, sondern muss schon in seiner ganzen überschaubaren Geschichtlichkeit getragen und ertragen werden. Zu dieser Geschichtlichkeit gehört aber, dass in Deutschland die finsterste Epoche der Vergangenheit nicht wirklich verarbeitet wurde und dass das Versäumnis einer nationalen Läuterung bis jetzt nachwirkt. Für die Rückkehr der Nazis bilden die ökonomischen und ethnischen Verwerfungen der neoliberalen Gesellschaft einen ausgezeichneten Nährboden; mit seinen zu bekämpfenden Wurzeln reicht dieser Spuk aber bis in die Zeit zurück als Deutschland Naziland war. Die uns Deutschen diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« wirkt sich nun bei dem Aufbruch ins »einig deutsche Vaterland« als beschwerlicher Herzfehler aus. Hätten wir unsere Lektion verdaut, wären wir gegen die Wiederholung alter Übel wehrhaft geblieben und es könnten uns nicht noch einmal braune Halunken auf der Nase herumtanzen. Dann bedürfte es keiner Parteiverbote und Verschwörungen der Gutwilligen. Es macht eben niemand auf die Straße, wenn die Gesellschaft keinerlei Toleranz für solche Atavismen kennt!
Was nun die konkreten politischen Hintergründe der extrem rechten Szene anbelangt, muss man hinter den widerlichen Aktivitäten nicht immer nur die fest eingefleischten braunen Aktivisten sehen. Frustrierte Jugendliche haben ein feines Gespür für Schwächen der Gesellschaft. So erspüren sie auch das Grundtabu der Bundesrepublik, die unverdaut weggeschlossene Nazi-Vergangenheit, und greifen es auf. In dem sie als Nazis agieren, führen sie die Gesellschaft vor und machen mit neuralgischer Wirksamkeit auf sich und den Grund ihres Frustes und Hasses aufmerksam. Aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet der Fall Sebnitz die Situation. Im Erschrecken über den Tod des armen ertrunkenen Jungen, für den zunächst Rechtsradikale, unter den Augen einer großen, untätig gebliebenen Beobachterschar verantwortlich gemacht wurden, stockte der Republik der Atem. Unbewusst war dabei die Verbindung zur Vergangenheit hergestellt: fast alle hatten es gesehen, hatten etwas gewusst, aber keiner hat etwas dagegen getan! Und dann das Aufatmen: Es war doch nicht so, wir sind wieder einmal davongekommen! Bleibt das die Tagesordnung?
Dr. Werner Dosch war Professor für Mineralogie an der Universität Mainz (emeritiert). Er ist einer der Gründer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.