W&F 2024/4

Deutschlands rechter Abschied

von Leonie Jantzer

Zweifellos ließe sich nach diesem Spätsommer des Überbietungswettbewerbs rechter Politik fragen: Quo vadis, Deutschland? Noch im vergangenen Jahr beschuldigte Friedrich Merz die Geflüchteten »lediglich«, dafür verantwortlich zu sein, dass deutsche Staatsbürger*innen keinen Zahnarzttermin mehr bekämen. Mittlerweile wiederholt eine unüberblickbare Anzahl an Politiker*innen, Kommentator*innen und weiteren Personen des öffentlichen Lebens die alte – falsche – Leier von Horst Seehofer, wonach die Migration die „Mutter aller Probleme“ sei.

Das hat praktische Konsequenzen: Deutschland hebelt faktisch und im Alleingang die Freizügigkeit zwischen den europäischen Ländern durch Grenzkon­trollen aus – einst eine der Säulen des Freiheitsversprechens der Europäischen Union. Gleichzeitig wird lautstark überlegt, die Prüfung von Asylanträgen auf nicht-deutsches Staatsgebiet auszulagern. So vollzieht sich in Deutschland schrittweise ein Prozess der Internalisierung bisheriger europäischer Außenpolitik. Deutschland verabschiedet sich nach rechts.

Dass sich nur eine Minderheit der weltweit aktuell 120 Millionen Menschen auf der Flucht überhaupt auf den Weg gen Europa macht, wird geflissentlich ausgeblendet. Just gegen diese Minderheit in Not richten sich die Anstrengungen Deutschlands und der Europäischen Union. Ist die bisherige europäische Außenpolitik in puncto Migration also das mögliche Abziehbild für die deutsche Grenzpolitik?

Mit ihrer Externalisierungspolitik streben die europäischen Länder an, Flucht schon in den Herkunftsländern oder entlang der Fluchtrouten zu unterbinden. Weil diese Politik zunehmend militarisiert wird, werden in der Konsequenz Fluchtrouten immer gefährlicher und Menschen massiver – oftmals tödlicher – Gewalt ausgesetzt. Sie fliehen trotzdem, weil die tatsächlichen Fluchtursachen nicht angegangen werden. Statt einem Ausweg aus der Not, sehen sie sich einer desaströsen Realität ausgesetzt: Sie harren in Lagern an den EU-Außengrenzen oder an den Küsten Nordafrikas aus, verdursten in der Sahara oder ertrinken im Mittelmeer.

Um dennoch die Hoffnung – nicht nur gehen zu können, sondern auch anzukommen – nicht zu verlieren, sehen sich die Menschen gezwungen, sich auf Netzwerke und Strukturen einzulassen, die angeben, diese Maßnahmen zu umgehen – oder eben zu umschiffen. Hier setzt eine weitere Säule der europäischen Abschottungspolitik neben der Migrationsabwehr und der Aushöhlung des Asylschutzes an: Sie kriminalisiert oftmals diejenigen, die diese Dienste in Anspruch nehmen. Viele von ihnen werden als Schleuser gebrandmarkt.

In vielen europäischen Ländern wird die Unterstützung, nationale Grenzen zu überwinden, als »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« bzw. »Schleuserei« mit langen Haftstrafen geahndet. Angeklagte und Inhaftierte sind meist Geflüchtete selbst, die für die Unterstützung weder Geld bekommen noch Zwang gegenüber anderen fliehenden Menschen ausgeübt haben. Sie werden dafür verurteilt, anderen das Leben gerettet zu haben. Dieser Straftatbestand wird mancherorts höher bestraft als Mord. Gäbe es legale Einreisemöglichkeiten, wäre dieser illegalisierte Grenzübertritt überhaupt nicht notwendig. Deutschland und die EU schaffen sich ihre ganz eigenen Kriminellen mitsamt der Notwendigkeit, kriminell zu werden.

Allein in Griechenland sitzen über 2.000 Menschen aufgrund des Vorwurfs der »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« in Haft. Die Prozesse dauern im Schnitt 37 Minuten und das Urteil läuft durchschnittlich auf 46 Jahre Haft hinaus. Manchmal steht am Ende auch eine Geldstrafe von 300.000 Euro in der Urteilsverkündung. Selbige Kriminalisierung ist auch in Italien, Spanien und England erkennbar. Das Muster wiederholt sich an der polnisch-belarussischen Grenze, entlang der Balkanroute und an den Küsten Nord- und Westafrikas. Auch in Deutschland wurde erst im Juli 2024 einem syrischen Staatsbürger der subsidiäre Schutz verweigert, da er in Österreich der Beihilfe zur unerlaubten Einreise in die EU verurteilt worden war.

Die jüngsten Wahlergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen aber auch in Österreich, haben indes gezeigt, dass eine migrationsfeindliche Politik nicht nur den rechten Rand stärkt: das politische Zentrum wird selbst zu einem rechten Zentrum. Um diesem Zentrum – das der einstigen humanistischen Idee Europas diametral gegenübersteht – etwas entgegenzusetzen, braucht es eine andere, eine aufgeklärte und friedenspolitische Erzählung von Migration und Flucht sowie menschenwürdige Antworten. Eine Erzählung, die aufzeigt, dass die Migration der Beginn jeder modernen Gesellschaft ist. Erst durch die Migration sind wir Teil dieser Welt. Wir sollten uns hüten, uns daraus verabschieden zu wollen!

Leonie Jantzer arbeitet bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Aufgrund der hier im Artikel beschriebenen Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, gründete medico die Spendenkampagne »Fonds für Bewegungsfreiheit«, um inhaftierte Geflüchtete u.a. juristisch und psychologisch zu unterstützen (medico.de/bewegungsfreiheit).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/4 Eskalationen im Nahen Osten, Seite 5