W&F 2003/2

Die Arroganz der Demokratien

Der »Demokratische Frieden« und sein bleibendes Rätsel

von Harald Müller

Kant hat die Friedlichkeit der Demokratien aus den Nutzenerwägungen der Bürgerinnen und Bürger begründet. Spätere Überlegungen haben im Menschenbild der Aufklärung, im Respekt vor Menschenwürde und menschlichem Leben sowie in der Präferenz für rationale, gewaltfreie Konfliktlösung eine zweite Hemmschwelle gegen den Krieg identifiziert. Die demokratischen Entscheidungsstrukturen seien schlecht geeignet, die für den Krieg erforderliche Überraschung hervorzubringen.1 Die Neigung der Demokratien, intedependente Wirtschaftsbeziehungen einzugehen und in internationalen Organisationen zu arbeiten, schaffe gemeinsame Interessen mit möglichen Feinden und Kooperationsstrukturen, die bei der friedlichen Beilegung von Konflikten helfen.2
Der empirische Befund ist umstritten;3 Demokratien führen selten oder nie Krieg gegeneinander. Ob sie auch gegenüber Dritten friedlicher sind, ist weniger eindeutig, Die meisten Autoren schließen, dass sich kein Unterschied im Gewaltverhalten erga omnes zeigt. Andere glauben, ein relativ friedlicheres Verhalten demokratischer Staaten entdeckt zu haben.4 Die Frage bleibt offen, wie Demokratien wechselseitig die Friedfertigkeit aneinander schätzen können, wenn sie gegenüber Dritten gar nicht gegeben ist, in anderen Worten: welches die Kausalmechanismen des »Demokratischen Friedens« zwischen Demokratien sein sollen, wenn sie gegenüber Nichtdemokratien nicht funktionieren.5 Hierin besteht das ungelöste Rätsel der so attraktiven Theorie vom Demokratischen Frieden.6

Selbstbild und Feindbild

Dieser wissenschaftliche Diskurs hat in den politischen hineingewirkt. Die Theorie des demokratischen Friedens prägt Selbstbild und Feindbild in den Demokratien. Sie liefert – im Sinne Carl Schmitts – das Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind7 mehr noch als im Kalten Krieg, in dem der Begriff des »Antikommunismus« den Anschluss von Diktaturen wie Spanien, Portugal, den Philippinen, des Schah-Iran, der griechischen Obristen und türkischen Generale an »den Westen« zuließ.8 Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirken derartige Mesalliancen schmerzhafter. Zwar werden auch im »Krieg gegen den Terror«, Bündnisse mit nichtdemokratischen Ländern aus Opportunitätsgründen akzeptiert: Pakistan und China, Usbekistan und Sudan sind Beispiele; die wenig humane Art des syrischen Geheimdienstes im Umgang mit Gefangenen, wird von der CIA zielgerecht genutzt, um aus mutmaßlichen Terroristen nutzbringende Informationen herausquälen zu lassen. Dennoch liegt die Schmerzgrenze des öffentlichen Diskurses für diese Mesalliancen anscheinend niedriger als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts; die Debatte über den Charakter der amerikanisch-saudischen Beziehungen, die Frage, ob eine so enge Allianz mit einem autoritären Staat, der weltweit eine der doktrinärsten Formen islamistischer Theologie fördert, akzeptabel sei, liegt der Neigung einflussreicher Debattenbeteiligter zugrunde, sich in Zukunft lieber auf einen demokratisierten Irak zu stützen.9 Die Opfer und Mühen dieser Demokratisierung scheinen gegenüber dem moralischen Nutzen weniger bedeutsam.

Die Frontlinie verläuft zwischen dem aufgeklärten, die Menschenrechte achtenden, einem liberalen, marktwirtschaftlicher Wohlfahrt zugewandten und moralisch extrem positiv besetzten »Wir« und einem atavistischen, menschenverachtenden, staatsdirigistischen und moralisch abgewertetem »Sie«. Dieses »Sie« wird in seiner extremen Form zur Quelle aller Gefahren; der Schwenk vom Hauptfeind Al Qaeda zum Hauptfeind Irak deutet darauf hin. Al Qaeda als Nicht-Staat eignet sich weniger für die auf das Demokratiekriterium abgestellten dichotomische Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die Vorstellung von der islamistischen Terrororganisation als eigentlichem Feind provoziert Frontlinien wie »westliche Zivilisation gegen Islam« (unerwünscht aus gesellschaftspolitischen Gründen), »Staat versus Nichtstaat« (was zwar der realen Anti-Terror-Koalition entspricht, nicht aber dem Bedürfnis nach moralischer Aufladung), oder »säkular gegen fundamentalistisch« (was unerwünschte Friktionen im eigenen Lager provozieren könnte, etwa unter den fundamentalistischen Unterstützern Präsident Bushs, den durchweg republikanisch gesinnten »wiedergeborenen Christen« auf der amerikanischen Rechten). Auch die moralischen Konsequenzen einer Grenzziehung Fundamentalismus/Säkularismus sind aus westlicher Sicht unbefriedigend, weil Länder wie China oder Syrien dem »Wir« zuzurechnen wären, was den Moralwert des eigenen Lagers senkt. Diese Eindeutigkeit ist unerwünscht, gilt doch in den USA, die diesen Diskurs prägen, China trotz gewisser Interessengemeinsamkeiten gegen die Al Qaeda als künftiger Rivale, Syrien trotz der geheimdienstlichen Zusammenarbeit als Feind des Verbündeten Israel. Kurzum: Die Frontlinie Demokratie/Nichtdemokratie enthält die höchste moralische Selbstbefriedigungs- und Mobilisierungschancen.

Jede moderne Gesellschaft enthält ein Gewaltpotential.10 Dieses wird sublimiert, unterdrückt oder umgelenkt; in Extremfällen – im »wilden« Krieg, im Staatszerfall – wird es bestimmend für das gesellschaftliche Erscheinungsbild.11 Aktualisiert sich dieses Potential, so wird die wir/sie-Unterscheidung zum Mechanismus, der die negative Energie auf den Feind fokussiert, indem das Bündel der dem »anderen« zugeschriebenen Eigenschaften als hoch negativ, moralisch verwerflich (»Achse des Bösen«) und physisch gefährlich charakterisiert wird. Dies war beiderseits bei der alten Dichotomie Kommunismus/Antikommunismus der Fall und findet sich im Gegensatz Demokratie/Nichtdemokratie gleichfalls, wobei sich die unterstellte Drohung wahlweise gegen das eigene Lager oder gegen schutzlose Dritte richten kann. Die Personifizierung des Bösen in einem Schurken (Noriega, Khomeiny, Ghaddafi, Aideed, Saddam, Milosevic) verstärkt den Fokussierungseffekt. 12 Zugespitzt ist die Konzentration von Negativa und Gefährlichkeit im Diskurs über die »Schurkenstaaten«, bei denen die Verachtung von Menschenrechten, das Streben nach Massenvernichtungswaffen, die Unterstützung des Terrorismus und allgemeine Feindseligkeit zusammenfallen.13

Der dichotomische Diskurs über Schurkenstaaten trägt die Rechtfertigung von Gegengewalt in sich. Er stellt zugleich die geltenden Verfahrensregeln für Entscheidungen über Krieg und Frieden in Frage. Wenn es um den Gegensatz zwischen Demokratien und Nichtdemokratien geht, ist es fraglich, ob letzteren die Teilhabe an der Entscheidung gewährt werden soll. Nicht zufällig hat der Bundeskanzler im Kosovo-Konflikt stets davon gesprochen, dass die »Staatengemeinschaft« den militärischen Einsatz gerechtfertigt habe, obgleich lediglich das westliche Bündnis den Krieg beschlossen hatte. Und explizit hat Richard Perle, Vorsitzender des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, seine „tiefe Besorgnis“ darüber erklärt, dass den VN das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, falle doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zu.14 Die neue »Nationalen Sicherheitsstrategie« Bushs erklärt für die USA als Führungsmacht des demokratischen Lagers in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und den Schurkenstaaten das Recht, auch ohne unmittelbare Bedrohung einen Militärschlag zu beschließen, um Risiken im Keime zu ersticken.15 Solche Angriffe können – wie im Falle des Irak – auf die Veränderung des politischen Systems im angegriffenen Staat abzielen. Denn nur die Demokratisierung des Feindstaates garantiert die Beseitigung der Gefahr.

Dabei behält sich die amerikanische Regierung den Ersteinsatz von Kernwaffen vor; im Zuge der Irak-Diskussion hat sie ihn angedroht. Die Einsatzszenarien umfassen die nukleare Vergeltung gegen Schläge mit biologischen und chemischen Waffen, die Zerstörung dieser Waffen und ihrer Produktionsanlagen sowie den Angriff auf tiefverbunkerte Führungsstellungen des Gegners – die beiden letzten Einsatzformen entsprechen rein militärischen Zielsetzungen außerhalb von Abschreckungs/Vergeltungsszenarios.16 Das moralische Übel eines Kernwaffeneinsatzes mit seinen unvermeidlichen »Kollateralschäden« in der Zivilbevölkerung wird in Kauf genommen, um den Feind zu besiegen; dieser Umstand zeigt, wie groß die Distanz zwischen dem demokratischen »Wir« und dem nichtdemokratischen »Sie« sein muss, um dieses Übel zu rechtfertigen.

Es sind also keine »externen« Umstände, welche die Gewaltbereitschaft der demokratischen Gemeinwesen begründen, sondern die spezifische Motivation, die sich in Intervention und Krieg umsetzt, entspringt dem genuin demokratischen Selbstbewusstsein. Es sind die hohe Wertigkeit von Menschenrechten, die gewaltfreien Verfahren der Konfliktbearbeitung im Innern, die offene Debatte, die den Stolz der Demokratie auf sich selbst und die Abwertung der Nichtdemokratie und das Misstrauen in deren Verlässlichkeit, Friedfertigkeit, moralische Wertigkeit und – im Extremfall – Existenzberechtigung begründet. Das demokratische Selbstbewusstsein, dessen Gehalte den Argumenten zugunsten einer Friedfertigkeit der Demokratien zugrundeliegt, wird selbst zum Konfliktgrund und zur Ursache oder wenigstens zum Katalysator von Gewalt – in der Beziehung zu Dritten. Dieses Paradox ist der Kern der »Antinomien des demokratischen Friedens«.

Varianz im Diskurs und im Verhalten von Demokratien

Der dichotomische Diskurs und die Bereitschaft zu seiner Umsetzung in gewaltsames Außenverhalten weist unter demokratischen Staaten Varianz auf. In der Irak-Debatte zeigen sich diese Unterschiede. Da ist ein Diskursführer, der auf die gewaltsame Auseinandersetzung zusteuert: die Vereinigten Staaten (ebenso Israel); wir notieren proaktive Gefolgschaft in Großbritannien und Spanien, mit Abstrichen auch in Italien und Polen; zögerliche Mitläuferschaft in Dänemark, Ungarn, der Tschechischen Republik und den demokratischen Transformationsländern Osteuropas; Widerstreben und partielle Kritik in den Niederlanden, Kanada, den skandinavischen Ländern, Österreich sowie Indien; kritische Meinungsführerschaft in Frankreich; und Totalopposition in Deutschland. Der Blick auf die Wirkungsweise demokratischer Antinomien reicht nicht aus, um diese Ausdifferenzierung zu erklären. Es empfiehlt sich, einen Blick auf die Rahmenbedingungen zu werfen, um die interdemokratische Varianz aufzuhellen:

  • Allianzbeziehungen beeinflussen den Diskurs.17 Sie schaffen Verpflichtungen und Erwartungen von Solidarität oder Konformität sowie sicherheitspolitische Abhängigkeiten. Sie stellen Einflusskanäle bereit, die von den stärkeren zu den schwächeren Mitgliedern laufen. In einer asymmetrischen Allianz wie der NATO tragen sie zur Dominanz der Führungsmacht bei. Demokratische Allianzbeziehungen helfen also, den Unterschied in der Position zwischen alliierten und ungebundenen Staaten zu erklären. Sie beantworten die Frage, warum kleinere Allianzmitglieder mit starken Sicherheitsbedürfnissen dazu neigen, Positionen der Führungsmacht zu übernehmen.
  • Militärtechnische Entwicklungen können dazu führen, dass die nutzenorientierten Bedenken gegen Kriege nachlassen. Wenn Kriege kurz dauern, auf der eigenen und auf der gegnerischen Seite wenig Opfer fordern und wahrscheinlich im Sieg enden werden, fällt der Entschluss leichter. Eben dies ist der – versprochene – Trend der »Revolution in militärischen Angelegenheiten«, die in den USA weit fortgeschritten ist.18
  • Die Demokratie gibt auch Ideologien und Interessen, die von den friedliebenden Durchschnittspräferenzen abweichen, Durchsetzungschancen, wenn sie über Ressourcen und Zugangschancen zu den Entscheidungsprozessen verfügen. Die Weltbilder der sicherheitspolitischen Eliten sind stärker von Feindbildern und vom militärischen Denken geprägt als die der Durchschnittsmenschen, und es gibt mächtige rüstungswirtschaftliche Interessen. Wo ihr Einfluss überproportional wächst – unter legaler Nutzung der Verfahren in der Demokratie 19 – verschiebt sich das Diskurs- und Entscheidungsspektrum weg vom Kant‘schen Ideal.
  • Schließlich fließen in die Identitäten und die weltpolitischen Rollen der Demokratien20 andere Elemente ein als das Bewusstsein »ich bin demokratisch«. Mit dem Demokratie-Selbstbewusstsein verbinden sich Konzepte wie
  • »Weltführungsmacht« (besondere Verantwortung und Entscheidungsbefugnis),
  • »Special Relationship« (starke Loyalität zum Bündnispartner),
  • »Mission Civilisatrice« (demonstrative Unabhängigkeit),
  • »Zivilmacht« (militärische Zurückhaltung),
  • »Good Citizen« (unbedingte Verfahrenstreue),

verbinden sich Gedächtnissyndrome wie

  • die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit (militärische Zurückhaltung),
  • die frühere Zugehörigkeit zum Warschauer Vertrag (Beweis besonderer NATO-Treue),
  • der einstige Status als Kolonialmacht (weltpolitische Verantwortung).

All diese Elemente verbinden sich mit dem »demokratischen Selbstbewusstsein«. Präferenzen und Handlungsoptionen in Bezug auf äußeres Gewaltverhalten werden durch diese Varianten aufgefächert.

Unterschied im Diskurs der Regierungen und der Öffentlichkeit

Regierungen und Völker stimmen nicht zwangsläufig überein. Durchweg in allen Demokratien tragen Mehrheiten den dichotomischen Diskurs mit: Saddam Hussein gilt als gefährlicher, moralisch minderwertiger Feind; seine Ablösung wird gewünscht. Ein Alleingang ohne Mandat der Vereinten Nationen wird abgelehnt. Der Anspruch des Völkerrechts auf Universalismus dominiert über den Versuch, aus dem dichotomischen Diskurs eine partikularistische Entscheidungs-Prärogative für die Demokratien abzuleiten. 21

In vielen Demokratien sitzt die Ablehnung des Krieges noch tiefer. Sie bezieht sich nicht lediglich auf das Verfahren, sondern auf die Rechtfertigung der Gewalt unter den gegebenen Umständen. Da eine unmittelbare Gefahr nicht zu erkennen ist, da auch keine akuten, massenhaft tödlichen Verletzungen von Menschenrechten vorliegen wird eine Kriegsbeteiligung abgelehnt.

Die Kantsche Prognose über die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger trifft auf die öffentliche Meinung in den Demokratien zu; die öffentlichen Meinungen sind weniger manipulationsanfällig, als dies gelegentlich angenommen wird. Es zeigt andererseits, dass die in der Theorie des Demokratischen Friedens angenommene Umsetzung des Volkswillens in Regierungspolitik nicht vorausgesetzt werden kann: Die Kriegsbefürworter bilden eine von ihren Völkern abgehobene Diskursgemeinschaft. Daraus lässt sich schließen, dass die oben diskutierten Rahmenbedingungen auf Regierungen und Bevölkerung unterschiedliche Wirkungen ausüben.

  • Allianzzwänge teilen sich den Mitgliedern der Exekutive, die in die Kommunikationen und die institutionelle Kooperation mit ihren Ritualen eingebunden sind, ungleich stärker mit als den Bevölkerungen,22 für die das Bündnis eine abstrakte Verpflichtung jenseits des Alltagslebens darstellt.
  • Vermutlich gilt dies auch für die Wirkung der Militärtechnik und dem dadurch geänderten Nutzenkalkül. Den Entscheidungsträgern sind militärische Szenarien vertraut; sie haben ein klareres (wenn auch nicht zwingend korrektes) Bild über Risiken und Chancen eines Krieges. Für die Bevölkerung ist Krieg wohl stets ein bedrohliches Syndrom, das spontane Abwehr provoziert.
  • Identitätsbewusstsein dürfte Exekutive und Volk nicht scheiden; Rollenvorstellungen hingegen unter Umständen schon. Rollen bestehen aus Eigen- und Fremdzuschreibungen und werden in ständiger Praxis implementiert. Für internationale Rollen fällt sowohl die Wahrnehmung der Fremdzuschreibung wie die implementierende Praxis der Exekutive zu, während die auswärtige Rolle für die Bevölkerung diskursives Abstraktum ist, welches im Alltagsverhalten selten praktiziert werden muss (etwa wenn man als Tourist im Ausland in einer Diskussion zum Vertreter der eigenen Außenpolitik mutiert).
  • Sicherheitspolitische Diskursgemeinschaften und materielle Rüstungsinteressen schließlich wirken mit höherer Konzentration und Wirkung auf die Exekutive – auf deren Beeinflussung sie abzielen – als auf die Bevölkerung. Auch dieser Faktor trägt zu einer Differenzierung zwischen Regierung und Volk bei.23

Selbstbewusstsein, Arroganz und Demut

Die »Antinomien« kommen im Selbstbild der Demokratien nicht vor. Sie bleiben ein blinder Fleck, der zur ihrer Arroganz im internationalen System beiträgt. Die Weltführungsmacht USA ragt auch in dem Anspruch, ohne völkerrechtliche Verfahren Richtungsentscheidungen zu treffen, aus der Gesamtheit der Demokratien heraus. Die NATO hat diese Option im »Neuen Strategischen Konzept« in Anspruch genommen und im Kosovo-Krieg auch praktiziert. Mit zunehmender Überlegenheit fällt es schwer, die Heterogenität, die die politischen Systeme auf dem Globus immer noch auszeichnet, zu ertragen.

Bedenklich und im »Demokratischen Frieden« nicht vorgesehen ist der Einfluss religiöser Elemente. Wo sich demokratisches Selbstbewusstsein mit religiösem Sendungsbewusstsein vermischt, spitzt sich die wir/sie-Dichotomie zu, die Bereitschaft zur Gewaltanwendung steigt; im westlichen Lager nicht anders als bei Fundamentalisten anderer Prägung.24 Wenn Präsident Bush vom „Kreuzzug“ oder im Zusammenhang mit einem Irak-Krieg vom „göttlichen Auftrag der USA“ sprach „sich zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen“, so ist dies mehr als rhetorische Floskel, es entspricht tiefer Überzeugung.25Das religiöse Erbe der »westlichen Zivilisation« ist ambivalent.26 Es hält auch die Rezeptur der Demut bereit, die Karl W. Deutsch vor vier Jahrzehnten gegen die Arroganz der Macht empfohlen hat.27 Das Wissen um die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten gehört ebenso dazu wie das Bewusstsein eigener Fehlbarkeit. Die Einsicht in die Antinomien eben der Strukturen und Prozesse, von denen wir die eigene Friedlichkeit erhoffen, unterläuft die Arroganz und gibt Anlass zur Demut.

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des seit Juli 2000 laufenden Forschungsprogramms der HSFK »Antinomien des demokratischen Friedens«, in dessen Rahmen die Widerspüchlichkeiten und Anomalien der Theorie in zahlreichen Projekten untersucht wird.

Anmerkungen

1) vgl. u.a. Russett, Bruce: Grasping the Democratic Peace, Principles for a Post-Cold War World, Princeton, NJ: Princeton University Press 1993; Owen, John M.: How Liberalism Produces Democratic Peace, in: International Security, Bd. 19, Nr. 2, 1994, S. 87-125; Ray, James Lee: Democracy and International Conflict, An Evalutation of the Democratic Peace Proposition, Columbia, SC: University of South Carolina Press 1995; Doyle, Michael W.: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism, and Socialism, New York/London 1997.

2) Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace, Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

3) Geis, Anna: Diagnose: Doppelbefund – Ursache: ungeklärt? Die Kontroverse um den »demokratischen Frieden«, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 42, Nr. 2, 2001, S. 283-298; Errol A. Henderson: Democracy and War. The End of an Illusion?, Boulder, Col. 2002.

4) Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Bd. 3, Nr. 1, 1996, S. 79-102.; Benoit, Kenneth: Democracies really are more pacific (in general), in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 40, Nr. 4, 1996, S. 636-657; Rummel, Rudolph J.: Libertarianism and International Violence, in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 29, Nr. 3, 1983, S. 419-455.; Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

5) Risse-Kappen, Thomas: Democratic Peace – Warlike Democracies? A Social Constructivist Interpretation of the Liberal Argument, in: European Journal of International Relations, Bd. 1, Nr. 4, 1995b, S. 491-517.

6) Müller, Harald: Antinomien des demokratischen Friedens, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 43, Nr. 1, 2002, S. 46-81.

7) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, München 1963.

8) Lebow, Richard Ned / Gross Stein, Janice: We all lost the Cold War, Princeton 1994, Kap. 1.

9) vgl. die Argumentation bei Pollack, der recht gut die Überlegungen in der Administration Bush reflektert, Pollack, Kenneth M.: The Threatening Storm: The Case for Invading Iraq, New York, Random House 2002.

10) Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, München 1992.

11) Sofsky, Wolfgang: Der wilde Krieg, in: ders., Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt 2002, S. 147-183.

12) Müller, Harald: Zwischen Information, Inszenierung und Zensur. Zum Verhältnis von Demokratie, Krieg und Medien. HSFK-Standpunkte 4/2002.

13) Litwak, Robert S.: Rogue States and U.S. Foreign Policy. Containment after the Cold War, Washington, D.C. 2000; Klare, Michael: Rogue States and Nuclear Outlaws. America’s Search for a New Foreign Policy, New York 1995.

14) International Herald Tribune, 28. 11. 2002, S. 4.

15) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Washington, D.C., September 2002.

16) U.S. Department of Defense: Nuclear Posture Review Report (excerpts), Washington, D.C. 2002, http://www.globalsecurity.org, 14. Mar. 2002.

17) Risse-Kappen, Thomas: Cooperation among Democracies: The European Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1995a.

18) Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Revolution in Military Affairs. Abgesang kooperativer Sicherheitspolitik der Demokratien?, HSFK-Report Nr. 8/2001, Frankfurt/M; Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Mit Kant in den Krieg? Das problematische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und der Revolution in Military Affairs, in: Friedenswarte 4/2002.

19) Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy, New York 1957; für ein empirisches Beispiel vgl. Sengaas‘ Studie zum amerikanischen Rüstungskomplex in Dieter Senghaas: Rüstungs und Militarismus, Frankfurt/M 1972.

20) Wisotzki, Simone: Die Nuklearwaffenpolitik Großbritanniens und Frankreichs. Eine konstruktivistische Analysie, Frankfurt/M 2002; Kirste, Knut / Maull, Hanns W.: Zivilmacht und Rollentheorie, in Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Jg. 3, Haft 2/1996, S. 283-312.

21) Chicago Council on Foreign Relations / German Marshall Fund Of The United States: Worldviews 2002, www.worldviews.org, 2002.

22) vgl. die Überlegungen bei Wolf, Klaus Dieter: Die Neue Staatsräson – Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden: Nomos 2000.

23) Knopf, Jeffrey W.: Domestic Society and International Cooperation, Cambridge: Cambridge University Press 1998.

24) Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Fundamentalism, Genus and Species, in: Marty, Martin E. / Appleby, R. Scott (Hg.): The Fundamentalism Project, Bd.5, Chicago/London 1995, 399-425; Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Explaining Fundamentalisms, in: ebd., 425-444.

25) lt. Christian Wernicke/Nico Fried, Nato will ihren Zerfall abwenden, in Süddeutsche Zeitung, 12. 2. 2003, S. 1.

26) Appleby, R. Scott: The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence and Reconciliation, Lanham u.a., 2000.

27) Deutsch, Karl W.: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg/B 1970, S. 309-311.

Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Professor für Internationale Beziehungen an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/2 Machtfragen, Seite