W&F 2022/3

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Impulse für eine neue Friedensordnung

von Martina Fischer

Mit der Forderung nach Intensivierung der Diplomatie durchzudringen ist angesichts der dramatischen Bilder und des Kriegsverlaufs in der Ukraine nicht leicht – dennoch bleibt letztlich keine andere Wahl. Es geht darum, Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Doch wie können die mit dem Krieg verbundenen Konflikte transformiert werden, und welche historischen Entwicklungen gilt es dabei zu berücksichtigen? Kann angesichts erneuter Blockkonfrontation in Europa überhaupt noch eine neue Sicherheits- und Friedensordnung entstehen? Welche Rolle können die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei spielen?

Der Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine stellt einen massiven Völkerrechtsbruch und Zerstörungsakt gegen die multilaterale Ordnung dar, und er verhöhnt das humanitäre Völkerrecht, das zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Gräueltaten, die diese Kämpfe begleiten, sollten von unabhängigen Gerichten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entscheidungen von internationalen Organisationen und Einzelstaaten für Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Technologietransfer und – soweit möglich – auch im Bereich der Energie sind als weltweites Signal und aus Gründen der Solidarität mit der Ukraine unbedingt erforderlich. Allerdings werden sie vermutlich erst längerfristig Wirkung entfalten.

Auch wenn die Bilder von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine es sehr schwer machen, so müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden. Es geht darum Menschenleben zu retten, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Dafür muss auch der alles überwölbende Konflikt zwischen der NATO und Russland deeskaliert werden, denn letztlich will der Kreml mit diesem Krieg gegenüber der NATO seine Macht demonstrieren und die »westliche Vorherrschaft« brechen. Die Hoffnung auf eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sollte man nicht aufgeben, auch wenn sie sich wohl allenfalls langfristig realisieren lassen wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren und nach neuen Wegen für Rüstungskontrolle zu suchen.

Gefährliche Dynamik einhegen

Eine Politik der Stärke, wie sie durch internationale Institutionen, die EU-Mitgliedsländer und weitere Staaten mithilfe von Sanktionen beschlossen wurde, ist wichtig, um auf die russische Regierung Druck auszuüben. Die EU hat sich in unerwartet rascher Einmütigkeit zu mehreren Sanktionspaketen entschlossen. Allerdings weisen erfahrene Friedensforscher wie Tobias Debiel und Herbert Wulf (2022) auf die Ambivalenz und auch auf das eskalierende Potenzial von Sanktionen hin: Sie müssten Russland hart treffen, aber nicht vernichten. Tatsächlich muss man bei der Festlegung von Sanktionen die Wirkung für alle Seiten sorgfältig kalkulieren. Diese Herausforderung und die Betrachtung friedenspolitischer Minimalvoraussetzungen für Sanktionen (vgl. Werthes und Hussak 2022) sind wesentlich für den Erfolg von Sanktionsregimen. Die Einmütigkeit der Staaten der EU aus den ersten Kriegstagen ist allerdings mittlerweile einem eher gemischten Bild gewichen.

Weniger schwer taten sich die Mitgliedstaaten dagegen beim Thema Waffenlieferungen: Über die 2021 geschaffene und von vielen NGOs nicht nur wegen des irreführenden Namens kritisierte sogenannte »Europäische Friedensfazilität« (vgl. Fischer 2021), mit der neuerdings auch Waffen und Munition aus europäischer Produktion im Rahmen von Militärhilfe an Drittstaaten übergeben werden dürfen, wurden in den vergangenen Monaten große Mengen von Kriegsmaterial in die Ukraine geliefert.

Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine steht angesichts eines Angriffskriegs außer Frage. Aber auch bei der militärischen Unterstützung sei Vorsicht geboten, so argumentieren die Friedensforscher Debiel und Wulf: Wenn sie über die Lieferung von Defensivwaffen hinausgehe, sei das „ein Spiel mit dem Feuer“ und ein Schritt auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. „Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen“ (Ebd. 2022). Die Eskalation in einen dritten Weltkrieg aber gilt es unbedingt zu verhindern.

Um sie zu verhindern, braucht es intensive diplomatische Bemühungen auf unterschiedlichen Ebenen. Aktuell müssten alle beteiligten Parteien mehr miteinander reden denn je, denn Fehlleistungen, die schon in Friedenszeiten zum militärischen Alltag gehören (z.B. Luftraumverletzungen), können in einer hocheskalierten Situation zum Desaster führen. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl (2022a) hat überzeugend illustriert, wohin es führt, wenn nicht mehr gesprochen wird und sich die Energie nur mehr auf die Vernichtung des gegnerischen Systems richtet: gemeinsam in den Abgrund. Um im Gespräch zu bleiben, so Glasl, sind Dämonisierung und Polemik der falsche Weg.

Hin zum Waffenstillstand?

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) haben in einem Aufsatz in »Foreign Affairs« (2022) bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet. Sie gehen davon aus, dass sich der Krieg Jahre oder Jahrzehnte hinziehen und enorme Opfer und ökonomische Schäden mit sich bringen wird, womit sich die Gefahr erhöht, dass er sich ausweitet und dass die NATO-Staaten hineingezogen werden. Mit den Bildern weiterer Gräueltaten verstärke sich das Risiko, dass mit Maßnahmen reagiert werde, die weitere Eskalationsgefahren mit sich bringen – mittlerweile haben die bekannten Massaker in der Ukraine genau dies geschaffen: sich schließende Fenster für Gesprächsbereitschaft und weitere Eskalation.

Graham und Menon fordern, das Leiden durch diplomatisches Engagement und eine politische Übereinkunft zu beenden. Ein Waffenstillstand würde eine humanitäre Versorgung von Verwundeten und Geflüchteten innerhalb und jenseits der Ukraine ermöglichen und die Voraussetzungen für die Anbahnung von Verhandlungen verbessern. Die Ukraine und ihre Unterstützer*innen müssten überlegen, welche Kompromisse sie mittragen könnten. Aus ukrainischer Sicht wären Sicherheitsgarantien westlicher Länder für eine Neutralitätslösung zwingend, und diese müssten von Russland akzeptiert werden, das sich auch an den Kosten für den Wiederaufbau beteiligen müsste. Die westlichen Staaten wiederum müssten klären, unter welchen Bedingungen sie die Sanktionen gegenüber Russland wieder lockern könnten, um einen Anreiz für Kooperation zu schaffen.

Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen für einen Waffenstillstand zu definieren, so Graham und Menon. Aber Verhandlungen könnten sich nicht auf die Ukraine und Russland beschränken, denn neben der geopolitischen Orientierung der Ukraine müsse man auch Moskaus Bedenken bezüglich der europäischen Sicherheitsarchitektur adressieren. Dazu werde der Kreml mit den Vereinigten Staaten verhandeln wollen, die als einziges Land – neben Russland – über das militärische Potenzial verfügen, die Machtbalance auf dem Kontinent zu beeinflussen. Die USA müssten folglich als Garant für ein Friedensabkommen fungieren. Die NATO-Osterweiterung stehe im Zentrum einer solchen Debatte. Bislang, so Graham und Menon, hätten die USA und ihre Alliierten jegliche Diskussion dazu kategorisch abgelehnt. Da der Kreml seinen Widerstand gegen den Beitritt der Ukraine nicht fallen lassen werde, müsse man ausloten, ob er die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, wenn ausgeschlossen wird, dass NATO-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkte in die Ukraine verlagert werden. Im Gegenzug müsste Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten.

Alle diplomatischen Foren und Kanäle nutzen

Die ukrainische Regierung hat im März die Möglichkeit einer Neutralität mit Sicherheitsgarantien und einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine als mögliches Verhandlungsthema in den Raum gestellt. Der russische Präsident deutete an, der Krieg könne enden, wenn die Ukraine auf den Donbass, die Krim und einen NATO-Beitritt verzichte. Allerdings wurden diese Optionen offenbar bislang nicht ernsthaft verhandelt. Ob der Kreml derzeit überhaupt an Verhandlungen interessiert ist, ist schwer zu beurteilen. Aktuell scheint er Feuerpausen eher für die Umgruppierung von Truppen zu nutzen. Das könnte sich aber ändern, wenn irgendwann die Kosten und Verluste auf der eigenen Seite und der Preis weiterer Kriegsführung (z.B. die Folgen von Sanktionen) als zu hoch eingeschätzt werden.

Für diesen Moment sollten alle direkt und indirekt beteiligten Konfliktparteien vorbereitet und daher für diplomatische Optionen offenbleiben. Dann könnte eine Vermittlung durch dritte Parteien ins Spiel kommen, die mit den Beteiligten nach einem gesichtswahrenden Ausstieg suchen. So könnte etwa ein Team von mediationserfahrenen Diplomat*innen unter Leitung einer*s UN-Sonderbeauftragten mit Russland, der Ukraine und der NATO nach Kompromissen suchen. Vermittler*innen sollten aus Staaten kommen, die nicht direkt in den Konflikt eingebunden und für alle Seiten akzeptabel sind. Irland, in Gestalt seiner ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtsbeauftragten Mary Robinson könnte dafür beispielsweise in Frage kommen, zusammen mit der OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid, einer erfahrenen Diplomatin, die das Atomabkommen mit dem Iran maßgeblich mitverhandelt hat. Die Potenziale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollten dafür unbedingt genutzt werden. Ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Instrumente, wie Dialog- und Mediationsformate sowie Beobachtungsmaßnahmen, kamen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bereits zum Einsatz, wurden jedoch nie ausreichend unterstützt. Um das zu verstehen, ist ein historischer Rückblick nützlich.

Verpasste Chancen 1990-2022

Für den Historiker Bernd Greiner (2022) wurden nach der Auflösung der Sowjetunion viele Chancen verpasst, Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken. Die 1990er-Jahre bezeichnet er gar als ein „sicherheitspolitisch vergeudetes Jahrzehnt“ (Ebd.). Statt auf die OSZE zu setzen und eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland zu entwerfen, setzten einflussreiche Berater*innen und Regierungen insbesondere in den USA auf die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses – ohne Not und in einer Zeit, in der Russland keinerlei Bedrohung für die NATO darstellte. Der UN-Experte Andreas Zumach (2022) sprach in diesem Zusammenhang von der „Hybris“ der westlichen Mächte. Eine Reihe von erfahrenen Diplomat*innen und Politiker*innen hatten vor solchen Schritten gewarnt. Sie befürchteten, dass diese Expansionspolitik all jenen Auftrieb geben könnte, die die Auflösung des sowjetischen Großreichs schwer verwinden konnten und sich weiterhin an imperialen, großrussischen Ideen orientierten, so Zumach. Mit der Besorgnis lagen sie offenbar nicht ganz falsch. Nicht nur im Kreml, sondern auch in nicht unerheblichen Teilen der russischen Gesellschaft stieß die NATO-Osterweiterung auf Ablehnung.

Fehler Nr. 1: Militärische Bündnispolitik statt »kooperativer Sicherheit«

Zwar wurde in der NATO-Russland-Grundakte die Integration der osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren noch gemeinsam verhandelt. Gleichwohl berief sich die russische Regierung in den vergangenen Jahren zunehmend auf eine Ankündigung der Regierung Kohl/Genscher und von US-Außenminister James Baker von 1990, auf eine NATO-Osterweiterung zu verzichten. Als die Ukraine und Georgien neben der EU-Mitgliedschaft auch die Aufnahme in die NATO begehrten, reagierten die deutsche und die französische Regierung daher entsprechend zurückhaltend. Jedoch signalisierte die NATO auf dem Gipfel in Bukarest 2008 auf Drängen der USA, dass die Tür für eine Mitgliedschaft beiden Ländern offenstehe, wobei der Zeitrahmen offengelassen wurde. Eine »Warnrede«, die Putin 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu diesem Thema gehalten hatte, wurde ignoriert. Die in Bukarest gefundene Formel wertete der Kreml als „NATO-Mitgliedschaftsperspektive und eine nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre“, so berichtete der vormalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (2021). Bei einer Pressekonferenz am 14.2.2022 bezeichnete er diesen Schritt als gravierende Fehlentscheidung des Bündnisses (Ischinger 2022).

2014 bekräftigte der NATO-Generalsekretär erneut die Offenheit für den ukrainischen Beitritt. Putin reagierte mit einer Destabilisierung der beitrittswilligen Länder, indem er die Konflikte in Georgien eskalierte, pro-russische Separatisten im Donbass unterstützte und schließlich die Krim annektierte. Im selben Jahr verlieh die US-amerikanische Regierung der Ukraine den Status eines »major-non-­NATO-ally«, was umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglichte, und stattete sie fortan umfassend mit Waffen aus. Am 1.9. und 20.11.2021 vereinbarten die US-amerikanische und die ukrainische Regierung schließlich eine »strategische Partnerschaft« beider Länder, mit der die USA zusicherten, die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen zu unterstützen, sowie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu sichern (US Department of State 2021).

Auch auf wirtschaftlicher Ebene gab es massive Zerwürfnisse: Während Russland in den 2010er-Jahren in Europa eine Eurasische Wirtschaftsunion unter Einschluss der Ukraine anstrebte, betonten westliche Regierungen die Selbstbestimmung des Landes und seine Einbindung in den Westen. Das Assoziierungsabkommen, das die EU 2014 mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnete, war Teil des Wettlaufs konkurrierender und einander ausschließender Integrationskonzepte. Insofern ist die EU aus der Sicht des Kreml Teil des Problems und nicht der Lösung – sie konnte daher auch nicht wirklich eine Mediationsfunktion in der aktuellen Situation übernehmen. In der gegenwärtigen Situation scheint das auch nicht gewünscht zu sein.

Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen weitere Faktoren bei, etwa Völkerrechtsverletzungen der NATO-Mitgliedstaaten im Krieg um Kosovo, im Irak-Krieg und durch Überschreitung des UN-Mandats in Libyen (siehe Zumach in W&F 2/2022).

Fehler Nr. 2: Erosion der Rüstungskontrolle

Dazu kamen die Auflösung aller vertrauensbildenden Foren und der Abbruch von Rüstungskontrollvereinbarungen, die in der Endphase des Kalten Kriegs errungen worden waren, auf Initiative von US-Regierungen. Wolfgang Richter (2016) verweist in einem Hintergrundaufsatz auf den hoffnungsvollen Start, der 1990 mit der Charta von Paris und 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) mit acht Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschließlich Russlands gegeben war. Dieser sah ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen vor.

Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO im Jahr 1997, mit dem der Kreml die Pariser Vereinbarung gefährdet sah, verband man immerhin noch das Versprechen, keine substanziellen Kampfgruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren, die OSZE zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte zu intensivieren. Weiterhin galt das in der Europäischen Sicherheitscharta verankerte Prinzip der freien Bündniswahl, jedoch verknüpft mit der Klausel, dass kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken oder privilegierte Einflusssphären schaffen dürfe. So sollte – auf der Basis der KSE-Grundakte – ein „zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden. Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise“, so Wolfgang Richter schon vor einigen Jahren.

Der Grund dafür lag im Kurswechsel, den die USA unter der Bush-Administration vollzogen. Vorschläge aus dem Kreml, die OSZE durch eine verbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück. Man forcierte stattdessen die Erweiterung der NATO um das Baltikum, Rumänien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer. Die USA stationierten Kampfgruppen im südöstlichen Flankengebiet und strategische Raketenstellungen in Polen und Tschechien. 2001 kündigte Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag zum Verbot antiballistischer Raketenabwehr. Danach kündigte die US-Regierung den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Europa an, und schließlich suspendierte sie auch noch die Ratifizierung der Anpassungsvereinbarung des KSE-Vertrags. Vor diesem Hintergrund bildeten die Pläne zu weiterer Bündnisausdehnung aus Sicht des Kreml eine Provokation, meint Wolfgang Richter in seinem Aufsatz. Auch unter Präsident Obama habe die Rüstungskontrolle keinen Neuanfang erlebt. Die NATO-Strategie von Lissabon habe 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel für die Stabilität Europas beschrieben, ohne die OSZE auch nur zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat habe versagt, denn „anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen“ (Ebd.).

»Kooperative Sicherheit« wird weiterhin benötigt

Die genannten Versäumnisse und Fehlentscheidungen rechtfertigen keinesfalls die Reaktionen der russischen Regierung, weder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, noch die Förderung des Kriegs in der Ostukraine, der schon von 2014 bis Ende 2021 mehr als 14.000 Todesopfer forderte (Swissinfo 2022). Sie rechtfertigen schon gar nicht einen Angriffskrieg, wie ihn die Ukraine nun erleiden muss. Für diese militärische Eskalation, für die toten und versehrten Menschen und Seelen trägt ausschließlich der Kreml Verantwortung. Aber die Erosion der Rüstungskontrolle und dass Russland wiederholt von westlicher Seite in wichtigen Entscheidungen und Verhandlungsforen an den Rand gedrängt wurde, sind wichtige Wegmarken in der Geschichte eines Konflikts, der sich seit vielen Jahren entwickelt und immer weiter zugespitzt hat (vgl. Fischer 2022). Das Verhalten der NATO-Mitgliedstaaten hat zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen und den großrussischen Kräften, die jetzt den Kurs bestimmen, entscheidende Argumente für die Legitimation der Aggression geliefert.

Wer den Krieg und Putins Rhetorik nun für umfassende Schuldzuweisungen an die Architekt*innen der Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts nutzt, macht es sich zu einfach. Das Konzept der »kooperativen Sicherheit«, die Verständigung zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags und die schon erwähnten Rüstungskontrollvereinbarungen haben entscheidend zur Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen und ermöglicht, dass in Europa mehr Menschen als je zuvor in relativer Sicherheit und demokratischen Verhältnissen leben konnten. Man hätte diese Ansätze nicht leichtfertig über Bord werfen und auf die Dominanz der militärischen Logik setzen dürfen (vgl. auch Greiner 2022).

Man sollte die Hoffnung auf eine langfristige europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur nicht einfach aufgeben. Wenngleich eine mehrjährige Konferenz, die sich um die Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa bemüht, wie sie noch 2021 von ehemaligen Bundeswehroffizieren, Diplomaten und Friedensforscher*innen gefordert wurde (Varwick et al 2021), kurzfristig nicht umsetzbar erscheint, ist sie nicht völlig obsolet. Eine Neuauflage des »Helsinki-Prozesses« wäre wichtig, meint auch Herbert Wulf (2022): ein politisches Projekt, in dem atomare Abschreckung eingehegt wird, mit dem Ziel, wieder zu einer vorhersagbaren Politik zurückzukehren und den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen über grenznahe Waffensysteme zu ebnen. Voraussetzung dafür sei die Respektierung völkerrechtlicher Prinzipien, die in den vergangenen Jahren nicht nur von Russland, sondern auch von westlichen Akteuren verletzt wurden.

Was es braucht

Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die von allen Seiten mitgetragen wird, die garantiert, dass Grenzen geachtet werden und dass sich Sicherheit nicht nur an militärischer Logik, sondern an den Bedürfnissen der Menschen – also am UN-Konzept der »menschlichen Sicherheit« orientiert. Auch die EU kann dazu beitragen, indem sie die UNO und OSZE als Systeme kollektiver und kooperativer Sicherheit in Zukunft noch viel umfassender als bisher unterstützt, anstatt sich auf den Ausbau eigener Militärpotenziale und die Stärkung der NATO zu konzentrieren. Eine solche Struktur sollte weder von Russland diktiert, noch von den Vereinigten Staaten dominiert werden, sondern eine neue, europäische Ausrichtung haben. Die Grundlage dafür bietet die OSZE, nicht der Ausbau von Militärbündnissen, die sich waffenstarrend gegenüberstehen. Dialogforen, die Vertrauensbildung und Rüstungsbegrenzung ermöglichen, müssen wiederbelebt und reformiert werden. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass sich im Kreml irgendwann wieder Berater*innen Gehör verschaffen, die die Vorteile kooperativer Sicherheitsstrukturen zu schätzen wissen.

Man sollte alles daransetzen, die in der OSZE existierenden Instrumente für Rüstungskontrolle weiterzuentwickeln. Ziel ist eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege (Verzicht auf die Unterstützung von bewaffneten Akteuren in Drittstaaten durch Waffen, mediale Einflussnahme und Cyberattacken – bislang ist all das sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Militärdoktrin verankert). Zudem sollte man die USA und Russland dafür gewinnen, dem kürzlich (von der Trump-Regierung) gekündigten Open-Skies-Abkommen, das vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum vorsieht, wieder beizutreten. Das Überleben der Menschheit wird maßgeblich davon abhängen wird, ob es gelingt, mit den damaligen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen, aber auch mit China, Indien, Iran und Israel eine globale Sicherheits- und Friedensarchitektur auszuhandeln (vgl. Glasl 2022b).

Auch auf globaler Ebene müssen Kommunikationskanäle und Abkommen etabliert werden, die einen »Weltkrieg aus Versehen« und ein völlig entgrenztes Wettrüsten verhindern, das in einer multipolaren Welt noch viel gefährlichere Formen annimmt, als im Kalten Krieg. Schon jetzt übertreffen die Arsenale der NATO-Mitgliedstaaten die Potenziale Russlands übrigens um das Vier- bis Fünffache. Das sollte für effektive Landes-und Bündnisverteidigung reichen. Weitere Hochrüstung würde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern die Mittel vernichten, die für die Bewältigung der großen Krisen, die die Menschheit herausfordern – Pandemien, die Klimakrise und das Artensterben – dringend benötigt werden.

Der Text von Martina Fischer wurde in veränderter Form am 26.4.2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung online veröffentlicht: „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben“, in: Deutschland Archiv (bpb.de/507623).

Literatur

Debiel, T.; Wulf, H. (2022): Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg. INEF Development and Peace Blog, 14.3.2022.

Fischer, M. (2021): Zivile Potentiale der EU ausbauen. Krisenprävention und Friedensförderung stärken. In: W&F 1/2021, S. 10-13.

Fischer, M. (2022): Warum es in der Ukraine-Krise Kooperation braucht. Blogbeitrag, Brot für die Welt, 07.02.2022.

Glasl, F. (2022a): Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine. Online-Vortrag, 24.03.2022. Aufzeichnung des Vortrags steht online zur Verfügung.

Glasl, F. (2022b): Aufruf an verantwortungsbewusste Menschen in Politik und Zivilgesellschaft zum Beenden des Ukraine-Kriegs. Trigon Entwicklungsberatung, 28.03.2022.

Graham, Th.; Menon, R. (2022): How to make peace with Putin. The west must move quickly to end the war in Ukraine. Foreign Affairs, 21.03.2022.

Greiner, B. (2022): Was lief schief seit dem Ende des Kalten Krieges? Deutschland Archiv Blog, bpb, 01.04.2022.

Ischinger, W. (2021): Was jetzt zu tun ist. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2021.

Ischinger, W. (2022): Präsentation des Munich Security Report 2021 auf der Bundespressekonferenz, 14.02.2022.

Richter, W. (2016): Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise. Thema Kriege und Konflikte, bpb Homepage, 05.09.2016.

Swissinfo (2022): Dauerkonflikt in der Ostukraine: UN erhöht Opferzahl deutlich, 12.01.2022.

US Department of State (2021): U.S.-Ukraine charter on strategic partnership. Presseerklärung, 10.11.2021.

Varwick, J.; u.v.a. (2021): Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland. Stellungnahme, 05.12.2021.

Werthes, S.; Hussak, M. (2022): Das Sanktionsregime gegen Russland. Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine. In W&F 2/2022, S. 18-21.

Wulf, H. (2022): Escalation, de-escalation and perhaps – eventually – an end to the war? Toda Policy Brief 128, Toda Peace Institute, April 2022.

Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le Monde Diplomatique – Deutsche Edition, 10.03.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Martina Fischer ist Politikwissenschaftlerin und war knapp 20 Jahre bei der Berg­hof Foundation in Berlin tätig. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 21–25