Die EU: Zerrissen zwischen Anspruch und Weltgeschehen
von David Scheuing
Das Jahr 2021 hat unter neuen weltpolitischen Vorzeichen begonnen. Der Brexit ist nun vollständig erfolgt, mit den zu erwartenden Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft in Großbritannien wie in Europa. Die USA vollziehen unter Joe Biden eine Kehrtwende in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens und der Außenpolitik. Das erfolgt zwar mit einem erstaunlich linken Programm, was innenpolitische Themen anbelangt, aber immer noch keiner erwartbaren Abkehr von der Doktrin nuklearer Abschreckung, wie Jacqueline Cabasso in ihrem Gastkommentar deutlich macht. Die Pandemie ist mit Beginn der weltweiten Impfkampagnen in eine neue Phase getreten. Einerseits zeigt sich endlich ein Silberstreif am Horizont, dort aber drohen auch neue soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten (Bildungsgerechtigkeit, Zugang zu medizinischer Versorgung usw.) – ein absehbares Konfliktpotential für viele Gesellschaften.
Auch die EU findet sich in dieser neuen Lage. In ihr bewegt sich vieles: Es rumort an einigen Stellen, es werden neue Wege beschritten und altbekannte Probleme unter den Teppich gekehrt. Einige unserer Autor*innen attestieren der EU nicht nur deshalb eine Handlungsschwäche, da die EU nicht die viel beschworene »außenpolitische Autonomie« habe, sondern auch, weil viele Politikentwürfe, Visionen und Ansätze im zwischenstaatlichen Gerangel unter die Räder kommen.
Mit Abschluss der Haushaltsverhandlungen steht seit Ende Dezember 2020 nun immerhin der Budgetplan für die kommende sieben Jahre. In diesem Haushalt haben jedoch viele besorgniserregende Entwicklungen ihre Spuren hinterlassen, denen in der vorliegenden Ausgabe von W&F einige Autor*innen nachspüren:
So analysieren Özlem Demirel und Jürgen Wagner die Etablierung von versteckten Rüstungstöpfen durch eine modifizierte Industriepolitik;
Martina Fischer hebt den drohenden Bedeutungsverlust und die Budgetkürzungen beim »Instrument für Sicherheit und Frieden« und dem EU-Menschenrechts-Mechanismus hervor;
Thomas Roithner folgt in seiner Übersicht über den Zustand der Militarisierung in der EU dem drastischen und schnellen Wandel der EU-Außenpolitik seit dem Brexit-Entscheid 2016.
Roithner geht dabei auch der Entwicklung hin zu größerer »strategischer Autonomie« der EU in sicherheitspolitischen Fragen nach. Was genau unter dieser »strategischen Autonomie« verstanden werden kann und soll, ist längst noch nicht ausgehandelt. Das zeigen auch die Debattenbeiträge in dieser Ausgabe. Fungiert der Begriff für die einen als sprachliche Hülse für eine stärkere Militarisierung der EU, so bietet der Begriff für andere das Potential, auch positiv gefüllt werden zu können. »Strategische Autonomie« wäre dann zu verstehen als eine fiskalische, diplomatisch-politische und mediierend-konfliktbearbeitende Unabhängigkeit der EU, mittels derer sie ihre eigenen Interessen, auch gegen die Hegemone USA und China, eigenständig durchsetzen könnte.
Den Entwurf für diese Form der Autonomie skizzieren in Teilen die beiden Auftaktartikel unseres Schwerpunktes: Marius Müller-Hennig geht dem Gedanken nach, wie eine realistischere, weniger enttäuschungsträchtige Außenpolitik der EU unter dem Primat der Diplomatie und extremen militärischen Zurückhaltung gestaltet werden könnte; Martina Fischer wiederum weist das enorme, noch unausgeschöpfte Potential der EU in Friedensverhandlungen, Mediation und Menschenrechtspolitik aus und warnt vor der Marginalisierung dieser Politikansätze.
Der zweite Teil des Schwerpunktes analysiert die »Friedensmacht« EU aus der Perspektive anderer Staaten oder Regionen, in denen die EU durch Konfliktbearbeitung, Mediation, oder auch militärische Einsätze präsent ist. In den Beiträgen zur Ukraine, Iran, Israel und dem Sahel wird die Spannung zwischen diplomatischer Unerfahrenheit, strategischer Abhängigkeit, militärischer Unzulänglichkeit der EU und der gleichzeitig von ihr selbst angemeldeten politischen Bedeutsamkeit sichtbar.
Insgesamt zeichnet diese Ausgabe von W&F ein Bild der »Friedensmacht« EU, die zerrissen ist zwischen dem eigenen Anspruch auf »strategische Autonomie«, weltpolitische Bedeutung und dem Anspruch, einen direkten und effektiven Beitrag zu Frieden und Sicherheit leisten zu wollen und den realen Weltläufen, geringer Effektivität in ihrer tatsächlichen Friedenspolitik und versteckter, aber rasanter Militarisierung der Union.
Diese Ausgabe gibt dennoch der Hoffnung auf ein besseres und gewaltärmeres Morgen Raum und lädt uns als Leser*innen ein, Visionen für eine außen- und friedenspolitisch bedeutsame EU zu formulieren. Denn die Militarisierung der EU geht raschen Schrittes voran und verschiebt die Bedeutung von »Friedenspolitik« immer weiter ins Absurde. Es ist auch an uns, hier Einwände zu formulieren.
Auch die weiteren Beiträge jenseits des Schwerpunktes und das Dossier regen uns diesmal zu eigenen Positionierungen und zum Überdenken liebgewonnener Perspektiven an.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre, auch in Zeiten der Pandemie,
Ihr David Scheuing