Die Gewaltspirale wird weiter gedreht
von Jürgen Nieth
Die Gewaltspirale wird weitergedreht. Am ersten Dezember-Wochenende starben in Israel erneut zwei Dutzend vor allem junge Menschen in Folge von Selbstmordattentaten gleichfalls junger Palästinenser. Die Bilder von zerrissenen Kindern brachten das Grauen vielleicht noch nachhaltiger in unsere Wohnzimmer als die fast technisch anmutenden Bilder einstürzender Wolkenkratzer. Das Entsetzen ist verständlich und es darf keine Diskussion darüber geben: Die Hintermänner dieser Verbrechen müssen zur Verantwortung gezogen, den Terrororganisationen muss das Handwerk gelegt werden.
Die Frage ist wie? Und kein verantwortlicher Politiker, der in dieser Situation handeln muss, ist zu beneiden. »Überreaktionen« sind in solchen Momenten menschlich, deshalb manchmal auch zu verstehen und zu entschuldigen. Manchmal haben sie aber auch System, entspringen einem elitären Machtdenken und Machtinteressen, die ursächlicher Teil der Gewaltspirale sind.
{li}Präsident Bush nimmt den 11. September zum Anlass, um den Terroristen den »Krieg« zu erklären, ein Krieg von unbestimmter Dauer mit offenen Kriegszielen. Zuerst geht es um die Vernichtung Bin Ladens und von Al Qaida, nachdem hier der Erfolg ausbleibt geraten die Taliban ins Fadenkreuz. Und wer ist der Nächste? Ein offenes Geheimnis, dass ein Teil der Bush-Administration die Gelegenheit zur Endabrechnung mit Saddam Hussein nutzen möchte, auch in Somalia gilt es noch eine alte Scharte auszuwetzen. Der Sudan ist im Gespräch und selbst über Nordkorea wird spekuliert.
Es geht in diesem Krieg nicht nur um den Kampf gegen den Terrorismus, auch nicht nur um Rache, die sowieso kein Bestandteil von Politik sein sollte; die USA demonstrieren ihren Führungsanspruch in einer »Neuen Weltordnung«.
Dieser Machtdemonstration wird alles andere untergeordnet: Da werden notfalls Freund und Feind ausgetauscht, da werden vielkritisierte Diktatoren und Feudalherrscher zu umworbenen Staatsmänner, da wird auf einmal Verständnis gezeigt für Menschenrechtsverletzungen in anderen Regionen. Zerbombte UN- und Rote-Kreuz-Stationen, ungezählte tote und vertriebene Zivilisten, die vielleicht in die Hunderttausende gehende Zahl der Hunger-Toten des nächsten Winters, die Massaker an Gefangenen, das alles wird zu »Kollateralschäden« heruntergespielt.
{li}Ministerpräsident Sharon übernimmt nach dem 1. Dezember nicht nur Bushs Wortwahl. Er spricht vom Krieg gegen den Terrorismus und führt Krieg gegen die Palästinenser. Bereits unmittelbar nach dem 11.9. hatte die israelische Regierung die nachlassende Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für den Nahost-Konflikt zielgerichtet genutzt, um die Macht der Palästinensischen Autonomiebehörde zu unterminieren. Angesichts der erschütternden Bilder getöteter Kinder eskaliert sie den Militäreinsatz weiter. Für Sharon sind Arafat und die Palästinensische Autonomiebehörde verantwortlich für die Terroranschläge, obwohl sich deren politische Konkurrenz, die Hamas, zu den Verbrechen bekennt. Die Regierung Israels fordert (zu Recht) einen schärferen und konsequenteren Einsatz der palästinensischen Polizei gegen die Hamas, aber wie vereinbart sich das mit der gleichzeitigen Zerstörung der Infrastruktur des palästinensischen Sicherheitsapparates, der Zentrale der Präsidentengarde und der Polizeistationen, dem praktischen Ausgehverbot für palästinensische Polizisten?
Trotz aller Dementis: Der israelische Militäreinsatz gilt nicht nur der Hamas und dem Islamischen Dschihad, er zielt offensichtlich auf die Zerstörung der palästinensischen Autonomie.
Vielleicht gelingt es den amerikanischen Militärs im Bündnis mit der Nordallianz Bin Laden, ein paar Hundert Al Qaida Kämpfer und ein paar Tausend Taliban zu töten. Vielleicht liquidiert das israelische Militär in den nächsten Tagen weitere Hamas-Funktionäre, wird durch das Vorgehen Israels die Palästinensische Autonomiebehörde zerstört oder Arafat weiter entmachtet. Und dann?
Die Fragen nach der Zukunft Afghanistans bleiben – die Kompromisse vom Petersberg mögen bestenfalls eine Atempause bringen. Die Probleme im Nahen Osten werden sich nach dem Bruch der Osloer Verträge weiter zuspitzen. Kaum vorstellbar, dass sich die Palästinenser mit einer Bantustan-Regelung zufrieden geben.
Tausende sind in den letzten Monaten durch Terroraktionen gestorben, Tausende aber auch durch Kriegsterror. Und wenn Präsidenten schon nach Vergeltung schreien, darf man sich nicht wundern über ein entsprechendes Echo der Kriegsgeschädigten.
Vor allem aber bleibt die Frage: Wie reagieren die Menschen im Nahen Osten und im südlichen Asien auf die Machtdemonstration der Militärgroßmächte USA und Israel? Kurzfristig vielleicht mit wegducken, aber auf weite Sicht droht die gegenwärtige Arroganz der Mächtigen den Boden zu bereiten, auf dem neue Kämpfer für Terrororganisationen gedeihen.
Nein, Bush und Sharon werden den Terrorismus nicht mit Kriegen besiegen. Es wäre gut, sie würden – statt mit an der Gewaltspirale zu drehen – aus Oslo lernen: Nie spielte der Terrorismus im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten eine geringere Rolle als nach den damaligen Vereinbarungen.
Jürgen Nieth