W&F 1987/3

Die Grenzen der Physik.

Zur SDI-Studie der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft

von Jürgen Scheffran

Endlich liegt er vor, der SDI-Bericht der American Physical Society (APS). Nach langwierigen Sicherheitsüberprüfungen durch das Pentagon hat es die Standesorganisation der amerikanischen Physiker geschafft, zu einem Thema fundiert Stellung zu beziehen, das die Gemüter der Naturwissenschaftler seit Jahren erhitzt. Die Studie „science and technology of directed energy weapons“ versucht, „objektiv aufzuzeigen, was nötig ist, um die Vorstellungen von Präsident Reagan zu verwirklichen, und dem gegenüberzustellen, was bereits heute technisch machbar ist.“1 Auf über 400 Seiten belegt die APS-Studiengruppe detailliert, daß die dafür erforderlichen Technologien im Bereich der Strahlenwaffen um mehrere Größenordnungen von dem Ziel entfernt sind, Atomwaffen unwirksam zu machen. An die Stationierung einer substantiellen Abwehr-Komponente mit Strahlenwaffen ist nicht vor dem Jahr 2000 zu denken.

Zur Vorgeschichte

Mitten in die Frühjahrstagung der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft in Chrystal City (Virginia) am 23. April 1987 platzte die vielleicht „bedeutendste APS-Studie, die je angefertigt wurde“.2 Bereits im November 1983 hatte der APS-Council eine Studie über die Technologie der gerichteten Strahlenwaffen (directed energy weapons, DEW) autorisiert, die bis Herbst 1985 fertig sein sollte. Unterstützt wurde dies von dem damaligen Under Secretary of Defense for Research and Engineering, Richard DeLauer, der sich durch die Studie einer „angesehenen professionellen Organisation“ wie der APS eine „Vereinigung de wissenschaftlichen Meinung in Erfüllung des Ziels des Präsidenten“ erhoffte.3

Im November 1984 wurde eine Studiengruppe unter Vorsitz von Nicolaas Bloem bergen (Harvard), Nobelpreisträger vor 1981 zur Laserspektroskopie, und Kuma Patel, Direktor bei AT&T und Miterfinder des CO2 Lasers, gegründet, die von einen Überprüfungskomitee ergänzt wurde. Nach Aussagen Bloembergens sollten nur gute Wissenschaftler teilnehmen, die nicht durch politische Stellungnahmen zu SDI hervorgetreten waren. Der derart eingeengte Kreis von 15 Experten aus Universitäten, Rüstungsforschung und -industrie er hielt offiziell Zugang zu geheimer SDI-Forschung. Gefördert wurde die Studie mit 660.000 $ durch die McArthur-Foundation die Carnegie-Corporation und die APS.

Im Juni 1986 legte die Studiengruppe einer ersten Entwurf vor, der auf Rat des Überprüfungskomitees überarbeitet wurde, und im Prozeß der Sicherheitsüberprüfungen besser bestehen zu können. Dennoch beabsichtigte die SDI-Organisation (SDIO nach Fertigstellung des 800 Seiten Manuskripts am 25.9.1986, die Hälfte des Texte für geheim zu erklären. Selbst nachdem in einem gemeinsamen Treffen mit SDI-Offiziellen der Bericht Absatz für Absatz durch gegangen und modifiziert worden war wurde der Text erneut von Geheimhaltungsbürokraten der SDIO, des Außenministeriums, des Energieministeriums, von Armee, Marine, Luftwaffe und des Verteidigungsministeriums durchforstet. Erst am 21. März 1987 erhielt die Studiengruppe eine gereinigte und für sie unakzeptable Fassung zurück, in der entscheidende Ab schnitte fehlten. Nach einigem hin und her und weiteren Veränderungen „in letzter Sekunde“ wurde seitens der SDIO am 10. April endgültig grünes Licht für die Freigabe erteilt, und innerhalb von nur 13 Tagen gelang es, den Bericht bis zur APS-Tagung gedruckt vorzulegen, nach eigenen Angabe ohne wesentliche Abstriche. Die wichtigsten Ereignisse wurden von N. Bloembergen am 25. Juni auf einem Seminar de Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Bad Honnef vorgestellt.

Die Fertigstellung des APS-Berichts ist ein Lehrstück in Sachen Wissenschaft und Geheimhaltung. Beide Seiten können sich letztlich als Sieger fühlen: die APS, weil es ihr gelungen war, trotz erheblicher Widerstände der Sicherheitsbürokratie überhaupt einen substantiellen und offiziell ab gesegneten Bericht zu SDI-Technologien vorzulegen. Aber auch die SDIO, weil sie mit dieser langwierigen Prozedur die für sie unangenehmen Ergebnisse so lange verzögern konnte, bis die ursprünglich werbewirksamen Laserwaffen (das langfristige SDI 1) aus dem Zentrum der öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt waren und durch die Diskussion über konventionelle SDI Technologien und eine frühe Stationierung von SDI (das kurzfristige SDI 2) verdeckt wurden. Es war dann auch nicht schwierig für die SDI-Befürworter, der Studie mangelnde Aktualität vorzuwerfen.

Die Ergebnisse: Noch weit vom Ziel entfernt

Ungeachtet solcher Wermutstropfen ist die APS-Studie von großem Wert für alle, die in der zukünftigen SDI-Diskussion sachlich begründete Aussagen treffen wollen, was angesichts der zum Teil abenteuerlichen Behauptungen von SDI-Anhängern schon sehr viel ist. Die Stärke der Studie liegt darin, daß alle verfügbaren Erkenntnisse zum Bereich Strahlenwaffen (andere Technologien wurden nicht untersucht) in einheitlicher Form zusammengetragen werden und damit nun eine offizielle Basis für eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten von SDI existiert, was für eine öffentliche Diskussion und spätere Entscheidungen unabdingbar ist.

Die umfangreiche und für Nicht-Physiker schwer lesbare Studie untersucht in einzelnen Kapiteln folgende Bereiche: die zu bekämpfenden Raketen, Laser (chemische, Excimer-, Freie-Elektronen-, Röntgen-Laser), Teilchenstrahlen, Strahlausbreitung und Spiegel, Wechselwirkung der Strahlung mit Raketenoberflächen, Zielerkennung und Zielverfolgung, Leistungsversorgung, Überlebensfähigkeit der Weltraumplattformen, Gegenmaßnahmen, Satelliten-Konstellationen.

Die wesentlichen Ergebnisse und Schlußfolgerungen werden zu Beginn der Studie zusammengefaßt: trotz „substantieller Fortschritte“ bei DEW-Technologien existieren „signifikante Lücken“ zu ihrem wissenschaftlich-technischen Verständnis, so daß Entscheidungen wegen „ungenügender Information“ in naher Zukunft nicht getroffen werden können.4 Die gegenwärtig vorhandenen technischen Fähigkeiten bleiben um mehrere Größenordnungen hinter den Anforderungen für ein effektives und überlebensfähiges Raketenabwehrsystem zurück, so daß selbst „unter besten Umständen mehr als zehn Jahre intensiver Forschung“ für eine informierte Entscheidung erforderlich seien. Im einzelnen werden Einschätzungen zu den verschiedenen Problembereichen abgegeben, die in folgender Tabelle zusammengefaßt werden.

Die Zusammenstellung macht deutlich, daß gegenwärtig wirksame Strahlenwaffen zur Raketenabwehr in fast allen Komponenten und Anforderungen um mehrere Größenordnungen hinter dem Ziel zurückliegen, woran selbst gewaltige Anstrengungen der USA nichts ändern werden. Die Studie bestätigt eine Entwicklung, die von der SDIO bereits vollzogen wurde: die Verschiebung von den bereits fortgeschrittenen chemischen Lasern (HF/DF), die wegen der langen Wellenlängen und anderer technischer Eigenschaften weniger attraktiv für die Raketenabwehr erscheinen, zu den kurzwelligeren, aber weniger erprobten Freie-Elektronen-Laser (FEL) und Excimer-Lasern, bei denen noch mehrere Probleme zu überwinden sind. In noch stärkerem Maße gilt dies für den nuklearen Röntgenlaser, der sich noch im Forschungsstadium befindet. Der Stand des Programms ist allerdings streng geheim, so daß die Studie keine konkreten Angaben dazu machen kann. Neutrale Teilchenstrahlen (NPB) als Abwehrwaffen können nicht recht überzeugen, u.a. wegen der Ionisation in der Atmosphäre, was ihren Einsatz auf den Bereich oberhalb 120 km beschränkt. Denkbar wäre ihre Verwendung im Weltraum, um Gefechtsköpfe von Attrappen zu unterscheiden (interactive discrimination), doch wären hierfür die gleichen Bestrahlungsleistungen erforderlich bei deutlich geringerer Bestrahlungszeit und rascher Wiederholung.

Tab.: Einzelergebnisse der APS-Studie
(GO: Zahl der Größenordnungen, die der angegebene Parameter mindestens unter den Anforderungen für eine Raketenabwehr liegt)
Chemischer HF/DF-Laser: Leistung 1 GO; Jod-Laser: Leistung 5 GO
Excimer: Pulsenergie 4 GO; wiederholtes Pulsieren schwierig
FEL: Nachweis verschiedener physikalischer Konzepte
Röntgenlaser: Nachweis verschiedener physikalischer Konzepte
Neutrale Teilchenstrahlen: Spannung 2 GO; Einsatz im Weltraum; Attrappen-Identifizierung: Bestrahlungszeit 2 GO
Elektronenstrahlen in laserinduzierten Plasmakanälen: Beschleunigerspannung 1 GO; Pulsdauer 2 GO, Leistung 3 GO; für aktive Diskrimination: Pulsdauer 2 GO, Leistung 2 GO; Ausbreitungsentfernung mehrere Größenordnungen
Phasenkorrektor für Diffraktionsbegrenzung und Phasenkontrolle für kohärente Kombination verschiedener Lasermodule: Leistung viele GO
Dynamische Phasenanpassung von Teleskopfeldern fr optische Systeme mit großer Öffnung: Zahl der Korrekturelemente > 2 GO
Optische Schichten großer Weltraumspiegel: besonders verwundbar
Kleine sekundäre Spiegel: geringe Absorption, Kühlung
Bodenlaser: geographische Verteilung wegen ungünstigen Wetters
Korrektur atmosphärischer Ausbreitungverzerrungen für Bodenlaser: Auflösung > 2 GO; Phasenkorrektur bei hohen Leistungen
Bodenlaser: Atmosphärische Übertragungsverluste
Weltraumlaser: atmosphärische Untergrenze (80 km) für Einsatz
Entdeckung und Erfassung von Raketenstarts: hohe Entdeckungswahrscheinlichkeit und geringe Fehleralarmrate notwendig
Infrarot-Tracking des Raketenschweifs: Zielgenauigkeit Mikrorad nur zusammen mit anderen Mitteln (optische und Mikrowellenradars)
Zielverfolgung im Weltraum: aktives Sensor System notwendig
Interaktive Diskrimination: Konzeptions- und Experimentierstadium
Effektive Startphasenabwehr: unverzichtbar
Stationserhaltung: Nuklearreaktoren erforderlich
Leistungsanforderungen im Einsatz: signifikante technische Probleme
Überlebensfähigkeit von Weltraumsystemen: wesentlich, aber hoch fragwürdig, besonders während Stationierung; Systemansatz mit Härtung, aktiver Verteidigung, operationeller Taktik
Überlebensfähigkeit von Bodenanlagen: ernstes Problem
Bekämpfung von Weltraum-Stationen durch DEW: leichter als Abwehr von Raketen
Nukleare Röntgenlaser: besondere Bedrohung für Weltraum-Sensoren, Elektronik und Optik
Offensive Gegenmaßnahmen: zahlreiche Optionen und viel Zeit

Darüber hinaus trifft der Bericht einige weitere bemerkenswerte Bewertungen:

  • DEW-Technologien werden „keine besondere Rolle in der Endphase der Flugbahn ballistischer Raketen spielen“.
  • Selbst im Normalbetrieb in „Friedenszeiten“ würden die großen Laserstationen einen so hohen Leistungsbedarf haben, daß sie nur durch Kernreaktoren betrieben werden können.
  • Röntgenlaser können leichter aus höheren Schichten der Atmosphäre in den Weltraum schießen als umgekehrt. Damit wären Röntgenlaser, die vom Boden hochgeschossen werden (Pop-up), effektive Anti-SDI-Waffen gegen jede Art von Weltraumsystemen. Solche Röntgenlaser hätten zudem eine höhere Überlebensfähigkeit als Weltraumsysteme.
  • Kein Abwehrsystem könnte einen unbegrenzten Angriff überleben.“ (S. 383) „Strahlenwaffen mit geringeren Fähigkeiten als für die Raketenabwehr erforderlich, können Weltraumkomponenten eines Abwehrsystems bedrohen.“ (S. 392) „Da eine lange Zeit erforderlich ist, um eine effektive Raketenabwehr zu entwickeln und zu stationieren, steht eine beachtliche Zeit für Antworten der Offensive zur Verfügung.“ (S. 13)

Selbstbeschränkungen

Auf verschiedene Fragen geht der APS-Bericht nicht ein: Am offensichtlichsten ist die bewußte Beschränkung auf DEW-Technologien, während die Schwerpunkte des SDI-Programms sich inzwischen auf die früher verfügbaren konventionellen „kinetic energy weapons“ (KEW) verlagert haben.

  • Nur am Rande geht die Studie auf die Kosten einer umfassenden Raketenabwehr ein und das Verhältnis zu den Kosten der offensiven Gegenmaßnahmen (Kosteneffektivität).
  • Nicht behandelt wird die Frage, ob die Hochskalierung der Parameter um mehrere Größenordnungen möglich ist, ohne daß nichtlineare Effekte das Systemverhalten qualitativ ändern.
  • Der Bericht behandelt nicht die komplexen Probleme von Computern, Battle-Management und C3I, einschließlich Testbarkeit und Zuverlässigkeit der Software.
  • Endphasenabwehr spielt keine Rolle.
  • Eine ausführliche Diskussion möglicher Gegenmaßnahmen fiel den Geheimhaltungsbestimmungen zum Opfer.
  • Mögliche offensive Anwendungen der untersuchten Technologien, z.B. gegen Satelliten oder gegen Bodenziele, werden nicht oder nur am Rande erwähnt.
  • Generell wird auf alle mehr politischen Fragen verzichtet wie die „Machbarkeit“ von SDI, die strategische Stabilität, die Rüstungskontrolle und die Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen.

Das letzte Wort der Physik?

Zur Frage der „Machbarkeit“ von SDI, die in Studien etwa der Union of Concerned Scientists oder des Office of Technology Assessment eine Rolle gespielt hat, äußerte Bloembergen: „Viele SDI-Studien und Publikationen, die es schon gibt, haben den Mangel, daß sie politische Position beziehen – genau das wollen wir ausklammern.“5 Sein Kollege Patel begründete dies mit der unsicheren Zielstellung von SDI: „Wir haben nicht gesagt, ob es machbar ist, weil wir nicht wissen, was „es“ ist und was „machbar“ bedeutet.“6

Daß der APS-Bericht keine Gesamtaussage über die Machbarkeit von SDI trifft besagt nicht, daß frühere Analysen ihre Gültigkeit verlieren. Im Gegenteil werden die wesentlichen dort getroffenen Detailaussagen bestätigt. Die Machbarkeit von SDI wurde ohnehin nicht aus rein technischen Gründen in Frage gestellt, sondern v.a. wegen der möglichen sowjetischen Reaktionen, die politisch entschieden werden und damit physikalisch unbestimmbar sind. Selbst wenn die geplanten Technologien realisierbar sind, was nur im Rahmen der durch den APS-Bericht abgesteckten physikalischen Grenzen möglich ist, wird ausschlaggebend für eine Entscheidung sein, ob SDI aus strategischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen überhaupt wünschenswert ist. Damit werden die Grenzen einer rein physikalischen Bewertung von SDI erkennbar.

Es stellt sich die Frage, ob der APS-Bericht das letzte Wort der Physiker zu SDI sein soll oder ob sie weiterhin zu allen anderen SDI-relevanten Fragen Stellung nehmen, auch wenn dies nicht mit der gleichen fachlichen Autorität geschehen kann. Diese Frage spielte eine Rolle, als der Vorstandsrat der APS mit nur einer Stimme Mehrheit eine öffentliche Erklärung beschloß, die deutlicher als der Report gegen SDI Stellung bezog, was von einigen Mitgliedern der Studiengruppe als unzulässig kritisiert wurde. Wenn Physiker nicht auf reine Experten reduziert werden wollen, sollten sie auch in Zukunft nicht davor zurückschrecken, ihr Fachwissen mit einer politischen und moralischen Wertung zu verbinden und sich aktiv in politische Auseinandersetzungen einschalten. Ansonsten besteht die Gefahr des Mißbrauchs der erzielten Ergebnisse durch andere. Dieses Schicksal könnte auch die APS-Studie erleiden, wenn die SDIO daraus einen Katalog der Probleme ableitet, die mit Unterstützung der Physiker noch gelöst werden müssen.

Stellungnahmen und Reaktionen

Trotz der Beschränkung auf technische Fragen und des Verzichts auf politische Wertungen war die Reaktion der SDI-Anhänger zurückhaltend bis ablehnend. Die SDIO bezeichnete die Schlußfolgerungen des APS-Reports als „zu pessimistisch“, da „signifikante Durchbrüche der letzten sechs Monate“ nicht berücksichtigt worden seien. Ein auf die wissenschaftliche Integrität der Kommission zielende Stellungnahme von den Rüstungsforschern Lowell Wood (Livermore) und Gregory Canavan (Los Alamos) warf der Studie unbegründete Beurteilungen vor, sowie Inkonsistenzen, unrealistische Annahmen und Fehler. Einen solchen konnten sie sogleich präsentieren: der Bericht habe sich bei den chemischen Lasern um eine Größenordnung geirrt, da der gegenwärtig leistungsfähigste Laser dieser Art statt der angegebenen 200 kW mehr als ein Megawatt erzeugt hätte. Tatsächlich ist der letzte Wert korrekt, doch Canavan/Wood vergaßen zu erwähnen, daß die ursprünglich richtige Angabe aus Geheimhaltungsgründen auf Druck der SDIO durch die falsche ersetzt wurde.7

Welches Verständnis einige SDI-Protagonisten von wissenschaftlicher Objektivität besitzen, zeigte der Bericht des privaten Marshall-Instituts, der im Dezember 1986 und in einer zweiten Fassung im Februar 1987 veröffentlicht wurde.8 Hier wird vorgeschlagen, für „nur“ 121 Mrd. $ innerhalb von sieben Jahren ein dreischichtiges Abwehrsystem zu installieren, bestehend aus konventionellen Bodenraketen für die Endphasenabwehr innerhalb (HEDI) und außerhalb (ERIS) der Atmosphäre sowie aus 2000 Kampfstationen im Weltraum mit je fünf kleinen KEW-Abfangraketen. Der Zweck, ein rascher und für die beteiligten Firmen gewinnbringender Einstieg in die SDI-Stationierung, heiligt hier die Mittel. Weder gibt das offensichtlich eilig verfaßte Papier eine konkrete und nachvollziehbare Darstellung, wie die angeblich bereits verfügbaren Raketentechnologien die versprochene Abwehreffektivität von mehr als 93 % erreichen sollen, noch wird begründet, wie die erstaunlich niedrigen Kostenschätzungen zustande kommen. Sowjetische Gegenmaßnahmen werden überwiegend ignoriert. Der Daumen dürfte hier der geeignete Maßstab gewesen sein. Die Anklänge an die 1982 veröffentlichte und inzwischen neubearbeitete High-Frontier-Studie sind unverkennbar. Nach dieser hätte eine Abfangrakete 53 Sekunden vor dem Start einer sowjetischen Rakete starten müssen, um diese noch zu erreichen.

Obwohl der Vorschlag des Marshall-Instituts von SDI-Kritikern geradezu verrissen wurde, hatte er eine große politische Wirkung. Das Pentagon benutzte die Studie im US-Kongreß, um eine Verschiebung der SDI-Mittel in KEW-Technologien und den Ausbau der Trägerkapazitäten zu rechtfertigen, sowie durch einen frühzeitigen Stationierungsbeginn Fakten zu schaffen, die das Ende des ABM-Vertrages bedeuten würden. Somit ist die Marshall-Studie das Gegenteil der APS-Studie: während die erste wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt, dafür aber kurzfristig politische Wirkung zeigte, steht die zweite auf einem wissenschaftlich hohem Niveau bei geringer Öffentlichkeitswirksamkeit. Daß die Verfechter der Marshall-Studie in der physikalischen Gemeinde auf verlassenem Posten stehen, demonstrierte Frederic Seitz, einer der Mitverfasser, als er die Art der Veröffentlichung der Konkurrenzstudie in dem offiziellen Organ der APS attackierte, da seine eigenen Ansichten nicht berücksichtigt wurden.

Anmerkungen

1 Science and Technology of Directed Energy Weapons, Report of the American Physical Society Study Group, April 1987; Abdruck in: „Reviews of Modern Physics“, Juni 1987; Kurzfassung in: „Physics Today“, Mai 1987.Zurück

2 Bemerkung von APS-Exekutivsekretär W. W. Havens; s. „Physics Today“, Mai 1987.Zurück

3 „Physics Today“, Mai 1987.Zurück

4 APS-Bericht, S. 2.Zurück

5 Interview mit N. Bloembergen, „Physikalische Blätter“, (1987) Nr. 4, S. 103.Zurück

6 „Physics Today“, Mai 1987.Zurück

7 Mitteilung von N. Bloembergen beim DPG-Seminar in Bad Honnef.Zurück

8 George C. Marshall-Institute, Missile Defense in the 1990s, December 1986,2nd Edition February 1987; Pro-SDI Panel Forecasts $ 121 Billion Antimissile Costs, Excluding Rescarch, „Aviation Week & Space Technology“/February 9, 1987, p. 133-134; zur Kritik s.: M. Bunn, Deploying a Desaster, „Arms Control Today“, März 1987, S. 21; G. Marsh Dangers of Limited SDI, „Bulletin of the Atomic Scientists“ März 1987, S. 13-14 R. Garwin Comments on the Marshall-Study, Paper of January 18, 1987.Zurück

Jürgen Scheffran ist Physiker; Forschungsstipendiat der VW-Stiftung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/3 Der mühsame Weg zur Abrüstung ..., Seite