W&F 1987/1

Die Hamburger Abrüstungsvorschläge

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Die nuklearen Arsenale der USA und der UdSSR enthalten heute Zehntausende von Sprengköpfen. Es ist allgemein anerkannt, daß ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und nicht geführt werden darf. Beiden Seiten drohen vernichtende Vergeltungsschläge, unabhängig davon, wie ein Atomkrieg beginnt. Wir sind davon überzeugt, daß Atomwaffen nicht eingesetzt werden können, ohne die Zivilisation, wie wir sie kennen, zu zerstören.

Die Zahl der atomaren Sprengköpfe überschreitet bei weitem die Erfordernisse für eine wechselseitig gesicherte Zerstörung (MAD). Gründe für die Existenz dieser groen Zahl von Atomwaffen sind Furcht und die Illusion, militärische Überlegenheit sei möglich. Dieses Vertrauen auf beiderseitige Gefährdung ist mit Gefahren betrachtet und kann auf lange Sicht nicht aufrechterhalten werden. Unser Problem ist es, eine Alternative zu finden. Diese Alternative sollte auf der Erkenntnis beruhen, daß die Sicherheit einer jeden Seite mit der Sicherheit der anderen verbunden ist. Das ist das Konzept der gemeinsamen Sicherheit.

Es wächst das Bewußtsein, daß Rüstungskontrolle sich nicht länger vornehmlich auf Maßnahmen der Regulierung des Wettrüstens zwischen den USA und der UdSSR konzentrieren darf, sondern tatsächliche und substantielle Abrüstung beinhalten muß. Dies ist von führenden Politikern vorgeschlagen worden, und wir als Wissenschaftler möchten zu dieser Diskussion und zur Lösung der damit verknüpften Probleme beitragen.

In diesem Sinne schlagen wir eine signifikanter Abrüstungsschritte vor.

I. Ein Verbot jeglicher Kernwaffentests ist notwendig und kann angemessen verifiziert werden.

Ein umfassender Atom-Teststopp würde viele destabilisierende Entwicklungen verhindern. Die meisten Wissenschaftler stimmen darin überein, daß ein Verbot der Erprobung von atomaren Sprengkörpern angemessen verifiziert werden kann. Jegliche Tests mit einer Sprengkraft von mehr als einer Kilotonne TNT können durch seismische Methoden unter Zuhilfenahme internationaler Beobachtungsstationen und anderer kooperativer Maßnahmen zuverlässig entdeckt und identifiziert werden.

II. Die Produktion spaltbaren Materials für Atomwaffen muß gestoppt werden.

Ein Stopp der Produktion von spaltbarem Material für Waffen ist ein notwendiger erster Schritt für die umfassende Verringerung der Zahl atomarer Sprengköpfe. Signifikante Verletzungen einer solchen Vereinbarung könnten entdeckt werden. Eine Kombination nationaler technischer Mittel und internationaler Kontrollmechanismen (wie z.B. die von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO entwickelten) zur Beobachtung von Anlagen würde ausreichen. Wenn die von uns vorgeschlagenen massiven Verringerungen der Atomwaffen verwirklicht werden, wird zusätzliche Forschung nötig sein, um sichere Verifikationsmethoden zu finden.

III. Einschneidende Verringerungen der Zahl der Atomwaffen sind möglich und würden unsere Sicherheit vergrößern.

Sofern es keine Raketenabwehrsysteme gibt, wären nur wenige hundert Atomwaffen genug, damit jede Seite ihrer überwältigenden Fähigkeit sicher sein kann, die andere Seite mit einem Vergeltungsschlag zerstören zu können. Deshalb könnten die strategischen Arsenale sowohl der USA als auch der UdSSR um eine Größenordnung - um den Faktor 10 - verringert werden. Wir sind der Ansicht, daß eine solche Verringerung zu erheblich verbesserten Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion führen würde. Sie würde beiden Seiten außerdem erlauben, die am stärksten destabilisierenden Waffen aus ihren Arsenalen zu entfernen. Ein Einfrieren dieser Waffen könnte ein erster Schritt zu ihrer Abschaffung sein. Bis dahin sollten die SALT II-Bestimmungen von den USA und der UdSSR strikt eingehalten werden.

IV. Destabilisierende Trägersysteme sollten zuerst abgeschafft werden.

Zu den destabilisierenden Waffen zählen Trägersysteme mit zielgenauen Mehrfachsprengköpfen. Die Gefährlichkeit dieser Systeme liegt darin, daß sie eine Situation möglich machen, in der ein einziger Sprengkopf mehrere gegnerische vernichten könnte. Das könnte in einer Krisensituation zu einem Präventivschlag ermutigen.

V. Auf längere Sicht müssen alle Atommächte zusammenarbeiten.

Es ist wichtig anzumerken, daß einschneidende Verringerungen der Atomwaffen und die Abschaffung der Mehrfachsprengkopfsysteme schwieriger werden, wenn die anderen Atomstaaten sich nicht an diesem Prozeß beteiligen und ihre atomaren Arsenale entsprechend begrenzen.

VI. Angemessene Verifikation einschneidender Verringerungen ist möglich.

Verifikation einschneidender Verringerungen von Atomwaffen, einschließlich der Mehrfachsprengkopfsysteme, kann weitgehend durch nationale technische Mittel erreicht werden, und zwar hauptsächlich durch Satellitenüberwachung, in einigen Fällen unterstützt durch kooperative Maßnahmen. Die verbleibenden Einfachsprengkopfraketen könnten beobachtet und gezählt werden, wenn sie in Silos gelagert wären. Im Falle beweglicher Systeme wäre die Verifikation schwieriger.

Die Demontage der Sprengköpfe sollte beobachtet werden, um sicherzustellen, daß das spaltbare Material entfernt, protokolliert und dann unter internationalen Kontrollmaßnahmen, ähnlich den von der IAEO entwickelten, gelagert wird.

Die Verifikation einiger Aspekte einer umfassenden Abrüstungsvereinbarung wäre schwierig. Das gilt besonders für die Begrenzung von Marschflugkörpern und anderen Mehrzwecksystemen, die entweder mit atomaren oder konventionellen Sprengköpfen ausgestattet werden können.Diese Systeme sind potentiell destabilisierend. Marschflugkörper sind relativ billig, können in Massenproduktion hergestellt werden und auf einer Vielzahl verschiedener Träger stationiert werden - auf Schiffen aller Klassen, Flugzeugen, Lastwagen etc. Es wird schwierig sein, ihre Verbreitung zu verhindern. Am besten wäre es, Langstreckenmarschflugkörper insgesamt zu verbieten, weil dann eine einzige Beobachtung eine Übertretung beweisen würde.

Verifikation ist ein wichtiger Bestandteil bei der Erreichung eines Rüstungsabbaus, und hier gibt es viele Fragen, die einer wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen. Wissenschaftler haben die Pflicht, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, und für diese Aufgabe müssen ihnen die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden.

VII. Weltraumwaffen müssen verboten werden

Die Stationierung einer Raketenabwehr wird die Besorgnis wecken, daß das System zur Unterstützung eines Erstschlages verwendet werden könnte. Einseitige oder beiderseitige Stationierung würde die Gegenseite zur Stationierung zusätzlicher strategischer Offensivwaffen zwingen, um die Abwehr zu überwinden. Die gemeinsame Einsicht von Wissenschaftlern aus den USA und der Sowjetunion in diese Gefahr fhrte 1972 dazu, daß die beiden Länder den Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) aushandelten.

Die Argumente, die zu diesem Vertrag führten, sind noch gültig. Nichtsdestoweniger drohen diesem Vertrag jetzt klare Verletzungen seiner Vorschriften wie zum Beispiel derjenigen, die ABM-Systeme zum Territorialschutz eines Landes oder die Entwicklung und Erprobung von see-, luft-, weltraum- oder mobil landgestützten ABM-Systemen oder

Komponenten verbieten. Die Aufgabe des ABM

Vertrages zugunsten einer strategischen Verteidigung würde das Wettrüsten in eine neue Dimension heben und auch das Ende für andere Rüstungskontrollbestimmungen bedeuten. Es müssen Wege gefunden werden, den ABM-Vertrag nicht nur zu schützen, sondern auch zu stärken.

Weltraumgestützte Raketenabwehrsysteme sind auch deshalb destabilisierend, weil sie Satelliten zerstören könnten, einschließlich weltraumgestützter Raketenabwehrsysteme der anderen Seite.

Ein wichtiger Schritt zum Verbot aller Weltraumwaffen ist das Verbot der Entwicklung, Erprobung und Stationierung von speziell für diesen Zweck entworfenen Anti-Satellitenwaffen sowie der Abbau existierender Systeme. Gegenwärtig erscheint ein Test- und Stationierungsverbot für solche ASAT-Systeme verifizierbar, wenn kooperative Maßnahmen ebenfalls zur Anwendung kommen.

Satelliten sind von großer Bedeutung sowohl im zivilen Anwendungsbereich als auch bei der Verifikation von Rüstungskontrollabkommen. Sie haben die Welt ein gutes Stück offener gemacht. Die Entwicklung der Satellitentechnologie gibt uns neue Möglichkeiten für internationale Zusammenarbeit bei der Kontrolle.

VIII. Mittel- und Kurzstreckenwaffen müssen in den Abrüstungsprozeß einbezogen werden.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Rüstungsabbau ebenso auf die strategischen wie auch auf die Mittelstreckenwaffen und die taktischen Atomwaffen ausgedehnt wird.

Landgestützte Mittelstreckenraketen stellen eine Bedrohung durch einen Überraschungsangriff dar, weil sie sehr kurze Flugzeiten haben. Zudem sind sie verwundbar. Aus diesen Gründen sollen Mittelstreckenraketen unverzüglich abgeschafft werden.

Die Tausende taktischer Atomwaffen in Europa stellen ebenfalls eine deutliche Gefahr dar und würden im Falle ihres Einsatzes zerstören, was sie eigentlich verteidigen sollen. Als erster Schritt sollten atomwaffenfreie Zonen, wie von der Palme-Kommission vorgeschlagen, eingerichtet werden.

IX. Nicht-nukleare Streitkräfte müssen verringert und mit einer nicht-offensiven Struktur ausgestattet werden.

Solange sich die Länder Europas durch einen konventionellen Angriff bedroht fühlen, wird es schwierig sein, die Atomwaffen in Europa endgültig abzuschaffen. Deshalb wird es nötig sein, diese Bedrohung zu vermindern. Wir glauben, daß dies durch die Kombination von einschneidenden Verringerungen bei den konventionellen Streitkräften und ihrer Bewaffnung sowie der Entmilitarisierung entlang der Trennungslinie in Mitteleuropa und möglicherweise durch die Einführung nicht-aggressiver Verteidigungssysteme auf beiden Seiten zu erreichen wäre, in denen die stationierten Streitkräfte weit größere Fähigkeiten in der Defensive als in der Offensive hätten. Es sollte eine gezielte Forschung begonnen werden, mit welchen Mitteln der nicht-aggressive Charakter erreicht werden kann. Dies könnte durch verschiedene vertrauensbildende Maßnahmen unterstützt werden, wie zum Beispiel durch die Vorschrift der Ankündigung und Begrenzung der Größe und Art von militärischen Manövern, um die mögliche Sorge über einen Überraschungsangriff zu verringern. Die Mitarbeit der nicht-nuklearen Mächte wird in diesem Prozeß von Bedeutung sein.

X. Chemische Waffen müssen vollständig verboten und die Konvention über biologische Waffen sollte gestärkt werden.

Die USA, die UdSSR und andere Länder sollten alles versuchen, um eine Übereinkunft zu erreichen, die die Bestimmungen des Genfer Protokolls von 1925 sowohl auf das Verbot der Produktion und Stationierung als auch des Gebrauchs chemischer Waffen ausdehnt. Das würde kooperative Verifikationsmaßnahmen einschließlich von Vor-Ort-Inspektionen erfordern. Die Einführung binärer chemischer Waffen macht die Verifikation schwieriger und könnte deren Verbreitung begünstigen. Deshalb ist dieses Problem vordringlich.

Die Konvention über biologische Waffen von 1972 muß erhalten bleiben. In einer Zeit der rapiden Entwicklung neuer biologischer Techniken, von denen manche für militärische Zwecke mißbraucht werden könnten, müssen Wege gefunden werden, um abzusichern, daß die B-Waffen-Konvention beachtet und nicht umgangen wird.

Wir haben hier die nächsten Schritte angesprochen, die unternommen werden sollten, um das Wettrüsten umzukehren. Zweifellos werden viele dieser Schritte Jahre bis zu ihrer endgültigen Durchsetzung brauchen. Diese Zeit sollte genutzt werden, um Wege zu einer letztlich vollständigen Abschaffung der Atomwaffen zu finden.

Das Wettrüsten entzieht der Menschheit heute enorme Ressourcen: materielle, moralische und geistige. Diese Kräfte könnten genutzt werden, um die globalen Probleme zu lösen vor denen wir alle stehen. Die angehäuften Arsenale versprechen keinerlei Sicherheit. Unglücklicherweise haben Wissenschaft und Wissenschaftler zu dieser gefährlichen Sachlage beigetragen. Als Wissenschaftler, als Bürger der Welt, haben wir die Pflicht, das zu erkennen und unsere Fähigkeiten einzusetzen, um Auswege aus der gegenwärtigen Situation zu erforschen. Wir müssen wünschenswerte Ziele erforschen und auch die Mittel, diese zu erreichen.

Beiderseitige Sicherheit kann weder durch Rüstung noch durch irgendwelche technischen Mittel gewährleistet werden. Eine Lösung kann es nur geben, wenn wir unsere bisherige Art, an die Probleme der Welt heranzugehen, ändern - indem wir auf neue Weise darüber nachdenken und dieses neue Denken verbreiten. Wissenschaftler können sicherlich zum Prozeß der Abrüstung beitragen, indem sie die Mittel und Wege aufzeigen, mit deren Hilfe Abrüstung erreicht werden kann; sie tragen auch die Verantwortung, die Öffentlichkeit aufzuklären und die Regierungen zu beraten. Indem sie einen gemeinsamen Wertrahmen schaffen, sollten Wissenschaftler in der modernen Welt zur Schaffung einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und der Verständigung beitragen, ohne die die Probleme des Wettrüstens nicht zu lösen sind.

12. September 1986

Unterzeichner:

A. P. Alexandrov, UdSSR, H. Alfven, Schweden, J. Altmann, BRD, P. B. Amat, Argentinien, A. Balevsky, Bulgarien, P. M. Bhargava, Indien, C. Bernardini, Italien, W. Buckel, BRD, R. Budde, Schweiz,·F. Calogero, Italien, C. Chagas, Brasilien, E. I. Chazov, UdSSR, F. Clapier, Frankreich, T. Cochran, USA, P. Crutzen, BRD, A. Davis, Großbritannien, H.-P. Dürr, BRD, F. Dupre, Italien, M. Errera, Belgien, P. N. Fedoseev, UdSSR, H. A. Feiveson, USA, B. Feld, USA, V. Goldanskli, UdSSR, B. Gonsior, BRD, O. Greene, Großbritannien, F. von Hippel USA, D. Hodgkin, Großbritannien, H. Harz, DDR, J. Holdren, USA, E. Infeld, Polen, B. Jasani, Schweden, A. Jacquard, Frankreich, J.-P. Kahane, Frankreich, W. Kalweit, DDR, S. Kapitsa, UdSSR, E. Kellenberger, Schweiz, U. W. Kendall, USA, T. Kibble, Großbritannien, D. Kiss, Ungarn, H. Klare, DDR, K. von Klitzing, BRD, G. Köhler, BRD, F. Lenci, Italien, R. Levi-Montalcini, Italien, Kh. Lohs, DDR, B. Lown, USA, G. B. Marini-Bettolo, Italien, M. Markov, UdSSR, J. Matousek, CSSR, M. van Montagu, Belgien, O. Nathan, Dänemark, D. Parnas, Kanada (stimmt den hauptsächlichen wissenschaftlichen Aussagen zu), D. Paul, Kanada, L. Pauling, USA, H. Pietschmann, Osterreich, A. M. Prokhorov, UdSSR, B. Rausenbach, UdSSR, J. Rotblat, Großbritannien, R. Sagdeev, UdSSR, A. Salam, Pakistan, J. Schneider, BRD, S. Smale, USA, H. Spitzer, BRD, P. Starlinger, BRD, J. Steinberger, Schweiz, K. H. Stiller, DDR, E.P. Velikhov, UdSSR, C. Voüte, Niederlande, V. Weisskopf, USA, M. Wilkins, Großbritannien

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/1 1987-1, Seite