Die jungen Islamisten Pakistans
Die neue Friedensfähigkeit des Neo-Fundamentalismus
von Thomas K. Gugler
Die Zahl politischer Weltdeutungen differenziert sich auch im Spektrum der islamischen fundamentalistischen Akteure fortlaufend weiter aus. Dabei gewinnt eine Interpretation vorpolitischer islamischer Frömmigkeit an Bedeutung, die Gewaltakteuren möglicherweise das Wasser abgräbt.
Tiefgreifende Wandlungsprozesse durch die Beschleunigung des religiösen Wandels in der Moderne, die funktionale Ausdifferenzierung relativ autonomer Kultursphären, die Erosion traditioneller religiöser Selbstdeutungen und das Aufkommen globalitärer Perspektiven haben neue islamische Politikformen hervorgebracht. Die Entstehung transnationaler muslimischer UFO-Netzwerke (Unidentifizierte Fundamentalistische Objekte) als Träger und Vorantreiber politischer islamischer Ideologien mit militanten oder frömmigkeitspolitischen Agenden ist im Kontext des Demokratisierungsdrucks islamischer politischer Parteien, der Wandlungsprozesse traditioneller religiöser Vereinigungen und der gesteigerten Präsenz globaler islamischer Medienpersönlichkeiten zu verstehen. Dabei beanspruchen Letzere im Zuge der zunehmenden Nutzung neuer Informations- und Kommunikationsmedien im Namen des Islams zu sprechen. Moderne Prediger produzieren mehr Videos und DVDs als Bücher, die islamische Autoritätsstrukturen auch durch die allgegenwärtige Abrufbarkeit von Empfehlungen zur Rechtleitung radikal verändern. Die Pluralisierung auf der Anbieterseite islamischer Interpretationen beschleunigt die Individualisierung religiösen Partizipationsverhaltens auf der Konsumentenseite. Die Richtung des religiösen Wandels geht hin zu Enttraditionalisierung, Stärkung der Partizipationsrechte der Laien und erfahrungsorientierter Modernisierung. Totalisierende Projekte klassischer Islamisten konkurrieren mit muslimischen politischen Agenden unter und über der nationalstaatlichen Ebene und dies führte zur Entwicklung post-islamistischer Strategien islamisch-politischer Mobilisierung.
Ein Verständnis des Wesens des Post-Islamismus ist zentral für die Frage der Zukunft islamischer Politik und der Bestimmung der auf sie bezogenen Forschungsmethoden und -perspektiven. Islamistische Politik hat sich verändert. Wissenspolitik (»Wer spricht für einen authentischen Islam?«) unterliegt radikalen Reformprozessen und der islamische Identitätsbegriff wird in unterschiedlichen Kontexten neu ausgehandelt. Manche Beobachter kontrastieren klassischen Islamismus als »Islam der Angst« (Baker 2006) oder »Nein-Sager Islam« (Fuller 2003) und dessen dogmatische Verboten-oder-Erlaubt-Diskurse mit dem neuen Islamismus des politischen Pragmatismus, der persönlichen Weiterentwicklung und der sozialen Gerechtigkeit. Autoreformdiskurse kennzeichnen die jungen Islamisten.
Die Spannungen zwischen alten und den neuen, jungen Islamisten sind zahlreich. Die Schariaisierung der Gesamtgesellschaft ist von dem was ich im Folgenden Sunnaisierung nenne, klar abgrenzbar. Die Privatisierungs- und Individualisierungsprozesse des Neofundamentalismus verschieben auch den Ort der Moralität. Die neuen Islamisten sind scheinbar protestantisch anti-korrupt, engagiert für ökonomische Gerechtigkeit sowie zur Erreichung persönlicher Zufriedenheit und Gutgestelltheit.
Olivier Roy beschreibt in »Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung« die Transnationalisierungs- und Deterritorialisierungsprozesse gegenwärtiger Islampolitiken auch aus dem Scheitern nationaler Projekte heraus. Radikalismus und Neofundamentalismus können nach Roy als Antworten der Globalisierungen und der mit ihnen verbundenen Säkularisierungs-, Dekulturations- und Entwurzelungsprozesse interpretiert werden: Hochfromme religiöse Eiferer erobern den säkularen Raum und Muslime der Diaspora prägen ihre Herkunftskulturen in religiösen Substanzsprachen neu, in denen die Glaubensgemeinschaft global gedacht und nicht mit einer tatsächlich existierenden Gesellschaft übereinstimmt. Die religiöse Erneuerung der Neofundamentalismen ist weniger politisch ausgerichtet – die gegenwärtige Reislamisierungswelle der Kleidung, Rede und des persönlichen Verhaltens versucht die Religion in einer säkularisierten Gesellschaft autonom zu verankern. Es ist ein häufiges Missverständnis und ein großer Fehler anzunehmen, dass eine Verwestlichung des Islams zwangsläufig Liberalisierung bedeute. Die jüngere Geschichte des Judentums oder des Christentums bieten exzellente Beispiele: Modernisierungsprozesse führen nicht automatisch zu liberaleren Positionierungen und liberale Denker befriedigen maximal unzureichend die Nachfrage auf den religiösen Märkten.
Roys Beobachtungen zum Scheitern nationaler islamistischer Projekte sind für den Sonderfall der Zia-Ära in Pakistan und das Scheitern der Barelwi-JUP-Islamisierungbemühungen relevant. Aus diesem Scheitern entsteht eine neue Reislamisierungswelle, die durch Privatisierung und Individualisierung islamistischer Projekte gekennzeichnet ist. Die jungen Islamisten neofundamentalistischer Missionsbewegungen zur Islamisierung individueller Lebensführung sind Zeichen und Produkte der voranschreitenden Verwestlichung islamischer Gesellschaften und die gegenwärtige Wiederkehr der Religion eine Reaktion auf die wenig erfolgreiche Überpolitisierung der »alten« Islamisten.
Sozialformen junger Islamisten erinnern häufig an das Neureligiöse: Laisierte, antiintellektuelle Grundsignatur, emotionale Religiosität, Selbstverwirklichungssuche und expressiver Individualismus bei gleichzeitiger Kommunitarisierung, wobei das Kollektiv durch eine Überbetonung des »Ich« geprägt bleibt: Auch al-Qaida ist keine soziale Gruppe, sondern eine Ansammlung von Individuen mit Isolations-, Bruch- und Selbstsucherfahrungen.
Deterritorialisierung begünstigt Laisierung. Die zunehmende Verknüpfung verschiedener lokaler Institutionen, führt zu mehr Heterarchie, d.h. Polyzentrie erhöht die Brüchigkeit klassischer Hierarchie- und Verantwortungsstrukturen. Massenmedien, die Reinterpretation von Islam als »publicly embodied experience«, die Wandlungsprozesse traditioneller religiöser Wissensproduktion, zunehmende strukturelle Interdependenz, erhöhte Mobilität von Personen und die Verfügbarmachung traditioneller Wissenskulturbestände durch neue Informationstechnologien in Echtzeit verändern den Autoritätsbegriff im Islam vergleichbar wie in anderen Religionen. Die neuen Religionsgelehrten unterstützen oft autodidaktische Wissensaneignungsprozesse. Die zunehmende Inanspruchnahme von »Großmufti Google« auch als Upload-Plattform reduziert klassische Grenzen der Wissensproduktion, erhöht Laienpartizipation und minimalisiert dramatisch ehemalige staatliche Patronage- und Kontrollpotentiale. Klassische Rechtsspruchsammlungen werden nun digitalisiert und sind mit Suchfunktion für mehr Interessierte leichter nutz- und revalorisierbar. Zusätzlich gibt es mittlerweile zahlreiche interaktive Rechtsspruchfunktionen per email, sms oder Telefonanruf. Dies steigert authentizitätspolitische Reifizierungsprozesse.
Das islamische Projekt der Sunnaisierung, d.h. das Neuausgestalten und die Rekonstruktion der täglichen Routine sowie der Markierungen individueller Identität nach dem Vorbild des Propheten und der Altvorderen nach der Hadith-Literatur. Diese sogenannte apolitische Sunnaisierung wird hier als Privatisierung und Individualisierung der politischen Re-Islamisierung verstanden. Diese fokussiert die Privatsphäre anstelle des Staates und argumentiert vermehrt mit Hadith als dem Koran. Mit neuer Ambiguitätstoleranz verbindet Sunnaisierung Elemente von Sufismus und Salafismus.
Post-Islamismus in Pakistan
Im September 1981 haben führende Barelwi-Gelehrte wie Arshad al-Qadiri (1925-2002), Muhammad Wiqar ad-Din Qadiri (1915-92), Shah Turab al-Haq Qadiri (-1995) und JUP-Mitglieder im Haus Shah Ahmad Nuranis (1926-2003) in Karachi die Gründung der apolitischen transnationalen »Barelwi Tablighi Jamaat Dawat-e Islami« beschlossen, auch um das Scheitern der nationalen politischen Reislamisierungsbemühungen zu kompensieren, die den Weg für den Militärputsch 1979 bereitet hatten und die JUP in eine tiefe Krise stürzten. In dieser Runde wurde Muhammad Ilyas Qadiri als Amir der Bewegung vorgeschlagen, u.a. wohl weil sein Name an den Namen des Tablighi-Gründers Muhammad Ilyas erinnert, aber auch weil er Memon ist und als Präsident einer Studentenbewegung der JUP bereits unter Beweis stellte, dass er insbesondere die jüngere Generation mobilisieren kann. Die »Dawat-e Islami« sollte unter Ilyas Qadiri (geb. 1950) den Nizam-e Mustafa-Plan [Rechtsordnung des Propheten] an politischen Institutionen vorbei erfolgreich weiterentwickeln und so zur Lösung der JUP-Führungskrise beitragen.
Man kann die »Dawat-e Islami« in ihrer apolitischen Attitüde folglich als „Machtschattengewächs“ (Ottfried Fischer) bezeichnen, das den unheiligen Hainen der politischen Religionen entwachsen ist, ja sogar direkt auf Parteieinfluss zurückgeht. Folglich lohnt hier eine kurze Betrachtung der Person des Shah Ahmad Nurani. Malik (1990) legt eine hochinteressante Studie zu den charismatischen Aspekten seiner religiösen und politischen Legitimitätsansprüche vor. Obgleich Shah Ahmad Nurani von 1953 bis 1964 Generalsekretär der »World Muslim Ulama Organization« war, wurde er in Pakistan praktisch erst 1970 bekannt, mit seiner Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der den Barelwis nahestehenden politischen Partei JUP. Sein heroisches Projekt ist die Etablierung des »Nizam-e Mustafa«, d.h. das System des Propheten Muhammad als verbindliche Rechtsordnung Pakistans einzusetzen um eine gerechte und gottgewollte Gesellschaftsordnung zu schaffen.
1977 führte er gegen den Premierminister Zulfiqar Ali Bhutto (Staatspräsident 1971-1973, Premierminister 1973-1977) den Slogan »Nizam-e Mustafa« ein, der als Kampfansage die „islamischen Parteien“ gegen die „unislamische“ PPP (Pakistan People´s Party) verband. Die Opposition gründete mit einem Zusammenschluss aus neun Parteien die »Pakistan National Alliance« (PNA) als Gegenkraft zu Bhutto´s PPP. Als die PPP dennoch einen Wahlsieg feierte, organisierte die PNA, die Wahlbetrug witterte, Großdemonstrationen und bat das Militär zu intervenieren. Dies war die ideale Vorlage für den Putsch des Militärdiktators Zia al-Haq am 05.07.1977, der Zulfiqar Ali Bhutto (1928-1979) und die PPP den Regierungsverantwortungen enthob. Oppositionelle wurden ermordet, Nurani selbst zwischenzeitlich inhaftiert. Obgleich Nuranis Idee der Umsetzung des »Nizam-e Mustafa« scheiterte, bediente sich der General Zia al-Haq (1924-1988, Militärdiktator 1977-1988) dieses Slogans, um seine Islamisierungspolitik zu oktroyieren. Zia erlaubte der als apolitisch geltenden »Tablighi Jamaat« innerhalb des Militärapparates frei zu operieren und er war der erste Politiker, nicht nur der erste Armeechef, der den jährlichen »ijtima« der »Tablighi Jamaat« in Raiwind besuchte.
Nurani wurde damit zum tragischen Helden, dessen Gegenspieler von seinem heroischen Projekt profitierten. Nach diesem Scheitern des »politischen« Versuchs der Etablierung des fundamentalistischen Programms der Barelwis, versuchte er nun an der Politik vorbei, quasi apolitisch, dieses nunmehr neofundamentalistische Programm der Islamisierung der Gesellschaftsordnung nicht mehr »von oben herab« sondern »von unten herauf« umzusetzen. Das Mittel hierfür sollte die »Dawat-e Islami« werden. Die teilweise massive Diskriminierung der Barelwis unter der Militärherrschaft Zias führte zu einer neuen Mobilisierungsstrategie der Barelwis nach einem Muster, das zahlreiche Parallelen hat.
»Dawat-e Islamis« Missionsarbeit verbreitete sich durch eine radikale Betonung auf universeller Barelwi-Bruderschaft quasi im Schneeballsystem rasch in Karachi und im Sindh. Sie vermarkten sie bis heute als Akteure praktizierter Prophetenliebe und Errichter einer idealen islamischen Gesellschaft innerhalb ihrer Neobruderschaft. Das Versammlungsprogramm besteht aus i) Koranrezitation, ii) Prophetenlob, iii) moralische Erbauungsrede eines Laienpredigers, und iv) bayan zu einer Sunna, d.h. ein Alltagsproblem neu zu deuten. Laienpredigergruppen reisen in die verschiedenen Stadtteile, um an den Moscheen grundsätzliche islamische Glaubenslehren zu erklären. Mit dieser hocheffektiven Methode des »empowering« von Laienpredigern, die sich den Islam im Wesentlichen durch das Weiterverbreiten aneignen und einfache und ehrliche Gefühle der universellen Bruderschaft beschwören, verbreitete sich die Bewegung zügig im ganzen Sindh und dann über Lahore auch im Punjab. Im Oktober 1988 wurde als Handbuch für die Laienpredigten der »Faizan-e Sunnat« (Segnungen der Sunna) veröffentlicht. Dieses Hauptwerk Ilyas Qadiris erleichterte die Homogenisierung der Laienpredigeraktivitäten in den diversen Subzentren, da es als Lehrredenhandbuch die Unterweisungen der Laienprediger vorgibt und auch die Kultivierung eines hohen Urdu-Sprachniveaus fördert, das im ruralen Kontext nicht zwangsläufig als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.
1991 öffnete das Weltzentrum der »Dawat-e Islami« in Karachi. Als wahre Megamoschee dient der »Faizan-e Madina« in Karachi zum wöchentlichen »ijtima« etwa 40.000 Muslimen als Gebetsstätte, Ausbildungszentrum und Vermittlerstelle für freiwillige Dienste zur Verbreitung der Reislamisierung in Pakistan und in den Diasporagesellschaften. Studien zu Megakirchen belegen die naheliegende Vermutung, dass solch große Einrichtungen insbesondere »neue«, jüngere und unverheiratete männliche Gläubige anziehen, die häufig von Bekannten eingeladen werden, da große Kultstätten mit weniger Vorbehalten und Hemmschwellen assoziiert werden und ein breiteres Spektrum an Partizipationsmöglichkeiten anbieten. Die Idee, nach dem Vorbild der »Tablighi Jamaat« eine effektive Mobilisierungsbewegung für die Barelwi-Jugend zu gestalten, überwindet traditionelle Milieugrenzen, man könnte zugespitzt gar von Ritenklau sprechen.
Spiritualität, Radikalisierung und militante Mobilisierung in Südasien
Die neofundamentalistischen Missionsbewegungen »Tablighi Jamaat« und »Dawat-e Islami« betonen die buchstäbliche Nachahmung des Verhaltens des Propheten in allen Aspekten des Alltagslebens. Für dieses »islamische Projekt« möchte ich den Begriff »Sunnaisierung« vorschlagen. Sunnaisierung ist eine personalisierte Form der Islamisierung, die den privaten anstatt den politischen Raum fokussiert, und deren Akteure mehr mit Hadithen argumentieren als dem Koran. Obwohl diese Bewegungen extrem radikale Verurteilungssemantiken zur Kritik gegenwärtiger Gesellschaften und Individuen anwenden, stehen ihre überwiegend gewaltlos vorgehenden Akteure für eine friedliche Wiederverkündung islamischer Botschaften.
Durch Gruppendruck implementieren sie einen strikten Kleidungsstil unter ihren Anhängern, die sich in extrem mobilen Kleingruppen hochfrommer Laienprediger organisieren (»jamaat«, »madani qafila«). Sie laden zu wöchentlichen und jährlichen Veranstaltungen (»ijtimas«) ein. Struktur, Organisation und Vorgehen der Missionsbewegungen ähneln sich stark. Der wirklich neue Aspekt dieser neureligiösen Phänomene ist ihre zunehmende Visibilität und Politisierung ihrer Präsenz.
Die auch von Konvertiten, wiedererweckten Muslimen und Proselytenmachern vorangetriebene Politisierung oder „Islamisierung des Islams“ (al-Azmeh 1993: 7) und der Debatten über den Islam erzeugt einen spezifischen Druck insbesondere auf konservative Muslime, die zu »50:50-Muslimen« oder »not-good-enough«-Muslimen degradiert werden.
Den Pluralisierungstendenzen der neuen Entdeckung der Vielfalt steht komplementär die Tendenz entgegen, dass Religionen insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten vermehrt Politisierungsprozessen unterworfen sind. Nach Assmann (2003) neigen dabei insbesondere monotheistische Religionen zu einer Bekenntnispolitik, die durch eine scharfe Trennung von Wahrheit und Lüge in der Praxis häufig Intoleranz fördert. Sowohl »Tablighi Jamaat« als »Dawat-e Islami« konzipieren »dawa« mit einer Rhetorik des »jihad« eines universalen Kampfs der wenigen wahren Gläubigen gegen Glaubensverfall und Unglauben.
Einige der Attentäter der Anschläge von 11. März 2004 in Madrid bzw. vom 7. Juli 2005 in London oder prominente Terroristen wie der »Amerikanische Taliban« John Walker Lindh oder Richard Reid bzw. Jose Padilla waren nach Medienberichten in Tablighi Aktivitäten involviert. Die Brüder Kafil und Sabil Ahmad, die im Juli 2007 den Anschlag auf den Flughafen in Glasgow ausführten, waren regelmäßige Besucher des Tablighi »markaz« in Bengaluru. In Indien war der Tablighi Gelehrte Sufyan Patangia angeklagt, eine Terrorzelle anzuführen, die angeblich Gujerats Innenminister Haren Pandya ermordete. Zwei der Tatverdächtigen des Anschlages auf den Sabarmati Express, einen Zug, der im Februar 2002 Hindu Pilger von Ayodhya transportierte, bei dem 58 Menschen getötet wurden, hatten Verbindungen zu Tablighi Institutionen. Einige Beobachter unterstellen, dass diese missionarischen Bewegungen junge Muslime radikalisieren, die dann nach einer Weile nach Pakistan auf Missionsreise geschickt werden, wo sie vermutlich mit anderen militanteren Akteuren in Kontakt treten, insbesondere der Deobandi-Bewegungen »Harakat al-Mujahidin«.
Ob die Missionsbewegungen eine aktive politische Rolle einnehmen oder von militanten Mitgliedern als Mobilisierungsplattform ausgenutzt werden, bleibt zu diskutieren. Fakt ist, dass all diese Bewegungen »jihad« als Krieg und Pflicht lehren und dies in der Tat einen Rahmen schafft, wo es auf einen dritten Akteur ankommt, der erklärt, dass dies jetzt unter diesen Umständen der besagte Moment der Geschichte ist, an dem eine Pflicht erfüllt werden muss. Zahlreiche islamistische Gruppen kritisieren die Frömmigkeitsbewegungen jedoch stark für ihre apolitischen Einstellungen, die Muslime angeblich einschläfern und von der Islamisierung der Gesamtgesellschaft wegführten. Kafil und Sabil Ahmed beispielsweise oder die beiden führenden Mitglieder der Terrorzelle, die die Anschläge in London am 7. Juli ausführten, Mohamed Siddique Khan und Shezhad Tanwir, hatten sich zuvor von Tablighi-Moscheen in Bengaluru bzw. Beeston wegen deren zu engen – rein missionarischen – Anstrengungen und apolitischen Einstellungen distanziert bzw. bekamen Hausverbot.
Mittlerweile scheint es, dass postislamistische konservative Neofundamentalismen, die die Gesellschaft durch die Entfaltung missionarischer Tätigkeit von unten nach oben islamisieren wollen, den »Salafi Jihadismus«, der die Gesellschaft durch Erreichung staatlicher Kontrolle islamisieren wollte, größtenteils ersetzt hat. Diese augenscheinlich von unten vorangetriebene »Islamisierung von innen« durch langfristige kulturelle Islamisierung und Säkularisierung klassisch-islamischer Konzepte muss scharf abgegrenzt werden von gewalttätigen »Religionskriegen und -konflikten«, die üblicherweise von oben herab organisiert werden.
Die unterschiedlichen Akteure traditioneller und moderner islamischer Fundamentalismen argumentieren in unterscheidbaren Rationalitäten. Man erkennt eine Verschiebung vom bigotten Bekenntnispathos hin zu praktizierter erfahrbarer Frömmigkeit. Deshalb reorientieren sich die Laienprediger an einer virtuellen translokalen Medinagesellschaft, gleichsam eines »dar as-sunna« (Haus der Sunna) anstatt eines Nationalstaates. Beide Bewegungen beeinflussen in hohen Maßen, wie Islam in ihrem Umfeld praktiziert wird. Dies mag in der Öffentlichkeit den Eindruck wecken, diese Bewegungen seien mit radikalen Gruppen assoziiert, aber die innere Logik dieser islamischen Revitalisierungsbewegungen ist Rekrutierungsprozessen jihadistischer Organisationen nur begrenzt nützlich. In der Tat könnte die Unterstützung der radikalen Missionare eines apolitischen friedlichen Islam zentral sein um der Botschaft terroristischer Gewalt innerislamisch entgegenzutreten. Neofundamentalistische Mobilisierung hilft bei der Neutralisierung terroristischer Netzwerke, denn hochfromme Kleingruppen der Neobruderschaften fischen in den gleichen Wässern wie militante Akteure. Mit vergleichbaren Mobilisierungsstrategien üben sie ihre Attraktionskraft auf dieselbe Gruppen hochengagierter, manchmal sozial alienierter junger männlicher Muslime aus, deren Mangel an gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten mit Abenteuerliebe und einem ansteckend brennenden Verlagen nach Weltverbesserung gepaart ist. Die Laienprediger verbreiten eine in ähnlicher Weise dichotome Weltsicht, aber friedlich und auf die Privatsphäre bezogen. Sie sind mittlerweile zentraler Teil der neuen transnationalen Islamisierungsbewegung geworden und ziehen dabei auch Opportunisten an, die sich ihnen als cover anschließen um Verfolgungen von Sicherheitsbehörden zu entgehen. Obgleich die Frömmigkeitsbewegungen lange Zeit einer Politik des Nichtfragens nach der persönlichen Vergangenheit folgten – da jeder bereuen, revertieren und umkehren kann – haben ihre hochprofessionellen und effektiven bürokratischen Organisationsstrukturen in den Jahren nach 2002 wirkungsvolle Maßnahmen geschaffen um die lebensgeschichtliche Identität ihrer Vertreter zu überprüfen und Infiltrierung militanter Elemente zu begrenzen.
Literatur
Al-Azmeh, Aziz (1993): Die Islamisierung des Islam: Imaginäre Welten einer politischen Theologie. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Assmann, Jan (2003): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München: Carl Hanser.
Baker, Raymond William (2006): Islam Without Fear: Egypt and the New Islamists. Cambridge: Harvard University Press.
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Gugler, Thomas K. (2010): The New Religiosity of Tablîghî Jamâ´at and Da´wat-e Islâmî and the Transformation of Islam in Europe. Anthropos 105 (1), S.121-136.
Gugler, Thomas K. (2009): Mujahedin islamischer Mission. Südasien 29 (4), S.66-69.
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Malik, Jamal (2008): Islam in South Asia. A Short History. Leiden: Brill.
Malik, Jamal (1990): The Luminous Nurani. Charisma and political mobilization among the Barelwis in Pakistan. Social Analysis. Journal of Cultural and Social Practice. Special Issue. Hg. v. Pnina Werbner: Person, Myth and Society in South Asian Islam, S.38-50.
Mandaville, Peter (2007): Global Political Islam. New York: Routledge.
Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.
Sageman, Marc (2008): Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-First Century. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
Thomas K. Gugler war langjährig Mitarbeiter am »Zentrum Moderner Orient« mit dem Schwerpunkt Südasien; er forscht zudem zur Situation von Muslimen in Europa und in ihren Herkunftsgesellschaften.