Die Kehrseite des Krieges
Risse im sozialen Gefüge Israels
von Claudia Haydt
Die Abriegelung der Palästinensischen Gebiete und besonders die »Operation Schutzschild« haben Hunger, Armut und tiefe wirtschaftliche Not in die palästinensischen Gebiete gebracht. Doch auch in Israel selbst hinterlässt der Krieg auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene tiefe Wunden. Die innerisraelische soziale Destabilisierung begann jedoch nicht erst mit der Al-Aqsa-Intifada, sie zeichnete sich schon einige Jahre früher ab.
Israel war in den letzten zwei Jahrzehnten – bis zum Ausbruch der Al-Aqsa Intifada – geprägt von einem deutlichen ökonomischen Wachstum. Die Früchte dieses Wachstums wurden jedoch sehr ungleich verteilt: Ein relativ kleiner Prozentsatz der Israelis konnte einen starken Anstieg seines Einkommens verzeichnen, während der große Rest weit weniger davon profitierte. Die Nichtregierungsorganisation ADVA (hebräisch für »Welle«) zeigt in ihren regelmäßig erscheinenden Sozialberichten1 den dringenden Bedarf auf, für langfristige, stabile sozioökonomische Politikkonzepte, die es ermöglichen würden, das Niveau der Bildung und des Einkommens in der israelischen Gesellschaft gleichmäßig anzuheben. „Diesem Bedarf wird durch die momentane Regierungspolitik keine Rechnung getragen. Im Gegenteil, alle Regierungen der letzten Zeit – egal ob links oder rechts – haben ihre soziale Verantwortung de facto aufgegeben, haben die Steuern für den Unternehmensbereich gesenkt und die Lasten für Privathaushalte erhöht.“2 In diesem Jahr gab es – im Kontext des andauernden militärischen Konfliktes und der Rezession – nur zwei Bereiche, an denen nicht gespart wurde: »Sicherheit« und »Infrastruktur« (v.a. beim Bau von Siedlungen, Umgehungstrassen und des »Sicherheitszauns«). Diese Regierungspolitik entlarvt Dr. Daphna Lavit (Ben-Gurion University Business School) als gefährliche, aber wirksame Taktik: Sie „verschleiert die Wirklichkeit und konzentriert die nationale Aufmerksamkeit auf eine unmittelbare drohende Auslöschung… Verlasst euch darauf, dass wirtschaftliche Zahlen und Aufstellungen langweilig und weitgehend unverständlich sind, dann wird euch die Bevölkerung unterstützen – bis zum Staatsbankrott. Wenn diese Taktik richtig angewandt wird, dann wird jede Opposition gegen Militärausgaben als unpatriotisch gelten …“3
Ökonomisches Wachstum und soziale Ungleichheit
Durch das starke Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte gehört Israel heute zu den Ländern mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt. Es stieg von 5.612 $ pro Kopf im Jahr 1980 auf 16.531 $ im Jahr 1999. Damit holte Israel einen Teil des ökonomischen Abstandes zu den Ländern der EU auf: Von knapp 60% des EU-Niveaus (1980) auf fast 75% (1999).
Gleichzeitig entwickelten sich die Einkommen der israelischen Bürger aber überaus unterschiedlich: Während das Einkommen des obersten Dezils (also der obersten 10% der Bevölkerung) parallel zum Bruttoinlandsprodukt stieg, hat sich das Einkommen in den mittleren und unteren Schichten kaum verändert. Waren 1990 die Einkommen im obersten Dezil durchschnittlich 8,9 mal höher als die im untersten Dezil so vergrößerte sich diese Kluft bis 1999 auf das 11,8-fache. Den Einkommensbeziehern aus den zwei obersten Dezilen gelang es, ihren Anteil am Kuchen zu vergrößern, während sich der Anteil des Rests der Bevölkerung verringerte. So verfestigt sich auch in Israel der weltweite Trend, dass immer weniger Menschen ein immer größer werdendes Einkommen zur Verfügung steht, während sich die ökonomische Situation der übergroßen Mehrheit – bis weit in die Mittelschichten hinein – verschlechtert.
Ethnische und Gender-Ungleichheiten
Zwischen Israelis unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind soziale Unterschiede tief verankert. Das Einkommen der arabischen Bürger Israels ist traditionell am niedrigsten und ist seit 1995 sogar noch weiter gesunken. Das Einkommen von Juden mit asiatischem oder afrikanischem Hintergrund (Sepharden) ist etwas höher, ihr durchschnittliches Einkommen ist während der letzten Jahre gestiegen und hat sich vom durchschnittlichen Einkommen der Araber entfernt. Die »innerjüdische« Einkommens-Kluft zwischen Sepharden und den Juden europäischer bzw. US-amerikanischer Herkunft (Ashkenasen) hat sich kaum verändert. Das Einkommen der ashkenasischen Juden liegt weit über dem der anderen Gruppen: 1999 war das Einkommen eines durchschnittlichen ashkenasischen Arbeitnehmers um 50% höher als das eines sephardischen und um 100% höher als das eines arabischen.
Auch geschlechtsbedingt gibt es deutliche Einkommensunterschiede in Israel: 1999 erzielten Frauen im Durchschnitt nur 60% des Einkommens von Männern. Berücksichtigt man, dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten und zieht den Stundenlohn als Vergleichsgröße heran, dann ergibt sich immer noch eine um 19% schlechtere Bezahlung für Frauen.
Armut und Reichtum
Die Einkommen des oberen Managements entfernen sich auch in Israel immer weiter von den Durchschnittslöhnen. Dadurch wird auch das Bild des »Durchschnittslohnes« immer trügerischer: Es suggeriert, es handle sich hier um einen Betrag, den die meisten Menschen verdienen, das tatsächliche Einkommen der meisten Israelis liegt jedoch unter dem Durchschnittslohn. 1999 verdienten nur 27% der Israelis mehr als den Durchschnittslohn, während für 63% nur drei Viertel oder weniger zur Verfügung stand.
Für eine wachsende Anzahl von Israelis garantiert der Arbeitsmarkt nicht einmal mehr ein Einkommensminimum. Die Anzahl der Israelis deren Einkommen unter der Armutsschwelle4 liegt, stieg von 23,8% (1979) auf 32,2% (1999). Darunter sind viele, die nicht arbeitslos sind, deren Lohn aber nicht ausreicht für ein akzeptables Existenzminimum. Besonders hart betroffen sind davon Familien und Kinder: 1999 lebten 36,7% der Kinder unter der Armutsgrenze. Arbeitslosigkeit ist in arabischen Vierteln wesentlich höher als in jüdischen, unter Frauen höher als unter Männern und unter arabischen Frauen höher als unter jüdischen Frauen. Arbeitslosigkeit trifft überproportional diejenigen, bei denen das Bildungssystem versagt hat.
Bildung und Ungleichheit
Das Bildungssystem ist in jedem Staat eine zentrale – wenn nicht die zentrale – Möglichkeit, um sozialer Ungleichheit gegenzusteuern. Das israelische Schulsystem fungiert jedoch nicht als Instanz, die Ungleichheiten verringert, sondern verstärkt diese noch. Die Ungleichheiten des Schulsystems werden dann besonders auffällig, wenn man den Bildungserfolg nach Regionen getrennt betrachtet. Beinahe 60% aller Jugendlichen scheitern daran, einen High School-Abschluss zu erreichen. Die meisten davon stammen aus arabischen Wohngegenden oder aus jüdischen Armenvierteln.
Eine Studie verfolgte den Bildungsweg von Jugendlichen, die 1991 17 Jahre alt waren, bis ins Jahr 1998. Es wurde dabei unterschieden nach Jugendlichen aus wirtschaftlich starken Städten (z.B. Tel Aviv, Herzliya), aus strukturschwachen Städten (z.B. Safed, Tiberias) und aus arabischen Städten (z.B. Umm al Fahm, Kafar Kanna). Beinahe 50% der Jugendlichen aus arabischen Städten verließen die Schule vor der zwölften (und letzten) Klasse. Von denen die dort verblieben, versuchten dennoch viele erst gar nicht, einen Abschluss zu machen und effektiv bestanden nur 20% aller Schüler in arabischen Städten die Prüfungen. Ein Studium an einer Universität nahmen nur 5% auf. Für Jugendliche aus den wirtschaftlich starken Städten sieht die Bilanz deutlich besser aus, 56% bestanden die Prüfungen und 32% nahmen ein Studium auf.
Die Rolle, die die Ausstattung der Schulen mit Lehrern und deren Qualifikation sowie die angebotenen Curricula für das Bildungsniveau der Schüler spielen, fällt besonders auf, wenn man untersucht wie viele der erfolgreichen Schul-Absolventen an den Universitäten abgewiesen werden. Durchschnittlich 50% bis 60% der Schüler aus arabischen Städten werden nicht aufgenommen, weil ihre Prüfungsergebnisse oder die Anzahl und Qualität der an der Schule belegten Fächer den Anforderungen der Universitäten nicht entsprechen. Bei Schülern aus den wirtschaftlich stärkeren Regionen liegt die Quote in der Regel zwischen 15% und 20%.
Ein schlechter oder kein Schulabschluss verschlechtert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, verurteilt viele Menschen zu oft ungesicherten Gelegenheitsjobs. Auch die steigende Arbeitslosigkeit trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark: Über die Hälfte der Israelis, die die Schule vorzeitig (vor dem 10. Schuljahr) verlassen haben, ist arbeitslos. Bei den Ultraorthodoxen ist diese Quote sogar bei 78%. Doch während die »Schulversager« überwiegend unfreiwillig arbeitslos wurden, ist Arbeitslosigkeit bei vielen Ultraorthodoxen frei gewählt.Viele leben von Lohnersatzleistungen und Kindergeld, das bei jedem Kind pro Kopf steigt.
Niedrige Einkommen führen zu sozialer Marginalisierung, zu schlechterer Gesundheitsversorgung, zu schlechten Startchancen für die nächste Generation und so fort. Die Ungleichheiten setzen sich bis ins hohe Alter fort. In Israel existiert keine allgemeine Rentengesetzgebung und viele sind auf die äußerst dürftige staatliche Altersversorgung angewiesen. Auch hier sind arabische Israelis und sephardische Juden besonders häufig unter den Verlierern.
Auswege aus der Armutsspirale?
Seit dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada erlebt Israel eine Wirtschaftskrise. Im ersten Halbjahr 2001 verzeichnete es ein negatives Wirtschaftswachstum von 1,8% und im zweiten Halbjahr waren es sogar minus 5,3%. Im Jahr 2002 schrumpft die Wirtschaft weiter und für das Jahr 2003 gehen die Prognosen von bis zu minus 2,5 % aus. Die weltweite Rezession und die Krise der Hightech-Branche verstärken die Folgen der Intifada auf die israelische Wirtschaft. Um die sehr teure »Operation Schutzschild« und den Einsatz zehntausender Reservisten bezahlen zu können, hat die Knesset weitgehende Budgetkürzungen beschlossen. Diejenigen, die bisher schon unter der Wirtschaftskrise leiden, müssen nun im Rahmen der Haushaltskürzungen zusätzliche Einbußen in Kauf nehmen. Die Befürworter dieser Entscheidung argumentieren, der Konflikt und die Rezession erforderten eine »Pause« im Kampf gegen soziale Ungleichheit. In der Praxis heißt das aber, soziale Ungleichheiten verfestigen sich und wachsen auf hohem Niveau weiter.
Die Brüche in der Gesellschaft werden immer deutlicher; dabei ist die Verstärkung der sozialen Unterschiede entlang ethnischer Zugehörigkeit offensichtlich nicht nur ein Nebeneffekt, sie scheint zumindest teilweise politisch gewollt. Dies fällt besonders bei der beschlossenen Kürzung des Kindergelds auf: Bei Eltern, die Ihren Militärdienst abgeleistet haben, wird das Kindergeld um 4% gekürzt, bei Eltern die keinen Militärdienst abgeleistet haben, beträgt die Kürzung 24%. Dies trifft besonders die arabische Bevölkerung, da diese vom Militärdienst ausgeschlossen ist. Viele Ultraorthodoxe leisten ebenfalls keinen Wehrdienst, haben jedoch mit ihrer starken Lobby in der Knesset Sonderregelungen durchgesetzt, die für sie die Kürzungen abfedern.
Die fortgesetzte kriegerische Auseinandersetzung mit der palästinensischen Bevölkerung verschärft die strukturellen und auch die z.T. bewusst verursachten sozialen Unterschiede – innerjüdische Unterschiede ebenso wie die zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung. Der Krieg kostet Geld, er schmälert die Produktivität indem er Reservisten aus dem Wirtschaftsprozess herausholt und er isoliert Israel im Rahmen der Weltwirtschaft. Der einzige Ausweg aus Krieg und Verelendung ist ein tragfähiger Kompromiss mit der palästinensischen Autonomiebehörde, ein Abschied aus der in jeder Hinsicht kostspieligen Siedlungspolitik und ein Ende der Besatzung.
Anmerkungen
1) Die Daten dieses Berichtes stammen, wenn nicht anders erwähnt, aus den Berichten von ADVA. Vgl. www.adva.org.
2) Dr. Shlomo Swirski / Etty Konor-Attias: Israel – A Social Report, Tel Aviv 2002, S. 4.
3) Daphna Levit, Where Have All our Shekels Gone?, Juni 2002 (http://www.coalitionofwomen4peace.org/articles/wherehaveallourshekelsgone.htm)
4) »Armutsschwelle« bezeichnet in Israel ein Äquivalenzeinkommen von höchstens 50% des Durchschnittseinkommens, wobei der Durchschnitt hier als Median gerechnet wird; d.h. es geht um den Wert, bei dem tatsächlich die eine Hälfte der Bevölkerung mehr und die andere Hälfte weniger verdient.
Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin. In der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. bearbeitet sie den Schwerpunkt Israel/ Palästina und Islam.