Die Lage im Donbass
Noch ein eingefrorener Konflikt?
von Agnieszka Legucka
Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Moldawien, die Ukraine und auch die Russische Föderation von eingefrorenen Konflikten betroffen, die sich auf die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Lage im jeweiligen Land ebenso auswirken wie auf die Nachbarländer. Die Autorin beschreibt den Konflikt im Donezbecken (Donbass) der Ostukraine, der bereits mehr als drei Jahre anhält, aus ihrer Sicht. Sie stellt die These auf, dass auch dieser Konflikt einfriert, da sich die Ukraine und Russland nicht über die Zukunft der Region einigen können.
Ein eingefrorener Konflikt ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Auseinandersetzung zwar nicht mehr mit Waffen ausgetragen wird, es jedoch auch nicht gelingt, die Konfliktursachen zu lösen. Gleichzeitig bildet sich im umstrittenen Gebiet ein Quasi-Staat heraus, welcher Unterstützung von einer starken Drittpartei erhält, die den Konflikt für ihre eigenen außenpolitischen Ziele nutzt (Kolstø 2006, S. 725).
Die eingefrorenen Konflikte im postsowjetischen Raum durchlaufen in der Regel drei Phasen: die Chaosphase (bewaffneter Konflikt), die Verhandlungs- und Waffenstillstandsphase und die eingefrorene Phase, in welcher sich der Quasi-Staat mit Hilfe einer externen Macht konsolidiert. Diese letzte Phase setzt nicht unbedingt einen Waffenstillstand voraus, es reicht auch ein Abflauen der bewaffneten Auseinandersetzung und eine zumindest informelle Grenzziehung zwischen Separatisten und Mutterstaat (Solak 2009, S. 234).
Die Definition eines eingefrorenen Konflikts ist manchmal unscharf. Manche Wissenschaftler*innen verwenden eher den Begriff »anhaltender« Konflikt (protracted conflict), wenn es auf beiden Seiten noch regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen und zu Todesopfern, inklusive Zivilist*innen, kommt, wie beispielsweise in Bergkarabach (Secerieru 2013, S. 2). Aktuell werden im post-sowjetischen Raum vier Konflikte als eingefroren bezeichnet. In all diesen Konflikten fanden kriegerische Auseinandersetzungen um umstrittene Gebieten statt: Bergkarabach (1988-1994) (siehe dazu den Text von Azer Babayev auf S. 18), Südossetien (1991-1992) und Abchasien (1992-1994) (siehe dazu den Text von Oliver Wolleh auf S. 21) sowie Transnistrien (1991-1992). In der Folge dieser militärischen Auseinandersetzungen erklärten Abchasien und Südossetien ihre Unabhängigkeit von Georgien, Transnistrien von Moldawien und Bergkarabach von Aserbaidschan (Legucka 2013, S. 100-123).
Seit Anfang 2014 spielt sich auf dem Gebiet der Ukraine ein weiterer Konflikt ab, der »einzufrieren« droht. Hier geht es um die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk im Donbass-Gebiet, im Osten der Ukraine, deren Grenzen weiterhin militärisch umkämpft sind.
Die Annexion der Krim wird von einigen Wissenschaftler*innen missverständlich als »eingefrorener Konflikt« bezeichnet (Racz 2016). Dieser Fall stellt sich jedoch anders dar. Zum einen ist die Halbinsel seit 2014 unter De-facto-Kontrolle und -Jurisdiktion von Russland, einem völkerrechtlich anerkannten Staat und Mitglied des Europarates. Zum anderen handelt es sich bei der Krim nicht um einen Quasi-Staat, den Russland zur Ausweitung seines außenpolitischen Einflusses nutzt, sondern um ein von der Russischen Föderation besetztes Gebiet. Russland beansprucht die Krim als integralen Bestandteil seines Hoheitsgebietes, weshalb auch keine Friedensgespräche stattfinden. Die Definition für einen eingefrorenen Konflikt passt hier also nicht.
Der Fall Ukraine
Die drei oben beschriebenen Phasen für das Entstehen eines eingefrorenen Konflikts im postsowjetischen Raum treffen aber auf die Ostukraine zu. Militärische Auseinandersetzungen begannen im Donbass im März 2014. Das war die Zeit des Chaos – die erste Phase, die Herausbildung eines Quasi-Staates. Nach einmonatigen Kämpfen wurde am 7. April die Volksrepublik Donezk (Donezkaja narodnaja respublika, DNR) und am 27. April die Volksrepublik Lugansk (Luganskaja narodnaja respublika, LNR) ausgerufen. Russland verfolgte ursprünglich das Projekt »Novorossija« (Neurussland), welches etliche Gebiete im Süden und Osten der Ukraine umfassen sollte, jedoch scheiterte. Daher begann Russland, sich für eine lokale Vertretung der Donbass-Region bei den Friedensgesprächen stark zu machen und legitimierte die DNR und die LNR dadurch als reguläre Konfliktparteien – die zweite Phase des Konflikts. So wollte Russland nicht nur das Vorgehen des ukrainischen Militärs beeinflussen, sondern vor allem Präsident Petro Poroschenko an den Verhandlungstisch zu den Minsker Abkommen zwingen. Wladimir Lukin, in den 1990er Jahren Botschafter der Russischen Föderation in den Vereinigten Staaten und 2014 wiederholt als Vermittler sowie als russischer Menschenrechtsbeauftragter in der Ukraine tätig, sagte: „Vergiss die DNR und die LNR. Ziel [der Gegenoffensive vom August 2014] ist es, Poroschenko klar zu machen, dass er nicht die Oberhand gewinnen wird [… Der Kreml] wird so lange Truppen schicken, bis Poroschenko das versteht und sich mit denjenigen an den Verhandlungstisch setzt, die Putin dort sehen will.“ (Charap 2016, S. 2)
Im Vergleich zu anderen Konflikten im postsowjetischen Raum hat Russland im Donbass größere Mühe, als Mediator und Stabilisierungskraft aufzutreten. Dank seiner Teilnahme an den Friedensgesprächen im Normandie-Format (Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland), bei denen es um die Umsetzung der Abkommen Minsk I und II geht, kann Russland jedoch Vorschläge unterbreiten, wie die Lage im Donbass gelöst werden kann. Russland wirbt für eine dezentralisierte und föderale Ukraine, in der die regionalen Organe erheblichen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik hätten. Die Führungsspitze der Ukraine lehnt dies jedoch ab, da sie befürchtet, die regionalen Vertreter des Donbass beeinträchtigten eine unabhängige Russlandpolitik. Daher wird Russland wohl die Minsker Abkommen nur halbherzig unterstützen und dafür sorgen, dass möglichst wenige der Vereinbarungen umgesetzt werden. Parallel dazu wird Russland die Verwaltungsgremien der DNR und LNR unterstützen und ausstatten. In diesem Sinne erließ der russische Präsident am 18. Februar 2017 ein Dekret zur Anerkennung von Dokumenten und Urkunden, welche von den Regionalverwaltungen im Donbass ausgestellt werden. Damit signalisiert Russland die De-facto-Legimitierung dieser Regionalverwaltungen – möglicherweise läutet dies Konfliktphase drei und somit einen weiteren eingefrorenen Konflikt ein.
Im September 2017 schlug der russische Präsident Putin zwar eine Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen im Donbass-Gebiet vor, aber auch dabei geht es wohl vorrangig darum, die Demarkationslinie zwischen den von der Ukraine und den Separatisten beherrschten Gebieten festzuklopfen.
Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf ganz Mittel- und Osteuropa. Auf der Krim sind etwa 24.000 russische Soldation stationiert, und im Südlichen Militärdistrikt [einem von vier strategischen Kommmandos der russischen Streitkräfte; R.H.] stehen etwa 72.000 Soldaten bereit, die jederzeit Richtung Donbass marschieren könnten (Dyner 2016). Auch wenn viele den Konflikt momentan als »eingefroren« einstufen, ist die Sorge vor einer erneuten Eskalation groß. Die Nachbarstaaten fürchten eine russische Aggression und bauen ihre Streitkräfte und ihr Verteidigungspotential entsprechend aus. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 wurde eine verstärkte Präsenz der NATO an der so genannten Ostflanke des Bündnisses beschlossen. Seit Januar 2017 sind in Polen, Rumänien und den baltischen Staaten multinationale Kampftruppen mit je 1.000 Soldaten stationiert. Diese Truppenverstärkung der NATO empörte Russland dermaßen, dass es seinerseits mit einer Verlagerung zusätzlicher Waffen in den Oblast Kaliningrad reagierte und mit »Sapad-17« das größte je in Westrussland und Belarus stattgefundene Manöver abhielt.
Fazit
Die Sicherheit in Mittel- und Osteuropa hängt davon ab, eine Lösung für die diversen eingefrorenen Konflikte zu finden. Diese wirken insgesamt destabilisierend, beinträchtigen die Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten und stärken die Position Russlands, welches die einzelnen Konflikte für eigene außenpolitische Ziele instrumentalisiert. Infolgedessen wird die gesamte Region zunehmend militarisiert, was zu einem Wettrüsten führt, Sicherheitsdilemmata erzeugt und sogar die Gefahr befördert, dass Streitkräfte nicht nur ausgebaut werden, sondern auch zum Einsatz kommen.
Bei vier Konflikten im postsowjetischen Raum waren seit den frühen 1990er Jahren externe Akteure (Vereinte Nationen, OSZE und Russland) an den Friedensprozessen beteiligt. Dennoch dauern diese Konflikte aus vielfältigen Gründen an. Einerseits wurde Russland in den Friedensprozessen bzw. den Verhandlungen über Gebietszugehörigkeiten selbst zum Teil des Problems und scheint im Hinblick auf die andauernden Konflikte einem strategischen Paradigma zu folgen, das als »kontrollierte Instabilität« bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite konsolidiert in den Kriegen und Konflikten die jeweilige politische Elite des Mutterstaats ihre Postion und nutzt die Situation, um Reformen zu verschieben und Probleme im Inneren zu ignorieren.
Der Lage in der Ukraine kommt daher große Relevanz zu, da der Krieg einerseits das Land ökonomisch schwächt; in mancherlei Hinsicht wird der Staatenbildungsprozess im Land aber auch gestärkt und die politische Elite der Ukraine dazu gezwungen, interne Reformen anzustoßen, von denen die Gesellschaft langfristig profitieren könnte. Vieles hängt also vom Willen ab, Reformen tatsächlich durchzuführen, und von der Unterstützung der Europäischen Union.
Literatur
Charap, S., (2016): Russia’s Use of Military Force as a Foreign Policy Tool – Is There a Logic? Ponars Eurasia, Policy Memo No. 443, October 2016.
Dyner, A.M. (2016): Russia Beefs Up Military Potential in the Country’s Western Areas. Polish Institute of International Affairs, Bulletin 35-2017; pism.pol.
Kolstø, P. (2006): The Sustainability and Future of Unrecognized Quasi-States. Journal of Peace Research, Vol. 43, Issue 6.
Kosienkowski, M. (2008): Quasi-panstwo w stosunkach miedzynarodowych [Quasi-states in international relations]. Stosunki Miedzynarodowe [International Relations], No. 3-4/2008, S. 38).
Legucka, A. (2013): Geopolityczne uwarunkowania i konsekwencje konfliktów zbrojnych na obszarze poradzieckim [Geopolitical factors and consequences of the military conflicts on the Post-Soviet area]. Warszawa: Difin.
McDerrmott, R.N. (2016): Brothers disunited – Russia’s use of military power in Ukraine. In: Black, J.L.; Johns, M. (eds): The Return of the Cold War – Ukraine, the West and Russia. London, New York: Routledge.
Racz, A. (2016): The frozen conflicts of the EU’s Eastern neighbourhood and their impact on the respect of human rights. Brussels: European Parliament, Directorate-General for External Policies-Policy Department.
Secrieru, S. (2013): Protracted Conflicts in the Eastern Neigbourhood – Between Averting Wars and Building Trust. Istanbul: Kadir Has Üniversitesi, Neighbourhood Policy Paper, No. 6.
Solak, J. (2009): Moldawia Republika na trzy peknieta – Historyczno-spoleczny, militarny i geopolityczny wymiar »zamrozonego konfliktu« o Naddniestrze [Moldova Republic cracked in three parts – The historical-social, military and geopolitical dimension of the »frozen conflict« of Transnistria]. Torun: Europejskie Centrum Edukacyjne.
Dr. habil. Agnieszka Legucka ist am Polish Institute of International Affairs (pism.pl) Expertin für post-sowjetische Sicherheitsfragen und für russische Außenpolitik. Außerdem ist sie Mitglied der Fakultät Business and International Relations der Vistula University in Warschau.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.