Die Legende lebt
Zur Debatte um die Zukunft der Bundeswehr
von Jürgen Groß und Jürgen Rose
Es ist gewiss nicht die schlechteste Tradition in der Bundesrepublik, dass von Zeit zu Zeit über sicherheitspolitische Fragen sehr kontrovers und unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit diskutiert wird. Die Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung in den fünfziger, um die Ostverträge zu Beginn der siebziger sowie den NATO-»Doppelbeschluss« Anfang der achtziger Jahre könnten ebenso als Beispiele herangezogen werden wie die seit Mitte der 90er Jahre allmählich einsetzende Debatte um die Zukunft der Bundeswehr. Der öffentliche Diskurs auch sicherheits- und militärpolitischer Themen ist einer entwickelten Demokratie angemessen und im Übrigen der Sache selbst keineswegs abträglich.
Leider konnte sich zu dieser Erkenntnis ausgerechnet ein ehemaliger Bundesverteidigungsminister nicht durchringen, der – von der Notwendigkeit einer Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf zunächst durchaus überzeugt – vor dem Kartell der Nostalgiker, Lobbyisten und Besitzstandswahrer frühzeitig einknickte, sich in der Öffentlichkeit zu zentralen Fragen vorschnell festlegte, die Empfehlungen einer eigens berufenen Expertenkommission größtenteils ignorierte und fragwürdige Entscheidungen im Eiltempo durchzog. Die Folgen ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Es zeigte sich sehr schnell, dass diese »Jahrhundertreform«, noch ehe sie richtig begonnen hatte, selbst schon wieder reformbedürftig war. Heute nun entdeckt man die damals verworfenen Vorschläge der Weizsäcker-Kommission neu, während die damalige Bundeswehrführung längst nicht mehr im Amt ist. Über die Qualität der Scharping’schen Halbreform ist damit eigentlich schon alles gesagt.
Die öffentliche Debatte, damals aus politisch kurzsichtigen Motiven vorzeitig beendet, bekommt also eine zweite Chance. Sie sollte nicht abermals verspielt werden. Das bedeutet, dass wirklich alle Aspekte dieser Thematik vorurteilsfrei geprüft werden müssen, auch und gerade die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Dies war bisher nicht der Fall. Statt dessen ist die Diskussion bis heute nur zu oft von gebetsmühlenhaft wiederholten »Bekenntnissen« anstelle von konstruktivem Zweifel geprägt. Diese »Bekenntnisse« manifestieren sich in dreifacher Gestalt:
- Erstens, die Bundeswehr brauche mehr Geld;
- zweitens, das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« sei vorbildlich verwirklicht
- und drittens, die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht sei die bessere Alternative.
Alle diese Aussagen wirken auf den ersten Blick recht plausibel. Bei näherer Prüfung jedoch erweisen sie sich sämtlich als unhaltbar: In der Realität hat die Bundeswehr Geld genug, ist der »Staatsbürger in Uniform« kaum mehr als eine Fiktion, wäre eine Freiwilligenarmee der jetzigen Wehrform in jeder Hinsicht überlegen.
Die vermeintlichen Tatsachen erweisen sich also als Legenden. Es wird Zeit, mit ihnen aufzuräumen.
Legende Nummer eins: Die Bundeswehr ist unter-finanziert
Die zählebigste Legende. Dabei verkennen die ewigen Forderungen nach einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Streitkräfte völlig die notwendigen gesamtpolitischen Prioritätensetzungen. Denn Sicherheit ist ja nicht die einzige Aufgabe, die jeder Staat zu erfüllen hat (und militärische Stärke wiederum ist nur ein Instrument neben anderen, die möglicherweise geeignet sind, Sicherheit zu produzieren). Es gibt in der Geschichte des internationalen Systems zahlreiche nicht unbedingt nachahmenswerte Beispiele von Staaten, die ihrem Sicherheitsstreben einen allzu hohen Stellenwert beigemessen haben – mit verheerenden Folgen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist vielleicht das augenfälligste, doch keineswegs das einzige Beispiele aus der Geschichte und auch die Gegenwart kennt etliche dieser zweifelhaften Vorbilder. Natürlich muss den politischen Entscheidungsträgern ein breiter Ermessensspielraum bei der Bestimmung des sicherheitspolitisch Notwendigen konzediert werden, dennoch erscheint die Forderung nach einem vernünftigen Gleichgewicht zwischen sicherheitspolitischen Zielen und den verfügbaren Mitteln nicht unbillig.
Vor diesem Hintergrund ist es doch sehr erstaunlich, dass die gegenwärtigen Einsatzaufträge der Bundeswehr, so problematisch und diffus sie teilweise auch sein mögen, so gut wie gar nicht öffentlich in Frage gestellt werden. Nach den bisherigen Erfahrungen im Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. September erscheint keineswegs ausgemacht, ob dem Terrorismus mit militärischen Mitteln überhaupt substantiell beizukommen ist. Und welchen Beitrag die Patrouillenfahrten einiger Kriegsschiffe an einer eher willkürlich gewählten Weltgegend dazu leisten sollen, ist schon gar nicht nachvollziehbar. Und selbst hinsichtlich der Bundeswehreinsätze, die – schon aus geostrategischer Sicht – eher sinnvoll erscheinen, also auf dem Balkan, darf daran erinnert werden, dass sich Sicherheitspolitik nicht darin erschöpfen kann, in regelmäßigen Abständen das Mandat der dort eingesetzten Bundeswehrsoldaten zu verlängern, während politische Initiativen allenfalls eine nachrangige Rolle spielen. Die gegenwärtige Bundeswehrreform hat das Ziel, die Streitkräfte zu befähigen, zwei sogenannte mittlere Operationen gleichzeitig durchzuführen. Doch bereits heute, noch in der Phase des Umbaus, nimmt die Bundeswehr an nicht weniger als sechs mehr oder weniger personalintensiven Einsätzen teil, bei denen kein Ende abzusehen ist. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass hier etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist.
Das gilt offensichtlich auch hinsichtlich der militärischen Mittel. Idealtypisch leiten sich diese vom Auftrag der Streitkräfte und diese wiederum von dem Ausmaß der militärischen Bedrohung oder Risiken ab. Davon ist längst keine Rede mehr. Stattdessen wird in der Öffentlichkeit primär mit bündnisinternen »Ranglisten« argumentiert, auf denen Deutschland den ihm gemäßen Platz einnehmen müsse. Dass diese Ranglisten (etwa Vergleiche des Anteils der Verteidigungsaufwendungen am Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Staates) nur sehr begrenzt darüber etwas aussagen, welchen Beitrag ein Land zu Stabilität, Sicherheit und Frieden in der Welt leistet, spielt dabei kaum eine Rolle.
Eine andere, kaum plausiblere Variante ist die Bezugnahme auf die militärischen »Fähigkeiten«. Wohlgemerkt, es handelt sich hierbei keineswegs um die Fähigkeiten potentieller Gegner, sondern ausschließlich um die der eigenen Alliierten, mit denen man »kompatibel« sein will. Im Grunde führt die NATO, auf die heute schon 70 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben entfallen, also nur einen absurden Rüstungswettlauf mit sich selbst.
Doch noch aus einem anderen Grund wirkt die ewige Klage, die Bundeswehr sei unterfinanziert, nicht so recht glaubhaft. Denn zu einem beträchtlichen Teil liegen der Finanzmisere auch gravierende bundeswehrinterne Verteilungs- und Optimierungsdefizite zugrunde. Statt den Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission Folge zu leisten, den Personalumfang signifikant zu reduzieren und ungefähr die Hälfte der bestehenden Bundeswehrstandorte aufzulösen, begnügt man sich mit Minimalkorrekturen, die allen betriebswirtschaftlichen Argumenten Hohn sprechen. Militär scheint nicht mehr primär als sicherheitspolitisches, sondern eher als regional- und strukturpolitisches Instrument betrachtet zu werden. Außerdem verfügen nach wie vor die deutschen Streitkräfte über Verbände, deren Existenz sich nur aus dem mittlerweile obsoleten Auftrag der Landesverteidigung ableitet und knappe und wertvolle Ressourcen unnötig bindet. Und noch ein Umstand springt bei der Betrachtung der neuen Bundeswehrstruktur förmlich ins Auge: Der Personalumfang und die Anzahl der Verbände nehmen ab, die Anzahl der Hierarchieebenen aber bleibt. Die Leitungsspannen, d.h. die Zahl der direkt unterstellten Truppenteile bzw. Dienststellen, nehmen – vor allem auf den oberen Ebenen – zum Teil deutlich ab. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Strukturen der Streitkräfte leiten sich weniger aus ihrem Auftrag ab, als aus dem Bestreben möglichst viele gut dotierte Dienstposten zu erhalten.
Diese hohlen Strukturen kontrastieren auf merkwürdige Weise mit einer Überfrachtung des soldatischen Alltags mit aus militärfunktionaler Sicht völlig sinnlosen Tätigkeiten. Allein die Ausbildung von jährlich rund hunderttausend Grundwehrdienstleistenden, die schon sechs bzw. neun Monate später die Bundeswehr wieder verlassen, stellt eine gewaltige Verschwendung von personellen und materiellen Ressourcen dar. (Dass das Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt das Grundübel der aktuellen Misere in den deutschen Streitkräften ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben; auf dieses Thema wird unten noch ausführlich eingegangen.) Doch damit nicht genug: Wie zu Zeiten des Alten Fritz vergeuden Rekruten und Ausbilder viele Stunden und Tage, um das »korrekte« Gehen, Stehen und Grüßen zu erlernen bzw. zu vermitteln. Und wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten werden in der Truppe »Bälle« und ähnliche Veranstaltungen organisiert, zu deren Vorbereitung und Durchführung Teileinheiten, ja ganze Einheiten tage- und wochenlang lahmgelegt sind. Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. Wer hier keinen Willen zu überfälligen Veränderungen, fast möchte man sagen: »Entrümpelungen« zeigt, hat jegliches Recht zur Klage über die angeblich unzureichenden Mittel verloren.
Im Übrigen kann es einer Armee, die beispielsweise immer noch etliche Musikkorps unterhält oder es sich leistet, Tausende von Soldaten als Kellner (sog. Ordonnanzen) einzusetzen, um ihre Offiziere und Unteroffiziere zu bedienen, so schlecht auch wieder nicht gehen.
Dies alles stützt den Befund: Die Bundeswehr hat nicht etwa zu wenig Geld, sie gibt es nur falsch aus.
Legende Nummer zwei: Der Soldat ist »Staatsbürger in Uniform«
Die verblüffendste Legende. Denn nirgendwo sonst klaffen Selbstwahrnehmung des Militärs und Realität so weit auseinander. Obwohl es in der Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung eklatante Defizite gibt, wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit von Seiten der Bundeswehr – subjektiv ganz ehrlich – dieselbe Innere Führung als »Gütesiegel« und »anerkanntes Markenzeichen«, nicht selten sogar als »Modell« für andere Armeen bezeichnet. Dabei handelt es sich bei den erwähnten Defiziten keineswegs um wohl nie ganz vermeidbare, aus menschlichen Unzulänglichkeiten resultierenden Umsetzungsprobleme und auch nicht um potentielle Gefahren, der die Konzeption durch verschiedene aktuelle Trends, wie etwa dem Ausbau und der Vertiefung multinationaler militärischer Strukturen, erwachsen könnten. Die Defizite sind vielmehr akut und substantiell und liegen bei unvoreingenommener Betrachtungsweise auch offen zutage; die Veröffentlichungen darüber jedenfalls sind Legion.
Woher rührt dann dieser Realitätsverlust? Weil das Verständnis von »Innerer Führung« innerhalb der Bundeswehr durchaus beliebig und auch völliges Unverständnis nicht selten anzutreffen ist. Das mag unglaublich erscheinen, aber es ist eine Tatsache. In den Streitkräften wird Innere Führung allenfalls als zwischenmenschliches Führungs- und Motivationskonzept – als Sozialtechnik also – gesehen, während sie nach ihrer Grundintention weit mehr ist, nichts Geringeres nämlich als die Verwirklichung staatlicher und gesellschaftlicher Normen im Militär.
Defizite der Inneren Führung sind also mitnichten nachrangig oder gar marginal. Sie sind auch nicht mit militärfunktionalen Argumenten aufzuwiegen. Effektivitätsdefizite einer Armee mögen ein sicherheitspolitisches Handicap darstellen, Demokratie- und Menschenrechtsdefizite in den Streitkräften sind dagegen unerträglich.
Es ist auch unzulässig, vielleicht doch erkannte Defizite in der Bundeswehr mit dem Verweis auf eventuell noch größere Missstände in anderen Streitkräften zu relativieren und zu bagatellisieren. Der einzig legitime Orientierungspunkt für das deutsche Militär sind und bleiben die Standards einer entwickelten Demokratie.
Bei Anlegung dieser Messlatte gibt es in der Bundeswehr, gelinde gesagt, ein erhebliches Entwicklungspotential. Der militärische Alltag kennt zahlreiche Beispiele, die dem rhetorisch hochgehaltenen Leitbild kaum entsprechen, ja vielfältig sogar konterkarieren. Notwendig wäre ein der Zeit angemessenes Soldatenbild, in dem etwa den Kategorien »Motivation«, »Anreize« und »Eigenverantwortung« eine weit größere Bedeutung zukäme. Stattdessen setzt die Bundeswehr nach wie vor auf zwangsrekrutiertes, kaserniertes, mit zahlreichen antiquierten Normen traktiertes und bevormundetes Personal. Und ist es wirklich notwendig und angemessen, dass das militärische Prinzip von Befehl und Gehorsam – im Einsatz unabdingbar – bis in den letzten Winkel der Streitkräfte und auf alle Routinetätigkeiten des militärischen Alltags, wo es keineswegs um Leben und Tod geht, unreflektiert ausgedehnt wird? Und wirken – um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen – vordemokratische Veranstaltungen wie »Feierliche Gelöbnisse« nicht in besonderem Maße anachronistisch, für den unvoreingenommenen Betrachter befremdlich und für die Betroffenen vielleicht ein wenig unwürdig, indem nämlich Soldaten gezwungen werden, sich einheitsweise, mechanisch und in starrer Körperhaltung, gleichsam marionettenhaft zum Einsatz ihres Lebens zu verpflichten, wo doch – dem tiefen Ernst der Situation entsprechend – Nachdenklichkeit und Selbstprüfung weit angebrachter wären? Dem Betrachter stellt sich, diese Beispiele vor Augen, denn doch die Frage, was das für eine »Bundeswehr der Zukunft« werden soll, wenn diese in so grundlegenden Dingen noch nicht einmal in der Gegenwart angekommen scheint. Den Reformbedarf auf diesem Gebiet nicht erkannt oder als weniger wichtig eingestuft und beträchtliche Gestaltungsmöglichkeiten ungenutzt gelassen zu haben, zählt wohl zu den unbegreiflichsten Versäumnissen, die der politischen und militärischen Führung in den letzten Jahren angelastet werden mussten.
Legende Nummer drei: Die Wehrpflicht ist unver-zichtbar
Die verhängnisvollste Legende. Bis heute beharrt die politische und militärische Führung in Deutschland auf der Beibehaltung einer antiquierten Wehrform, die die Bundeswehr als Hemmschuh bei allen Reformbemühungen mit sich herumtragen muss und sich immer offensichtlicher als Grundübel der akuten Misere der deutschen Streitkräften herausstellt. Warum tut sie das? Sicherheitspolitische, bündnispolitische, militärfunktionale und ökonomische Gründe scheiden aus. Aus sämtlichen der erwähnten Perspektiven spricht längst alles für den unverzüglichen Übergang von einer Wehrpflichtarmee zu Freiwilligenstreitkräften. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Rede ist hier von »echten« Wehrpflichtigen, die derzeit neun Monate Grundwehrdienst leisten und für die Verwendung von Auslandseinsätzen nach übereinstimmendem Urteil nicht geeignet sind. Die häufig zu vernehmenden – nur scheinbar das Gegenteil beweisenden – Lobeshymnen beziehen sich in der Regel auf die auch im Ausland dienenden sogenannten freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst Leistenden [FWDL], die de facto nichts anderes als Kurz-Zeitsoldaten sind. Hier wird also – bewusst oder unbewusst – vielfach Etikettenschwindel betrieben.) Was den ökonomischen Aspekt anbetrifft: Selbstverständlich sind die budgetären Kosten für einen einzelnen Grundwehrdienstleistenden niedriger als die für einen Zeitsoldaten; wenn man jedoch alle volkswirtschaftlichen Kosten miteinbezieht, reduziert sich diese Differenz beträchtlich; im Übrigen interessieren in diesem Zusammenhang nur die insgesamt in den Streitkräften anfallenden Personalkosten – kein seriöses Modell für Freiwilligenstreitkräfte geht von einem Personalumfang von 285.000 Soldatinnen und Soldaten aus.
In der gegenwärtigen Debatte müssen vor allem zwei »Begründungen« immer wieder dafür herhalten, warum die Wehrpflicht angeblich noch notwendig sei. Da ist zum einen das Argument, die Bundeswehr gewinne derzeit rund die Hälfte ihres Nachwuchses an Offizieren und Unteroffizieren aus den Reihen ihrer Wehrpflichtigen. Doch ist das nicht allzu simpel gedacht? Ist die Nachwuchslage einer Armee nicht das Resultat einer Summevon Faktoren, die alle mit der Einschätzung der Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr zu tun haben (auch im Vergleich zur zivilen Konkurrenz) – also eine Gleichung mit vielen Unbekannten, in die auch potentielle negative Werbeeffekte wie die mit hoher Glaubwürdigkeit ihrem sozialen Umfeld übermittelten Erlebnisberichte frustrierter Grundwehrdienstleistender mit einzubeziehen wären? Und dass es mit der Attraktivität der deutschen Streitkräfte gegenwärtig nicht zum Besten bestellt ist, zeigt sich schon daran, dass etwa die Weiterverpflichtungsneigung nach den Erfahrungen bei Auslandseinsätzen drastisch sinkt. Dass andererseits das Potential vorhanden wäre, zeigt sich an folgender Entwicklung: Seit Ende des Jahres 2001 explodiert geradezu die Zahl der jungen Männer und Frauen, die sich für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr bewerben. Das hat zum einen mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt, weitaus mehr aber damit zu tun, dass die Bundeswehr endlich auch für die Soldatinnen und Soldaten auf der Ebene der Mannschaften und Unteroffiziere äußerst attraktive Angebote zivil verwertbarer Aus- und Weiterbildung macht. Das Hauptproblem der Bundeswehr besteht gar nicht mehr darin, dass sie nicht genügend Nachwuchs benötigter Qualität anlockt, sondern dass die Kapazitäten der Nachwuchsgewinnungsorganisation hoffnungslos damit überfordert sind, »wehrwilliges« Personal zeit- und bedarfsgerecht in die Streitkräfte einzusteuern. Mit anderen Worten: Es gibt etliche Stellen, an denen man ansetzen kann (ja sogar muss), um die Nachwuchslage zu verbessern – das starre Beharren auf eine antiquierte Wehrform allein genügt sicher nicht. Doch selbst wenn es genügen würde: Es ist völlig unverhältnismäßig, Jahr für Jahr über 100.000 Mann einzuziehen, nur um einige tausend Freiwillige zu bekommen.
Das zweite Argument der Wehrpflichtbefürworter liegt auf der gesellschaftspolitischen Ebene. Doch ist es – bei näherem Hinsehen – ebenso unhaltbar. Denn zu einer Überschätzung der gesellschaftspolitischen Integrationsleistung der Wehrpflichtigen besteht absolut kein Anlass: Die allgemeine Wehrpflicht ist in der Bundesrepublik seit vielen Jahren kaum mehr als eine Fiktion. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die überwiegenden Einstellungen der jüngeren Freiwilligen mit kurzer Verpflichtungszeit von den Einstellungen der derzeitigen Wehrpflichtigen wohl gar nicht so weit voneinander entfernt liegen. Eine drastische Reduzierung des Berufssoldatenanteils sowie eine auf ein vertretbares Mindestmaß begrenzte Dienstzeit der übrigen Freiwilligen sind daher auch die Kennzeichen seriöser alternativer Strukturmodelle, wie etwa des von der Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) entwickelten Bundeswehrmodells 200F.
Doch selbst wenn man einer Wehrpflichtarmee unerreichbare Integrationsleistungen konzedieren wollte – was wie gesagt nicht der Fall ist –, so sind in dieser Hinsicht neben der Wehrform zahlreiche weitere Variablen relevant, die die unterstellten Defizite einer Freiwilligenstreitkraft gegebenenfalls mehr als kompensieren könnten. Es gibt vermutlich weit effizientere Wege, Streitkräfte in der Demokratie zu verankern und der Kontrolle durch eine pluralistische Gesellschaft zu unterwerfen, als das Beharren auf einer antiquierten Wehrform.
Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und zu dem Schluss kommen, dass etwaige Pluspunkte der allgemeinen Wehrpflicht aus der gesellschaftspolitischen Perspektive nicht nur überschätzt werden, sondern dass die Nachteile dieser Wehrform alle Vorteile in der Summe überwiegen. Denn in ein der Zeit angemessenes Soldatenbild, in dem – wie oben in anderem Zusammenhang bereits erwähnt – etwa den Kategorien »Motivation«, »Anreize« und »Eigenverantwortung« eine weit größere Bedeutung als bisher zukommt und damit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« sehr viel näher kommt, fügt sich die bisher praktizierte Zwangsrekrutierung schwerlich ein. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die Wehrpflicht also als Modernisierungshindernis.
Wenn also auch diese am häufigsten verwendeten Argumente der Wehrpflichtnostalgiker einer näheren Prüfung nicht standhalten, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Wehrform wirklich ausgedient hat.
Perspektiven
In der Summe ist dies kein erfreulicher Befund. Und nicht jeder wird ihn teilen wollen. Doch wer sich weigert, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sich stattdessen lieber an Mythen und Legenden klammert, erweist den Streitkräften keinen guten Dienst. Tabuisierung und Schönfärberei sind so ziemlich das Letzte, was die Bundeswehr zur Zeit gebrauchen kann.
Die Debatte muss weiter gehen – kontrovers, sachlich, ohne Legenden. Kritik und Widerspruch sind die belebenden, konstruktiven Elemente. Diese Erkenntnis könnte zu einem nicht geringeren Teil als der chronische finanzielle Druck als neuer Anstoß dienen, endlich wirkliche Reformen zu wagen.
Einige Ansätze sind ja bereits erkennbar: Etwa die Vereinbarung der Regierungskoalition, die Wehrpflicht im Laufe der Legislaturperiode erneut auf den Prüfstand zu stellen. Oder das Diktum des Verteidigungsministers, die Bundeswehr werde die Mittel bekommen, die sie brauche, um ihren Auftrag zu erfüllen – jedoch: „Wenn wir das Geld nicht haben, werde ich den Auftrag ändern.“ Auch die angekündigte Reduzierung überzogener Rüstungsprojekte könnte man in diesem Zusammenhang anführen. Bleibt die Legende vom »Staatsbürger in Uniform«: Man möchte an die politische Führung appellieren, die relativ weiten Gestaltungsspielräume in diesem Bereich mutiger als bisher zu nutzen, ansonsten steht zu befürchten, dass das vielzitierte Leitbild ein weiteres halbes Jahrhundert wieder nur als Legende lebt.
Oberstleutnant i. G. Dr. Jürgen Groß und Oberstleutnant Jürgen Rose sind Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).