W&F 2009/1

Die NATO im Kosovo

von Hannes Hofbauer

Zehn Jahre nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien und dem Beginn der Besetzung der serbischen Provinz Kosovo ist der Konflikt noch keineswegs gelöst. Nach der Proklamierung der Unabhängigkeit des Territoriums von Serbien - als Republik Kosovo - am 17. Februar 2008 durch das kosovarische Parlament haben bisher 53 der 192 UN-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit anerkannt, darunter die USA sowie 20 EU-Nationen und alle Staaten des ehemaligen Jugoslawiens außer Serbien. Die EU richtet sich auf eine dauerhafte Kontrolle ihres Kolonialgebietes ein.

In der Nacht auf den 24. März 1999 gibt US-Präsident William Clinton den Befehl, Jugoslawien militärisch anzugreifen. Die NATO startet ihren ersten großen Out-of-Area-Einsatz1 in ihrer 50jährigen Geschichte. Zuvor waren die Bemühungen der US-Administration um ein UN-Mandat für den Krieg gescheitert. Das US-amerikanische Heimpublikum und mit ihm die ganze Welt erhält als unmittelbare Rechtfertigung für die Notwendigkeit des Bombenangriffs, der 78 Tage und Nächte andauern sollte, ein perfides, die Geschichte völlig verdrehendes Argument. „Die Serben“, so der US-amerikanische Präsident, hätten nicht nur den ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, sondern es hätte „dort auch den Holocaust“ gegeben. Mit dieser offensichtlich bewusst unklaren Formulierung machte der oberste Kriegsherr aus historischen Opfern Täter. In der Folge beteten vom deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping abwärts die NATO-Alliierten die Mär vom notwendigen antifaschistischen Kampf gegen Belgrad nach und erfanden dabei immer abstrusere Parallelen zwischen dem Jugoslawien des Jahres 1999 und dem Deutschen Reich der frühen 1940er Jahre.

Das Ziel des NATO-Angriffs auf den Rest Jugoslawiens, das zu jenem Zeitpunkt nur noch aus Serbien mit seinen beiden Provinzen Kosovo und Vojvodina sowie Montenegro bestand, war einerseits die Entmachtung von Slobodan Milosevic und andererseits die Durchsetzung militärischer Bewegungsfreiheit für die nordatlantische Allianz in der Region. Auch nach 35.000 Kampfeinsätzen aus der Luft, in deren Verlauf 15.000 Tonnen Explosivstoffe zwischen Novi Sad, Pristina und Podgortica abgeworfen wurden, konnte es nicht bzw. nur sehr teilweise erreicht werden. Milosevic blieb – bis zum Oktober 2000 – an der Macht und Jugoslawien war zwar großteils zerstört, ein Einmarsch der NATO nach Kernserbien wurde jedoch abgewendet.

Im Waffenstillstandsübereinkommen von Kumanovo, einem makedonisch-kosovarischen Grenzort, einigten sich serbische und US-amerikanische Generäle am 9. Juni 1999 auf den Rückzug der serbischen Einheiten aus dem Kosovo und die darauf folgende Übernahme der militärischen Autorität durch die NATO. Dies wurde tags darauf durch die UN-Resolution 1244 bestätigt, die eine zivile „interimistische“ Mission für den Kosovo (UNMIK) sowie eine militärische Begleitung (KFOR) derselben ins Werk setzte. Clinton formulierte überschwänglich, wenn auch der Wahrheit nicht entsprechend, schon ganz im Stil seines Nachfolgers George Bush jun.: „Ich kann dem amerikanischen Volk mitteilen, dass wir einen Sieg für eine sicherere Welt, für unsere demokratischen Werte und für ein stärkeres Amerika errungen haben.“

KFOR zieht ein

Die UN-Resolution 1244 war im UN-Sicherheitsrat einstimmig beschlossen worden. Sie beauftragte eine multinationale Militärformation unter Führung der NATO mit der Herstellung von Sicherheit im Kosovo. Dies ist bis heute die »Kosovo-Force« (KFOR), die aktuell neben 24 NATO-Mitgliedern von elf Nicht-NATO-Staaten mit Soldaten beschickt wird. Neben der unmittelbaren Einsetzung einer Militärkraft sowie einer „interimistischen Verwaltung“ (UNMIK) sprach sich die Resolution, die am 21. März 2001 unter der Ziffer 1345 wiederholt wurde, „für die Souveränität und die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien (aus), wie in der Helsinki-Schlussakte ausgeführt“.2 Noch bevor das Gros des NATO-Trosses mit seinen 50.000 Soldaten von Makedonien aus in Richtung der kosovarischen Hauptstadt Pristina/Prishtine aufbrach, besetzten allerdings am 11. Juni 1999 500 russische Fallschirmjäger den Flughafen von Pristina. Aus Bosniens SFOR-Truppe kommend, hatten sie an ihren Panzerfahrzeugen nur das »S« durch ein »K« – für Kosovo Force – übermalt und auf diese Weise Präsenz gezeigt. Für Russlands damaligen Präsidenten Boris Jelzin kam die Aktion ebenso überraschend wie für die atlantische Allianz. Der Oberbefehlshaber der NATO-Truppen (SACEUR) für Jugoslawien, General Wesley Clark, stand wohl unter Schock, als er am 11. Juni 1999 dem für den Kosovo-Einsatz zuständigen britischen Kommandierenden Michael Jackson den Befehl gab, den russischen Vorstoß auf Pristina mit militärischen Mitteln zu stoppen. „Für Sie, General Clark“, so antwortete Jackson besonnen, „riskiere ich nicht den 3. Weltkrieg.“3 Russlands Fallschirmjäger wurden tags darauf von Jelzin zurückgepfiffen. Dem Einmarsch der NATO in den Kosovo stand am 12. Juni 1999 nichts mehr im Wege.

Die Vorgeschichte

Während des ersten Höhepunkts der jugoslawischen Desintegration im Juni 1991, als Slowenien und Kroatien mit – der dann auch erfolgten – Sezession drohten, waren aus Washington noch zahme, auf Kontinuität pochende Stimmen zu vernehmen. Vier Tage vor der in Zagreb und Ljubljana zeitgleich ausgerufenen Unabhängigkeit trat US-Außenminister James Baker am 21. Juni 1991 im Belgrader Palast der Föderation vor die Kameras und vermerkte trocken: „Wenn sich Slowenien in einigen Tagen unabhängig erklärt, werden wir diese Erklärung nicht anerkennen.“4 Hinter den Kulissen hatte das nicht einmal ein Jahr zuvor vergrößerte Deutschland mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Fäden im jugoslawischen Zerfallsprozess übernommen, indem es auf die sezessionistische Karte setzte. Erst im März 1994 sollte es den USA gelingen, die politischen und militärischen Zügel auf dem Balkan wieder in die Hand zu bekommen. Die unter ihren Fittichen geschmiedete moslemisch-kroatische Koalition entpuppte sich als westliche Trumpfkarte bei den späteren Verhandlungen in Dayton. Kosovo-albanische Rufe nach Unterstützung ihres Kampfes gegen die Belgrader Zentrale stießen Mitte der 1990er Jahre im Westen noch auf taube Ohren. Erst die nach dem Zusammenbruch Albaniens im Frühjahr 1997 erfolgte Bewaffnung der UCK mit schwerem Kriegsgerät brachte diesbezüglich eine Wende. Nachdem sich die Mehrheit der Albaner durch das Platzen eines riesigen Pyramidenspiels um ihre kleinen Vermögen betrogen sahen, stürmten sie zu Tausende die Kasernen und entwendeten jene NVA-Waffen, die Helmut Kohl zuvor an Tirana verkauft hatte. Militärischer Nutznießer war die kosovarische Befreiungsbewegung, in Belgrad und teilweise auch in den USA bis dahin als Terrorgruppe identifiziert. Für sie war es ein leichtes, das in den albanischen Kasernen geplünderte Kriegsgerät bei Decani über die Grenze in den Kosovo zu bringen. In Washington erkannte man die Gunst der Stunde und unterstützte nun nicht mehr ausschließlich den zivilen kosovarischen Widerstand des Ibrahim Rugova, sondern setzte auf die militärische Karte.

Am 12. Oktober 1998 erließ die NATO, ohne dafür einen Rückhalt in der UNO zu haben, eine so genannte »activation order« gegen Belgrad. Sie beinhaltete eine Selbstmandatierung der Organisation zu einem militärischen Schlag gegen Jugoslawien im Falle der Nichtbeachtung US-amerikanischer Forderungen nach einem Rückzug der serbischen Armee und Sonderpolizei aus dem Kosovo. Serbische Repression im Kosovo sollte ab sofort mit Gewalt von außen beantwortet werden. Damit entstand zumindest ein taktisches Bündnis zwischen der UCK und der NATO. Ein halbes Jahr später, am 24. März 1999, sahen sich die Kämpfer der UCK als Bodentruppe der weltgrößten Militärmacht.

Passend für ein Militärbündnis wurde die 50-Jahr-Feier der Nordatlantiktruppen mitten im Krieg gegen Jugoslawien gefeiert. Dazu fand zwischen dem 22. und 25. April ein Gipfeltreffen der 19er-Allianz statt, auf dem jene expansive Strategie zur offiziellen Doktrin wurde, die de facto bereits mit Kriegsbeginn stattgefunden hatte. Ab sofort ermächtigte sich das Bündnis zu militärischen Operationen außerhalb des NATO-Gebietes, wobei dafür explizit kein Mandat der UNO benötigt wurde.

Die drei neuen NATO-Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn, die am 12. März 1999 der Allianz beigetreten waren, befanden sich keine zwei Wochen später bereits im nicht erklärten Kriegszustand mit Jugoslawien. Für Ungarn bedeutete dies sogar Krieg gegen ein unmittelbares Nachbarland. Dieser wurde von der Militärbasis Taszar bei Kaposvar aus geführt, die in unmittelbarer Nähe zur serbischen Provinz Vojvodina liegt.

Drehscheibe zwischen Westeuropa und Nahem Osten

Nach dem von Boris Jelzin betriebenen Rückzug russischer Truppen aus Pristina verblieb vorerst noch ein schwaches russisches Kontingent innerhalb der Kosovo-Force (KFOR).5 Die UN-Resolution 1244 diente Moskau und anderen Nicht-NATO-Mitgliedern als Legitimation für eine Beteiligung an der militärischen Mission, die seit dem 12. Juni 1999 formell unter UN-Dach stattfand, de facto jedoch eine US-geführte NATO-Truppe bildete. In fünf Besatzungszonen stehen seither Militärs aus 35 Staaten unter US-amerikanischem, deutschem, französischem, italienischem oder tschechisch-skandinavischem Kommando. Waren es anfangs 50.000 Mann, die in das kleine Land mit seinen gerade einmal 1,9 Millionen EinwohnerInnen einrückten, so sind es im Herbst 2008 16.500 fremde Soldaten, die sich zwischen Prizren, Decani und Prishtine breit machen. Russland hat im übrigen seine Militärs im Jahr 2003 aus der KFOR zurückgezogen.

Über die Kosten des KFOR-Einsatzes herrscht einträchtiges Schweigen. In einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität am 12. November 2002 entschlüpfte dem Hohen UNMIK-Repräsentanten, dem Deutschen Michael Steiner, einmal die finanzielle Dimension des militärischen Unternehmens. Damals bezifferte er den zivilen UNMIK-Einsatz für 1999 mit 1,5 Mrd. Euro und meinte auf Nachfrage, dass die Geldmittel für die KFOR-Truppen „noch wesentlich höher“6 seien.

Das Herzstück der NATO im Kosovo liegt 30 Kilometer südlich von Prishtine nahe der Ortschaft Urosevac/Ferizaj. Camp Bondsteel erstreckt sich über 3,6 Quadratkilometer und ist damit das größte US-Camp in Europa. Karen Talbot bezeichnet es als die „größte US-Militärbasis, die seit Vietnam errichtet worden ist“.7 Gebaut wie eine US-amerikanische Kleinstadt beherbergt Camp Bondsteel, sinniger Weise nach einem in Vietnam gefallenen US-amerikanischen Offizier benannt, neben den militärischen Bereichen zwei Kirchen, Supermärkte, Schulen, einen Freizeitpark sowie Wohnbaracken für 6000 Soldaten. Der Aufbau der »Soldier City« war für die beteiligten Firmen eine Goldgrube. Allein Halliburton Energy, ein Unternehmen, an dem der damalige US-Vizepräsident Dick Cheney beteiligt war, verrechnete dem Pentagon hohe Summen dafür, dass sie im Kosovo ein riesiges Fort aus dem Boden stampfen durfte.

Camp Bondsteel steht auf unklarer rechtlicher Grundlage. Die britische Zeitung »The Independent« berichtete im April 2001 von einem Pachtvertrag für das Militärlager, den die US-Behörden mit Zustimmung der UNO und der jugoslawischen Regierung abschließen wollten.8 Die Pacht für die Militärbasis sollte 75 Jahre lang bestehen. Kosovarische Oppositionelle wie Albin Kurti9 hingegen behaupten, dass für Camp Bondsteel kein müder Cent bezahlt wird, auch nicht an Belgrad. Offizielle politische Stellen in Prishtine hüllen sich in Schweigen.

De facto, wenn nicht sogar de jure, ist Camp Bondsteel exterritoriales Gebiet. Dies wurde besonders im Anti-Terror-Kampf des George Bush jun. deutlich, der seit der US-Invasion in Afghanistan im Oktober 2001 weltweit geführt wird. Camp Bondsteel dient dabei als Zwischenstation für von Washington als Terroristen identifizierte Gefangene. In geheimen Gefängnissen werden sie – nach dem Muster von Guantanamo – gefoltert und gedemütigt. Einem Journalisten von »Le Monde« ist es 2005 gelungen, einen Besucher des hässlichen Bruders von Guantanamo in Camp Bondsteel ausfindig zu machen und vor das Mikrophon zu bitten.10 „Ich habe 15 bis 20 Gefangene in kleinen Holzbaracken gesehen, angezogen in orangefarbenen Monturen exakt wie jene Menschen, deren Bilder wir aus Guantanamo kennen“, meinte Alvaro Gil Robles von der Menschenrechtsgruppe »Human Rights Watch« gegenüber »Le Monde«. „Eine amerikanische Soldatin, die im Gefängnis Dienst machte, hat mir erklärt, dass sie gerade aus Guantanamo kommt, wo sie bis dahin ihren Dienst versehen hat.“

Camp Bondsteel ist für den langen strategischen Atem gebaut. Washington plant den Aufenthalt seiner Truppen in Südosteuropa für mehrere Generationen. Von hier aus sind sowohl der Südosten Serbiens als auch Albanien und Makedonien in weniger als einer Autostunde erreichbar, eine geographisch perfekt gelegene Basis für den gesamten Raum. Darüber hinaus dient die Basis als geopolitisch perfekt gelegene Station zwischen den NATO-Basen in Italien und Deutschland einerseits und möglichen weiteren bzw. bereits existierenden Einsatzgebieten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afghanistan.

Strategisch ist mit der Entscheidung, auf Jahrzehnte hinaus in Kosova militärische Präsenz zu zeigen, der vorläufige Schlusspunkt unter eine von langer Hand vorbereitete Korrektur der Anfang 1945 in Jalta besprochenen Einflusssphären in Europa gefallen. Damals hatten US-Präsident Eisenhower, der britische Premier Churchill und der sowjetische Führer Stalin eine Aufteilung des Kontinents beschlossen, wie sie dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges – ihrer Meinung nach – entsprochen hatte. Der für Russland und Südosteuropa zuständige US-Diplomat, Stobe Talbott, sowie hochrangige Vertreter des State Department haben die in ihren Augen notwendige Revision der europäischen Geschichte mehrmals thematisiert; zuletzt auf einer Konferenz im slowakischen Bratislava Ende April 2000. Dort war – freilich im engsten Kreise – offen davon die Rede, mit dem Einmarsch der NATO in den Kosovo endlich eine „Korrektur eines Eisenhower-Fehlers“ bewerkstelligt zu haben. Die Stationierung von US-Truppen auf dem Balkan, hieß es, hätte historisch „nachgeholt“ werden müssen. Einer der Teilnehmer an diesem Treffen in Bratislava, der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer, machte die Gedanken der US-Think-Tanks öffentlich: „Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist geführt worden, um eine strategische Fehlentscheidung von General Dwight Eisenhower zu revidieren“, meinte der konservative Kriegsgegner im Februar 2007.11

Trepca

Die westliche Militärmission in Kosovo folgt freilich auch wirtschaftlichem Kalkül. Wertvolle Metalle wie Gold, Silber, Zink und Blei sowie Braunkohle werden teilweise seit Jahrtausenden aus der Erde geholt. Noch in den 1980er Jahren bildeten die Trepca-Minen, zwischen dem serbischen und albanischen Siedlungsgebiet im Norden gelegen, das Kernstück der kosovarischen Ökonomie.

Am Morgen des 15. August 2000 stürmten 3000 KFOR-Soldaten in französischen, britischen, italienischen und pakistanischen Uniformen, unterstützt von Kampfhubschraubern, die Anlagen des größten kosovarischen Industriekomplexes. Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, Novak Bjelic, wurde von NATO-Truppen verhaftet und per UNMIK-Dekret ins serbische Kernland abgeschoben. Die rund um Kosovska Mitrovica gelegene Bergbaumine war damit militärisch geschlossen worden.

Begründet wurde die massive Gewaltanwendung der KFOR offiziell mit der Überschreitung von ökologischen Grenzwerten, die beim Abbau von Blei und anderen Rohstoffen in die Atmosphäre getreten sind. Niemals zuvor in der europäischen Geschichte war indes ein Fall bekannt geworden, wo Luft- und Bodentruppen zur Einhaltung des ökologischen Gleichgewichts in den Kampf gezogen wären. Auch im Kosovo darf getrost davon ausgegangen werden, dass das ökologische Argument nur vorgeschoben wurde. In Wahrheit ging es um die einzige wertvolle Ressource des Landes; zu deren Erschließung war noch unter Slobodan Milosevic das Kombinat in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden. Auch ein ausländischer Investor, der griechische Konzern Mytilinos, war bald als Minderheitsaktionär gefunden, er hatte 50 Millionen US-Dollar in das Werk investiert.12 Der Staat blieb Mehrheitseigentümer. Dies war den internationalen Verwaltern der UNMIK unter Führung des früheren »Médecins sans frontières«-Mannes Bernard Kouchner ein Dorn im Auge. Und deshalb schickte der UNMIK-Chef die KFOR-Soldaten, um sich wirtschaftlich zu holen, was die NATO im Krieg gegen Jugoslawien gewonnen zu haben glaubte.

„Das Problem von Trepca ist, dass es einerseits eine große Anzahl von Kreditgebern gibt und andererseits ökologische Probleme. Aber die Mine hat wirtschaftliches Potential“13, fasste der oberste Ökonom des Kosovo, der Brite Paul Acda, die Lage von Trepca Ende Dezember 2006 zusammen. Produziert wird fast nichts. Ein eigens installierter Gerichtshof soll die zukünftigen Eigentumsverhältnisse der Mine klären. Der Vorgang verläuft vollständig intransparent. Den gesamten Wert der kosovarischen Bodenschätze – inklusive Braunkohlelager – bezifferte die Weltbank im Jahr 2005 mit 13,5 Mrd. Euro; die Vorkommen von Blei, Zink, Nickel, Kupfer und Bauxit in Trepca werden mit 5 Mrd. Euro veranschlagt.14 Schätzungen gehen davon aus, dass es für die profitable Inbetriebnahme der Trepca-Minen 150 bis 200 Mio. Euro an Investitionen bedürfte. Woher soviel Kapital in unsicheren Zeiten kommen soll, weiß auch zehn Jahre nach dem NATO-Krieg niemand zu sagen.

Kämpfen oder wegsehen

Die Trepca-Minen waren der KFOR einen Einsatz wert. Auch an anderer Stelle, am Schnittpunkt zwischen albanischem und serbischem Siedlungsgebiet in der geteilten Stadt Kosovska Mitrovica, warfen sich zu Beginn der Besatzungszeit Soldaten der Westallianz ins Zeug. Die Rede ist von einem Einsatz französischer Soldaten im Februar 2000, der mutmaßlich der serbischen Minderheit zumindest nördlich des Flusses Ibar das Überleben gesichert hat. Hier war es am 13. Februar 2000 zu einem Zwischenfall gekommen, als Heckenschützen eine französische Patrouille beschossen und dabei zwei KFOR-Soldaten schwer verwundeten. Das Feuer war aus einem serbischen Wohnblock gekommen, was für US-amerikanische oder deutsche Soldaten möglicherweise Beweis genug für eine serbische Täterschaft gewesen wäre. Ein direkter Angriff auf Mitglieder der serbischen Gemeinde durch die KFOR hätte der Auftakt zu einer allgemeinen Vertreibung sein können. Diesmal war es anders. An diesem 13. Februar erwiderten französische Scharfschützen unmittelbar das Feuer und töteten einen der Provokateure, den UCK-Mann Avni Hardinaj. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass sich ein UCK-Trupp in das serbische Wohnhaus geschlichen und dort die BewohnerInnen vertrieben hatte, um einen serbischen Überfall auf die KFOR fingieren zu können. Die Aktion verfehlte ihr Ziel.

Weggesehen haben vor allem deutsche Soldaten, als im März 2004 pogromartige Ausschreitungen gegen serbische Siedlungsenklaven und Klöster eine Vertreibungswelle in Gang setzte, bei der 19 Menschen ums Leben kamen und mehrere Dörfer zerstört wurden. Dem Aufstand des Mobs gingen wohl koordinierte Massenkundgebungen voraus, die sich gegen die UNMIK wandten. Weil dieser nicht beizukommen war, entlud sich die Wut der Albaner gegen die ethnischen Minderheiten; schlimmer: es gibt massive Anhaltspunkte dafür, dass der ethnische Hass bewusst geschürt worden ist.

Am 16. Februar 2004 verhaftete die UNMIK-Polizei mehrere Offiziere des Kosovo-Schutzkorps, darunter den ranghöchsten Brigadegeneral Selim Krasniqi, wegen des Verdachts, während des anti-serbischen Aufstandes in den Jahren 1998 und 1999 zahlreiche Belgrad loyal gesinnte Albaner liquidiert zu haben. Die Verhaftung von Krasniqi ließ die Situation explodieren. Anschläge gegen UNMIK-Einrichtungen nahmen zu, die Forderung nach Freilassung des UCK-Helden wurde allerorts erhoben.15 Die Stimmung war aufgeheizt. In dieser Situation gingen mehrere Zehntausend Kosovo-Albaner am 16. März 2004 in insgesamt über 20 Städten erneut auf die Straße und warfen der UNO neoliberales Gehabe vor. Mitten in diese Massenkundgebungen hinein meldete ein Sprecher der UNMIK-Polizei, dass nahe Mitrovica drei albanische Kinder in den Fluss Ibar gefallen wären, und forderte einen Hubschrauber für deren Suche an.16 Der staatliche TV-Sender RTK verbreitete die Meldung, drei albanische Kinder seien von Serben in den Fluss Ibar getrieben worden und dort ertrunken.17 Das – niemals bestätigte – Gerücht, die drei Kinder seien von Serben im Fluss ertränkt worden, löste eine Menschenhatz auf alles Serbische sowie vor allem auch gegen Roma und Ashkali aus. Im ganzen Kosovo rückten vor Wut entbrannte Massen allem Nicht-Albanischen zu Leibe. Mindestens 50.000 Albaner beteiligten sich an Pogromen überall im Land.

Die in KFOR-Uniformen steckenden NATO-Soldaten sahen dem hasserfüllten Treiben tatenlos zu. Im deutschen Sektor von Prizren verwüstete der Mob Dörfer, Kirchen und ein uraltes Kloster. Aber auch unter den Augen der französischen Trikolore brannte z.B. das serbische Dorf Svinjare vollständig nieder. Und noch eine Funktion erfüllten diese Märztage des Jahres 2004. Die bis dahin geltende Philosophie die Staatlichkeit des Kosovo betreffend, nach der erst gewisse demokratische und wirtschaftliche Standards zu erfüllen seien, bevor der Status der Provinz diskutiert wird, war mit einem Mal obsolet geworden. „Die blutigen Ausschreitungen gegen Serben und andere Minderheiten im März 2004 haben die internationale Gemeinschaft zu einem Umdenken veranlasst“, vermeldete die Neue Zürcher Zeitung, „so gesehen haben die Kosovo-Albaner mit Gewaltandrohung erreicht, was sie wollten.“18

Atlantisches Kosova

Vier Monate nach der Unabhängigkeitserklärung Kosovas hat das Parlament in Prishtina am 15. Juni 2008 eine Verfassung verabschiedet, die sich als Durchschrift des Plans von Martti Ahtisaari liest. Dieser war zwar 2007 vor der UNO gescheitert, bildet aber dennoch die Grundlage für die »überwachte Unabhängigkeit« des jüngsten europäischen Staates. Die darin festgehaltene Oberherrschaft der UN- und EU-Verwalter19 macht aus dem Land ein Kolonialgebiet. Die Orientierung auf die NATO wird bereits im Vorspann der Verfassung deutlich, wenn von der Absicht die Rede ist, „den Staat Kosova vollständig am euro-atlantischen Integrationsprozess teilnehmen zu lassen.“

Anmerkungen

1) Schon am 30. August 1995 hatten NATO-Bomber im bosnischen Bürgerkrieg auf der bosnisch-muslimischen Seite in die Kämpfe eingegriffen.

2) UN-Resolution 1244 (1999) bzw. 1345 (2001).

3) zit. in The Guardian 02.08.1999

4) Hannes Hofbauer (2001): Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens. Wien, S.22.

5) Hannes Hofbauer (2008): Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus. Wien, S.124f.

6) zit. in: Helmut Kramer/Vedran Dzihic (2006): Die Kosovo-Bilanz. Wien, S.28.

7) Karen Talbot: Former Yugoslavia: The Name of the Game is Oil, in: People‘s Weekly World Mai 2001.

8) The Independent 29.04.2001.

9) Gespräch mit Albin Kurti am 18.12.2006 in Prishtine.

10) Le Monde 26.11.2005.

11) zit. in: Andrej Grubacic (ZNet Commentaries) am 19.02.2007.

12) Gespräch mit Ljubisa Maravic am 11.07.2008 in Kosovska Mitrovica.

13) Gespräch mit Paul Acda am 18.12.2006 in Prishtine.

14) UNMIK Media Monitorings 18.01.2005.

15) Neue Zürcher Zeitung 18.03.2004.

16) vgl. Bernard Chiari/Agilolf Keßelring (Hg.) (2006): Kosovo. Wegweiser zur Geschichte. Paderborn, S.106.

17) Neue Zürcher Zeitung 14.05.2004.

18) Neue Zürcher Zeitung 19.07.2006.

19) Comprehensive Proposal for the Kosovo Status Settlement (UN S/2007/168).

Von Hannes Hofbauer ist jüngst im Wiener Promedia Verlag der Band »Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus« erschienen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2009/1 60 Jahre Nato, Seite