W&F 2002/3

Die Remilitarisierung der inneren Sicherheit

Das Beispiel Argentinien

von Ruth Stanley

Globalisierungsprozesse haben in mindestens drei Dimensionen sicherheitspolitische Diskurse beeinflusst. Erstens: War die Welt der souveränen Territorialstaaten durch die postulierte Einheit von Regierung, Territorium und Wirtschaft gekennzeichnet, so wird diese Kongruenz im Zeitalter der Globalisierung zunehmend brüchig. Territorialgrenzen werden in ihrer Bedeutung relativiert. Die eindeutige Trennung zwischen Innenpolitik und Außenpolitik der voneinander abgegrenzten Nationalstaaten erscheint zunehmend fragwürdig. Zweitens: Erst mit der epochalen Wende in Osteuropa im Jahr 1989 und dem darauf folgenden Zusammenbruch der Sowjetunion erfasste der Transformationsprozess der Globalisierung nahezu alle Staaten; gleichzeitig verloren herkömmliche Bedrohungsszenarien mit dem Kollaps der »zweiten Welt« an Überzeugungskraft und wurden durch neue »Risiken« ersetzt. Drittens: Das Primat des Marktes führt zu einem wachsenden Wohlstandsgefälle sowohl zwischen Zentrum und Peripherie wie auch innerhalb der Staaten der ersten Welt (hier am eindeutigsten in jenen Staaten, die am konsequentesten die neoliberale Doktrin umgesetzt haben, wie etwa in den USA und Großbritannien). Extreme sozioökonomische Ungleichheit, die Anwesenheit der »dritten« in der »ersten« Welt, führt zu einer wachsenden Perzeption von Unsicherheit und zu einer Verschärfung strafrechtlicher Maßnahmen bei gleichzeitigem Rückzug des Staates von anderen Aufgaben. »Kriminalität« – zumeist identifiziert mit Außenseitern (Immigranten, Schwarze) – wird zu einem dominierenden Thema der Politik.
Diese drei Dimensionen fließen in neue Sicherheitsdiskurse ein, die – schon lange vor dem 11. September – neuartige Risiken der Globalisierung ausmachten. Zu diesen Risiken gehören das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel, der Terrorismus. Neben den »Schurkenstaaten« werden vor allem nichtstaatliche Akteure als die eigentlichen Feinde ausgemacht. Die prinzipielle Nicht-Unterscheidbarkeit von Krieg und Verbrechen, von innerer und externer Sicherheit, wird zu einem zentralen Thema von Sicherheitsdiskursen im Zeitalter der Globalisierung.

Diese Verwischung der Grenzen zwischen innen und außen hat Konsequenzen für die Arbeitsteilung zwischen Polizei und Militär: Die Polizei wird zunehmend militarisiert als Reaktion auf die Perzeption, dass die innere Sicherheit von quasi-militärischen (Mafia, Drogenkartellen usw.) Kräften bedroht wird. Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und der Strafapparat des Staates werden aber auch zunehmend gegen die Globalisierungsverlierer eingesetzt, gegen diejenigen, die vom neoliberalen Modell ausgeschlossenen werden. Es entsteht der von Loic Wacquant so bezeichnete »état pénal«, der die Exklusion mit Repression, verschärften Strafmaßnahmen und Freiheitsentzug verwaltet (Wacquant 1999). Die Auswirkungen dieser doppelten Tendenz der diskursiven Gleichsetzung von Krieg und Kriminalität und innerer und äußerer Sicherheit einerseits und andererseits die »Versicherheitlichung« sozioökonomischer Probleme sind besonders gravierend in jenen Staaten, die weder auf eine demokratische noch eine rechtsstaatliche Tradition zurückblicken können, wo vielmehr Militärregimes die übliche Regierungsform darstellten und wo entsprechend Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren. Denn die Zurückdrängung der Militärs von der Politik, die Achtung von Zivil- und Bürgerrechten setzt eine klare funktionale Trennung zwischen Polizei und Militär voraus, eine Trennung, die gerade durch die neuen Sicherheitsdiskurse erschwert wird.

Diese These lässt sich am Beispiel Argentinien besonders eindrucksvoll illustrieren. Denn auf der einen Seite ist es Argentinien nach der letzten Militärdiktatur gelungen, eine zivile Kontrolle über die Streitkräfte zu etablieren und den Militärs eine innenpolitische Rolle zu verwehren (Stanley 2001a). Auf der anderen Seite sieht sich der argentinische Staat mit den Auswirkungen der getreu den Rezepten der internationalen Finanzinstitutionen durchgeführten neoliberalen Wirtschaftsreformen konfrontiert, die das Land in eine lang anhaltenden Rezession gestürzt haben: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhen geklettert, über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, und das Einkommensgefälle zwischen arm und reich ist so groß wie noch nie in der Geschichte dieses einst wohlhabenden Landes (Stanley 2001b). Der Ausschluss beträchtlicher Teile der Bevölkerung aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Protestbewegungen der Arbeitslosen rufen polizeiliche Repressionsmaßnahmen zur Verwaltung des Elends hervor; gleichzeitig macht die Abhängigkeit Argentiniens von einer weiteren Kreditgewährung des IWF die Regierung für die Vorstellungen der USA hinsichtlich einer stärkeren Rolle der Streitkräfte in innenpolitischen Fragen empfänglich.

»Globalisierungsrisiken« und die Rolle der Militärs in Argentinien

Anders als ihre brasilianischen oder chilenischen »counterparts« zogen sich die argentinischen Militärs nach der letzten Militärdiktatur weitgehend diskreditiert aus der Politik zurück. Die von der Junta zurückgelassene Wirtschaftskrise, die massiven Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt der verlorene Malvinenkrieg führten zu einer »transition by collapse«, die es den Streitkräften nicht erlaubte, die Bedingungen der Demokratisierung auszuhandeln. Trotz mehrerer Aufstände in den ersten Jahren des Übergangs (Saín 1994) gilt Argentinien als erfolgreiches Beispiel für die Zurückdrängung der Streitkräfte aus der Politik. Das Gesetz über die Nationale Verteidigung, verabschiedet im Jahr 1988 (Gesetz 23.554, Boletín Ofocial 5.5.1988) zog eine klare Trennlinie zwischen nationaler Verteidigung (Aufgabe der Streitkräfte), innerer Sicherheit (Aufgabe der Polizei) und Grenzschutz(Aufgabe der Gendarmería für den Landesgrenzschutz und der Prefectura Naval für die Kontrolle der Seegrenzen). Eine präzise Mission der Streitkräfte wurde dabei nicht definiert. Unter den Regierungen von Carlos Menem (1989-1999) wurden drei komplementäre Rollen für die Streitkräfte artikuliert. In den Worten des damaligen Verteidigungsministers waren diese zum einen die nationale Verteidigung, zum zweiten auf der regionalen Ebene die Beteiligung an einem System kooperativer Sicherheit und zum dritten ging es um eine Rolle für Argentinien im »globalen Sicherheitssystem« (Dominguez 1997). Diese drei Ebenen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wurden sehr unterschiedlich ausgestaltet. Während auf der Ebene der nationalen Verteidigung die spezifische Mission der Streitkräfte diffus blieb und die regionale Sicherheitskooperation, nicht zuletzt wegen der Vorbehalte der Nachbarländer, kaum Fortschritte gemacht hat (Escudé/Fontana 1995), hat Argentinien unter den Menem-Regierungen einen wichtigen Beitrag zu Peacekeeping-Maßnahmen der Vereinten Nationen geleistet. Inzwischen ist diese Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen aufgrund von Haushaltsrestriktionen abgebaut worden (La Nación 16.06.2000).

Gemessen sowohl an dem militärischen Selbstverständnis wie auch an der Gesetzgebung über die Funktionen und Aufgaben der Streitkräfte sind seit der Demokratisierung im Jahr 1983 beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Der Militärhaushalt wurde drastisch verkleinert, der Militärdienst 1995 abgeschafft. Angesichts der Bestimmungen des Gesetzes über die Nationale Verteidigung und der Diskreditierung der Streitkräfte schien eine interne Rolle der Militärs definitiv gebannt worden zu sein. Der Globalisierungsdiskurs und die Identifikation neuer Risiken zusammen mit den fehlenden Missionsbestimmungen lassen allerdings selbst in diesem Falle gelungener ziviler Kontrolle Raum für neue Szenarien, in denen die Grenzen zwischen innerer und externer Sicherheit verwischt werden und die Streitkräfte erneut Aufgaben zugewiesen bekommen könnten, die über die bloße Verteidigung der Landesgrenzen hinausgehen. Während die Verteidigungspolitik mit der allgemeinen Zielsetzung der argentinischen Außenpolitik konform geht, entspricht sie eher den Erfordernissen der Haushaltsplanung als einer kohärenten Vision über die Aufgaben der Streitkräfte und ist insofern opportunistischen Abwägungen ausgesetzt. Diffuse Bedrohungsperzeptionen lassen sich mangels einer klar definierten Mission der Streitkräfte als potenzielle Gefährdung der nationalen Sicherheit, folglich als ein Aufgabenfeld für die Militärs definieren. Die Risiken der Globalisierung werden zunehmend als Sicherheitsgefährdungen thematisiert, auf die militärisch zu reagieren sei, wobei unter anderem die Immigration, ethnische Konflikte bzw. indigene Aufstände und die sozialen Kosten der Globalisierung erwähnt werden (Martínez 1997). So sprach der damalige Innenminister Argentiniens, Carlos Corach, vor der Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten in Guatemala im Juni 1999 von Drogenhandel, Terrorismus, und organisiertem Verbrechen als den »wahren Herausforderungen« der heutigen Zeit:. Dabei entsprach Corachs Analyse des Terrorismus in vieler Hinsicht der Definition der Subversion aus den 70er und 80er Jahren, die damals Anlass war, die Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerungen einzusetzen. Corach sprach von einem asymmetrischen Krieg, in dem die Terroristen die traditionelle, direkte Konfliktaustragung vermieden, um die Vorteile eines stärkeren Feindes – der Streitkräfte – zunichte zu machen; dabei verwendeten die Terroristen das physische, gesellschaftliche und politische Umfeld auf atypische und von den Streitkräften nicht vorhersehbare Weise. Corach verlangte ein »Nachdenken« über die Rolle der Streitkräfte im Kampf gegen diese neuen Sicherheitsgefährdungen, indirekt also ein Plädoyer für eine erneute innenpolitische Rolle der Militärs.

Argentiniens Verteidigungsministerium hat ebenfalls Überlegungen darüber angestellt, wie die Streitkräfte in jenen internen Konflikten intervenieren könnten, die durch die Proteste gegen die Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der seit Jahren anhaltenden Rezession ausgelöst werden. Im März 2000 sprach der damalige Verteidigungsminister, López Murphy, von den »neuen Bedrohungen«, denen sich das Land ausgesetzt sehe: Extreme Armut, Überbevölkerung, Immigration, Terrorismus, Fundamentalismus, ethnische und Rassenkonflikte. Angesichts solcher Bedrohungen wurden die militärischen Geheimdienste in eine neue Organisation zusammengeführt, die sog. Dirección de Inteligencia para la Defensa (DID), die Informationen über die Aktivitäten von Gewerkschaften, politischen Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen, Nachbarschafts- und studentische Vereinigungen (CORREPI 2000) sammeln sollte. Gemäß dieser Verwischung der Grenzen zwischen externer und interner Sicherheit argumentierte auch der ranghöchste Heeresoffizier, General Ricardo Brizoni, dass es sehr schwierig sei, „Grenzen zwischen dem, was extern, und dem, was intern ist, zu ziehen“. Impliziert kritisierte er damit die klare Unterscheidung des Gesetzes über die Nationale Verteidigung: „Der Staat muss eine Struktur gewährleisten, die es ermöglicht, das Funktionieren aller seiner (Sicherheits-)Kräfte zu optimieren, um besser auf die diversen Bedrohungen zu reagieren“ (Clarín, 21.02.2000).

Eine interne Rolle zum Schutz der öffentlichen Ordnung wurde bereits vom paramilitärischen Grenzschutz, der Gendarmería, übernommen. Ursprünglich unter der Kontrolle des Heeres wurde die Gendarmería zunächst dem Verteidigungsministerium, später dem Innenministerium unterstellt, ohne dass sie dabei ihr paramilitärisches Ethos verloren hätte. Mitglieder der Gendarmería werden seit Jahren zunehmend vom Grenzschutz abgezogen, um Aufgaben der inneren Sicherheit zu übernehmen. Seit 1990 werden sie verstärkt zur Unterdrückung von sozialen Protesten eingesetzt. Ihr Auftreten war häufig gewalttätig und hat mehrere Tote hinterlassen. Entsprechend ist das Ansehen der Gendarmería nach Meinungsumfragen gesunken (Centro de Estudios Unión para la Nueva Mayoría 1997). Seit dem Frühjahr 2002 wird die Gendarmería auch verstärkt zum Schutz von Warenhäusern vor Plünderungen der hungernden Bevölkerung eingesetzt. Ungeachtet dieser Rolle der Gendarmería zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung kam es unter der Regierung de la Rúas zu einer Initiative des Verteidigungsministeriums, die Gendarmería aus der Zuständigkeit des Innenministeriums zu lösen und erneut dem Verteidigungsministerium zu unterstellen (La Nación, 19.08.2001).

Die Identifikation neuer Sicherheitsrisiken – wie Terrorismus und Drogenhandel – als mögliche Betätigungsfelder der Streitkräfte entspricht dem sicherheitspolitischen Diskurs der USA und soll die bedingungslose Allianz Argentiniens mit der »ersten Welt« signalisieren. Unter Menem zog sich Argentinien 1991 von der Bewegung der Blockfreien zurück und beteiligte sich mit der Entsendung von zwei Kriegsschiffen zum persischen Golf am Krieg gegen den Irak. In der verschärften Krisensituation – seit dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt der de la Rúa-Regierung Ende 2001 – ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer den USA genehmen Außenpolitik größer denn je. In diesem Kontext ist das Angebot der Regierung Duhaldes im Januar 2002 zu sehen, sich militärisch am Konflikt in Kolumbien zu beteiligen. (Clarín, 17.03.2002). Mit dem Angebot an die Adresse Washingtons, kolumbianische Hubschrauberpiloten auszubilden, scherte Argentinien aus der Reihe der lateinamerikanischen Staaten aus, die eine Internationalisierung des Konflikts in Kolumbien strikt ablehnen. Das wurde als eine Geste von hoher symbolischer Bedeutung gegenüber den USA gedeutet, ebenso wie die im Februar 2002 erfolgte Einrichtung des Büros eines »Sonderbeauftragten für Angelegenheiten des Terrorismus und verwandte Delikte« durch das argentinische Außenministerium. Dessen Aufgaben wurden definiert als „die Koordination von Politiken, Aktionen und Maßnahmen, die für die Erfüllung der UN-Sicherheitsratsresolution 1373 relevant sind…wie auch der Politiken, Aktionen oder Maßnahmen, die sich aus dem Handeln Argentiniens im regionalen Kontext des interamerikanischen Systems ergeben“ (Resolution 187 des argentinischen Außenministeriums vom 07.02.2002, nach Clarín 26.03.2002). Nach Einschätzung der Medien Argentiniens sollte der letzt zitierte Halbsatz die Legitimationsgrundlage für eine argentinische Beteiligung am Plan Kolumbien bieten, während das Einlenken auf die Position Washingtons als ein Zugeständnis an die USA wegen der sich langwierig gestaltenden Verhandlungen mit dem IWF gedeutet wurde, auf dessen Kreditgewährung Argentinien dringend angewiesen ist (Clarín 26.03.2002).

Der »Krieg gegen das Verbrechen«

Wie bereits erwähnt ist es in Argentinien im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Reformen zu einer extremen Vergrößerung des sozioökonomischen Gefälles zwischen arm und reich und gleichzeitig zu einem erheblichen Anstieg der Zahl der Armen und der absolut Armen (letztere definiert als diejenigen, deren Einkommen zur Grundernährung nicht ausreicht) gekommen. Damit einher geht ein extrem gestiegenes Unsicherheitsempfinden und eine breite Thematisierung der Kriminalität, besonders der Gewaltkriminalität, in den Massenmedien des Landes. Inwiefern diese Fokussierung auf Sicherheitsgefahren eine tatsächlich gestiegene Kriminalitätsrate widerspiegelt, muss offen bleiben (für Evidenz, dass im argentinischen Fall Medienaufmerksamkeit und tatsächliche Entwicklung der Kriminalität wenig miteinander zu tun haben, siehe UN 1999: 14). Wichtiger als die Bestimmung der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung erscheint im Kontext dieses Beitrags die Analyse der Reaktion von Staat und Gesellschaft auf die Wahrnehmung von zunehmender Unsicherheit, darauf, dass steigende Kriminalität einhergeht mit einer Zunahme illegaler Polizeipraktiken sowie mit einer Duldung, ja Förderung brachialer und illegaler Methoden der »Verbrechensbekämpfung«.

Als ein zentrales Element sowohl der Politik wie auch des Diskurses über öffentliche Sicherheit in Argentinien in den letzten Jahren lässt sich eine zunehmende Militarisierung ausmachen, die nicht auf die Anwendung militärischer und paramilitärischer Kräfte zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung angewiesen ist (obwohl, wie dargelegt, die paramilitärische Gendarmería zunehmend in Konfliktsituationen eingesetzt wird); vielmehr ist ihr auffälliges Merkmal eine diskursive und symbolische Militarisierung von polizeilichen Aufgaben. Die typische Reaktion auf die Perzeption gestiegener Unsicherheit besteht in der Ausstattung der Polizei mit einer Ausrüstung, die man fast als Kriegsmaterial bezeichnen könnte und das wird von einem militarisierten Diskurs über den »Krieg gegen das Verbrechen« begleitet. Beide Elemente trafen eindrucksvoll in einer Zeremonie auf dem Plaza de Mayo am 1. Mai 1999 zusammen, bei der der Bundespolizei eine neue Ausrüstung übergeben wurde, zu der u. a. gepanzerte Fahrzeuge, Wasserwerfer, 2.000 kugelsichere Westen und 2 Millionen Schuss Munition gehörten. Der Symbolismus dieses Aktes wurde durch die Worte des Innenministers, Carlos Corach, unterstrichen: „Wir haben dem Verbrechen den Frontalkrieg erklärt; es wird ein erbarmungsloser Kampf sein“ (Clarín, 02.05.1999). Der »Gesetz-und-Ordnung«-Diskurs wird auf eine Weise geführt, die keinen Zweifel daran lässt, dass für vermeintlich gefährliche Elemente rechtsstaatliche Garantien nicht gelten. Der ehemalige Gouverneur der Provinz Buenos Aires und jetziger Außenminister, Carlos Ruckauf, profilierte sich im Wahlkampf des Sommers 1999 mit einem Diskurs der »harten Hand«: „Was die Sicherheit angeht, werde ich sehr hart sein, denn meine Hand wird nicht zittern, wenn ich die härtesten Maßnahmen ergreifen muss… Wir müssen den Dieben Kugeln geben, wir müssen sie erbarmungslos bekämpfen.“ (Clarín, 04.08.1999)

De facto, so die implizite Aussage, steht auf Eigentumsdelikte die Todesstrafe. Diese Aussage führte zum Rücktritt des Justiz- und Sicherheitsministers der Provinz Buenos Aires, fand aber laut einer Meinungsumfrage die Zustimmung bei 55 Prozent der Bevölkerung (El Cronista 09.08.1999). Die kriminellen Elemente, gegen die der Krieg zu führen ist, wurden gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft lokalisiert: Sie befinden sich laut Ruckauf in den prekären Siedlungen, den »villas de emergencia« (Notstandssiedlungen) oder »villas miseria« (Elendsvierteln), welche die ärmsten Mitglieder der argentinischen Gesellschaft beherbergen: „Es ist notwendig, in alle »villas« reinzugehen…, um mit der Kriminalität Schluss zu machen. Die Polizei ist fähig, es ist nur notwendig, ihr Anweisung und Kampfentscheidungen zu geben. Aber lasst uns ihnen die Normen geben, die sie brauchen; wir können eine Situation nicht haben, in der ein Polizist in einen dieser Orte reingeht und jemanden tötet, und dann erscheint irgendein Anwalt der Verbrecher und sagt, der Polizist sei der Mörder.“ (Página 12, 05.08.1999)

Nach seinem Wahlsieg ernannte Ruckauf Aldo Rico zu seinem Sicherheitsminister. Rico, der Anführer der ersten Heeresaufstände der sog. »carapintadas«1 gegen die neue demokratische Regierung Alfonsíns, vertrat eine ähnlich harte Linie, bei der der »Krieg gegen das Verbrechen« in einen Krieg gegen die Ärmsten der Bevölkerung ausartete. Groß angelegte Razzien in den »villas« unter Einsatz von speziellen Kommandoeinheiten und im Beisein der Massenmedien tragen wenig zur Kriminalitätsbekämpfung, aber viel zur Gleichsetzung der Armen und Ausgeschlossenen mit dem »Verbrechertum« bei, wodurch suggeriert wird, dass die Ausgeschlossenen ihren Ausschluss verdienen, gar selbst verschuldet haben (Stanley 2000).

Das Blutbad kurz vor Weihnachten 2001, als die Polizei das Feuer auf Demonstranten auf dem Plaza de Mayo eröffnete und über 20 Menschen starben, leitete das vorzeitige Ende der de la Rúa-Regierung ein. Es war kein singuläres Ereignis, das Ausmaß der Repression und die Zahl der Opfer waren aber selbst für argentinische Verhältnisse außergewöhnlich. Dass der ehemalige Generalkommissar der Bundespolizei, Rubén Santos, diesen Einsatz jetzt vor Gericht verantworten muss, erklärt sich eher aus der Suche nach einem Sündenbock als aus der Ablehnung der gewalttätigen Repression durch den staatlichen Apparat.

Fazit: Der neue Autoritarismus

Analysen der staatlichen Gewaltapparate in den neuen Demokratien Lateinamerikas haben sich zumeist auf die Frage konzentriert, ob die Streitkräfte durch Putschversuche bzw. durch eine Einflussnahme unterhalb der Schwelle eines Putsches die Überlebensfähigkeit der demokratischen Regime unmittelbar gefährden. Hingegen ist die Polizei als jene Institution, die für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit zuständig ist, selten in den Blick geraten (Pereira 2000). Werden die alltäglichen Formen der Staatsgewalt in die Analyse mit einbezogen, so lassen sich Anzeichen eines neuen Autoritarismus ausmachen, der in einem direkten Zusammenhang mit den neoliberalen Reformen des Staates in Lateinamerika steht: Der Rollback des Staates im sozioökonomischen Bereich geht mit einem »Rollforward« des Ausmaßes und des Wirkungsradius des staatlichen Gewalt- und Zwangsapparats einher. Neue Unsicherheitswahrnehmungen und Diskurse über globale Sicherheitsrisiken haben wesentlich zur Ausformung und Rechtfertigung dieser neuen Spielart des Autoritarismus beigetragen. Anders als bei der diskursiven Begründung der autoritären Militärregime zielt die Zwangsgewalt des autoritären neoliberalen Staates sowohl diskursiv als auch in der Praxis weniger auf die »Subversion« als auf »Kriminelle«. Allerdings sind hier die Grenzen fließend: Begriffe wie »narcoterrorismo« und der »Krieg gegen das Verbrechen« dienen dazu, die Unterscheidung zwischen Krieg und Kriminalität zu verwischen. Hierin spiegelt sich die Übernahme von U.S.-amerikanischen Sicherheitsdiskursen mit ihrer Begrifflichkeit von »high-intensity crime« und »low-intensity warfare« wider (Turbiville 1995). Überhaupt gibt sich der neue Autoritarismus als eine Reaktion auf die Risiken der Globalisierung sowie auf neue Sicherheitsbedrohungen, die durch diese entstehen: Terrorismus, Drogenhandel, organisiertes Verbrechen.

Unter den erst vor kurzem abgelösten Militärregimen Lateinamerikas gab es grundsätzlich eine Konvergenz militärischer und polizeilicher Funktionen. Eine klare institutionelle und funktionale Trennung der polizeilichen und militärischen Institutionen steht in fast allen neuen Demokratien Lateinamerikas noch aus; dort, wo diese erreicht wurde, wie in Argentinien, wird sie tendenziell wieder rückgängig gemacht. Daraus ergibt sich keinesfalls eine Verpolizeilichung der Streitkräfte, sondern eine erneute Militarisierung der inneren Sicherheit. Jene Teile der Bevölkerung, die die bevorzugte Zielscheibe militarisierter Repressionsmaßnahmen darstellen, bleiben auch unter einem demokratischen politischen Regime de facto Untertanen des Staates ohne wirksame Garantien individueller Rechte und Freiheiten.

Literatur

Centro de Estudios para la Nueva Mayoría (1997): La imagen de las fuerzas armadas y de seguridad, Cuaderno N° 249, Buenos Aires.

CORREPI (Coordinación contra la Represión Policial e Institucional) (2000): Boletín Informativo No. 68, 23.04.2000.

Dominguez, Jorge (1997): Política de Defensa del Gobierno Nacional, in: Revista de la Escuela Superior de Guerra Área, 1997/2, S. 54-59.

Escudé, Carlos; Fontana, Andrés (1995): Divergencias estratégicas en el Cono Sur: Las Políticas de Seguridad de la Argentina frente a las del Brasil y Chile, Buenos Aires: Universidad Torcuato di Tella, Working Paper Nr. 20.

Martínez, Carlos Jorge (1997) : La Argentina y sus hipótesis de conflicto, in: Revista Militar Nr. 740 (Juli-Sept. 1997), S. 29-36.

Pereira, Anthony (2000): An ugly democracy? State violence and the rule of law in post-authoritarian Brazil, in: Peter Kingstone und Tim Powers (Hrsg.): Democratic Brazil, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, S. 217-235.

Saín, Marcelo (1994): Los levantamientos carapintada, Buenos Aires: CEAL, 2 Bde.

Stanley, Ruth (2001a): Modes of Transition v. Electoral Dynamics: Demnocratic Control of the Military in Argentina and Chile, in: Journal of Third World Studies, Bd. 28/2 (2001), S. 71-91.

Stanley, Ruth (2001b): The Remilitarization of Internal Security in Argentina, in: Dies. (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 125-150.

Stanley, Ruth (2000): Polizeigewalt im Großraum Buenos Aires: Braucht der Neoliberalismus eine policía brava?, in: Peripherie 80/2000, S 41-58.

Turbiville, Graham (Hrsg.) (1995): Global Dimensions of High-Intensity Crime and Low- Intensity Conflict, Chicago, Office of International Criminal Justice.

United Nations (1999): United Nations, Office for Drug Control and Crime Prevention, Centre for International Crime Prevention, Global Report on Crime and Justice, New York und Oxford: Oxford Uiversity Press 1999.

Wacquant, Loic (1999): Les prisons de la misère, Paris: Editions Raison d’Agir.

Anmerkungen

1) Wörtlich »bemalte Gesichter«: Die Bezeichnung spielt auf die Gewohnheit der Aufständischen, ihre Gesichter mit Tarnfarben zu bemalen und in Kampfanzügen aufzutreten, womit sie ihre Zugehörigkeit zu den mittleren Rängen des Heeres, der kämpfenden Truppe, signalisieren wollten.

Dr. Ruth Stanley lehrt am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/3 Welt(un)ordnung, Seite