W&F 2021/3

Die Seele heilen

Die Kraft des Theaters

von Georg Genoux

Können Theater und Film als kreatives Mittel zur Konfliktbearbeitung und Friedensschaffung genutzt werden? Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Arbeit in Krisenregionen? Und was können Schüler*innen aus unterschiedlichen Lebenswelten und Kontexten durch friedensorientierte Theaterarbeit voneinander lernen? Der Theater- und Filmregisseur Georg Genoux ermöglicht im Folgenden einen persönlichen Einblick in die Praxis friedensbildender Theaterarbeit. Er zeigt Potentiale auf, die aus künstlerischen Prozessen entstehen können, diskutiert aber auch die Grenzen von Kunst in repressiven gesellschaftspolitischen Kontexten.

Als »gewöhnlicher« Theaterregisseur lernte ich mein Handwerk: das Publikum zu unterhalten, dabei ordentlich aufzumischen, gezielt zu schockieren und mit Tabubrüchen zu provozieren. Nach acht erfolgreichen Theaterjahren in Moskau empfand ich eine tiefe Leere angesichts dieser Tätigkeit. Ich fragte mich: Wie kann die große gedankliche und emotionale Kraft des Theaters genutzt werden, um Menschen und Orte, die sich in großen Krisen befinden, zu heilen und mit ihnen Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln?

Ausgehend von einer Grundüberzeugung, dass die positive Kraft einer stark entwickelten Seele und Persönlichkeit viel schöner als jedes noch so perfekte Bühnenbild ist, wollte ich etwas Neues versuchen.

Die Zeit kurz nach der Jahrtausendwende war eine politisch und gesellschaftlich sehr schmerzhafte Zeit in Russland. 2006 inszenierte ich daher am Teatr.doc in Moskau mit zwei russischen Psycholog*innen das interaktive Theaterprojekt »Demokratia.doc«. In diesem erarbeiteten wir gemeinsam mit den Zuschauer*innen, welche Auswirkungen die vergangenen fünfzehn Jahre Demokratie in Russland auf die Menschen gehabt hatten. Die Arbeit war ein großer Publikumserfolg in Moskau und in vielen anderen Städten. Wohl auch, weil die russische Staatsmacht ab 2006 immer deutlicher anfing, die Errungenschaften der Demokratie wieder zu zerstören: Medien wurden immer mehr kontrolliert und wir trafen auf ein immenses Bedürfnis vieler Russ*innen, sich auszusprechen oder zumindest nicht mit ihren Gefühlen der Angst und Ohnmacht allein zu sein.

In dieser Inszenierung standen die Bürger*innen selbst auf der Bühne und hatten dort die Möglichkeit, ihre Welt selbst zu gestalten beziehungsweise Kraft dafür zu sammeln, dies in der »realen« Welt umzusetzen. Acht Jahre »spielten« wir das interaktive Projekt und die Erfahrungen und Begegnungen aus dieser Zeit inspirierten mich für meine zukünftigen Aktivitäten.

Theaterarbeit in Konfliktgebieten

Aufbauend auf den Erfahrungen in Russland entwickelte ich die Idee eines heilenden Theaters weiter, derzeit in ehemaligen und teilweise aktuellen Kriegs- und Konfliktgebieten in der Ukraine. Diese Arbeit begann direkt nach der Maidan Revolution 2014, gemeinsam mit den ukrainischen Dramatiker*innen Natalia Vorozhbyt und Den Gumenii. Damals suchten wir nach anderen Wegen für unsere Form des Theaters als die einer geplanten Theatergründung. Natalia und ich arbeiteten als Volontäre für die Organisation »Neuer Donbass« in einer Schule in der Kleinstadt Nikolajewka im Osten der Ukraine. Die Organisation versuchte, diese Schule wieder aufzubauen. Hauptaugenmerk unserer Arbeit dort war die Frage, wie Theater im schrecklichen Kriegsalltag Menschen vor Ort helfen kann, mit eben dieser Situation fertig zu werden.

Zusammen mit dem Kriegspsychologen Alexei Karachinskii gründeten wir in der Folge das »Theatre of Displaced People«, das in Kiew seither als Zentrum für Binnenflüchtlinge fungiert. Wir versuchten durch Methoden des Theaters mit Betroffenen ihre teilweise traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, mit ihnen neue soziale Kontakte im fremden Kiew zu finden und neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Zudem verwirklichten wir über dreißig künstlerische Projekte mit Schüler*innen, Bürger*innen und Soldat*innen.

Wir reisten dazu mit dem Theater durch Städte im Osten der Ukraine und im Anschluss daran mit diesen Projekten aus dem Osten in den Westen der Ukraine. Dabei zeigte sich, wie fremd sich Menschen aus dem Westen und Osten sind. Für die Verarbeitung des Erlebten und Erfahrenen hilft die ganz eigene Theatersprache, die dabei entwickelt wurde. Sie ist zum Beispiel in der Theaterinszenierung »Mein Nikolajewka« mit Schüler*innen sehr deutlich erkennbar: Persönliche Gegenstände von Protagonist*innen wurden darin zu »Medien«, durch die die Schüler*innen ihre Geschichten des Erwachsenwerdens im Krieg erzählten. Die Gegenstände stützten die jungen Menschen und wirkten wie die Hand eines Freundes in ihren Händen. Den Bühnenraum gestalteten wir gemeinsam mit den Jugendlichen zu ihrem persönlichen Schutzraum, in dem sie sich mit ihren Erfahrungen und Geschichten sicher und die Unterstützung der anderen fühlten. Ziel unserer Arbeit war, dass sich die Schüler*innen durch das Mitteilen nicht mehr als Opfer, sondern als »Held*innen ihrer Geschichten« empfinden.

Konflikttheater zwischen Begegnung und Vereinnahmung

Theater und Friedensarbeit ist jedoch nie frei von äußeren, gesellschaftlichen Einflüssen, sondern spiegelt und reflektiert vorhandene Spannungsfelder vielmehr – insbesondere in Krisen- und Konfliktgebieten. Diese Spannung zeigte sich in unserem Projekt »Kinder und Krieger*innen «. Hier sollte durch das Theaterspielen ein Erstkontakt zwischen Schüler*innen und dort stationierten Soldat*innen ermöglicht werden. Die Kinder waren traumatisiert und hatten Angst vor den bewaffneten Menschen. Diese wiederum spürten oft den Hass der Bevölkerung, die sie eigentlich verteidigen sollten.

Diese Begegnungen im Theater führten zum einen zu einem tiefen Dialog und zu einer neuen Ebene zwischen Schüler*innen und Soldat*innen, was Angst auf beiden Seiten abzubauen half. Sie lernten sich als Menschen kennen und es entstanden dadurch sogar ungewöhnliche Freundschaften zwischen einzelnen Schüler*innen und Soldat*innen, die bis heute andauern.

Nie werde ich beispielsweise den Telefonanruf eines Kommandanten vergessen, der an unserer Inszenierung teilnahm. Am Tag nach der Premiere rief er Natalja Vorozhbyt an und sagte: „Heute Morgen haben uns die Schüler*innen hier besucht. Man kann von hier sogar ihre Häuser sehen. Wenn mein Nachfolger hier ankommt und ich ihm das Kommando übergebe, werde ich ihm sagen: Siehst du diese Fenster dort? Dort wohnt Oleg und dort wohnt Marina. Das sind unsere Freunde. Bitte beschütze sie.” Zuvor hatte er nie mit einem Menschen aus diesem Ort persönlich gesprochen.

Zum anderen gab es aber leider auch Versuche, dieses Projekt für Propagandazwecke oder persönliche Karriereziele zu missbrauchen. So sollte es in Kiew als Gastspiel in Form eines patriotischen Ereignisses gezeigt werden. Ich bin mir sicher, dass diese Form der Theaterarbeit nur Sinn mit den Menschen vor Ort ergab und es graute mir davor, das Leid dieser Menschen in Kiew auszustellen und damit unsere ganze Arbeit vor Ort wieder kaputt zu machen. Ich konnte dieses Gastspiel zwar verhindern, aber es führte schließlich zum Bruch zwischen mir und meinen Kolleg*innen und ich übergab die Leitung einem Team jüngerer ukrainischer Kolleg*innen.

An einem zweiten Standort des Theatre of Displaced People in Kiew, an dem ein Zentrum für alle eröffnet worden war, die sich vom Krieg betroffen fühlten und sich durch Theater aussprechen oder neue soziale Kontakte knüpfen wollten, wurde weiteres Spannungsgefüge sichtbar. Denn auch dort gelang es nicht, trotz all der Umstände und der persönlichen Not der Betroffenen, einen selbstkritischen Blick auf das staatliche Handeln der Ukraine oder die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation zu werfen.

Die Erfahrungen an beiden Standorten zeigten in der täglichen Praxis vor Ort die Grenzen auf, die Theater als Friedens- und Konfliktarbeit in Kriegs- und Krisengebieten haben kann: War die Bereitschaft aller Beteiligten immens, den Menschen in ihrer Not mit Mitge­fühl zu begegnen, war die kritische Auseinandersetzung über die Ursachen dieser Not ein Tabu, solange sie nicht die Welt in klare Feindbilder – Russland/Ukraine – unterteilte. Obwohl ich dies menschlich nachvollziehen kann, legt es der friedensfördernden Theaterarbeit enge Grenzen auf, es durchbricht schöpferisches Arbeiten und eine beginnende Transformation des Konflikts. Ich denke, nur wo auch kritisches und besonders selbstkritisches Denken und Handeln stattfindet, kann Heilung beginnen.

Theaterarbeit mit Schüler*innen

Dem sei ein anderes Projekt gegenübergestellt. Anders als das Theatre of Displaced People stellten die Künstler*innen des »PostPlay Theaters« aus Kiew schon seit Beginn ihrer Gründung 2015 in ihren Inszenierungen und Performances auch sehr unbequeme Fragen zu dem, was politisch und gesellschaftlich in der Ukraine geschieht. Dies bedeutete nicht, die militärische Intervention Russlands in der Ukraine zu verharmlosen. Aber die Künstler*innen waren von der Notwendigkeit überzeugt, die Position der Anderen zu hören. Theater ist dafür ein idealer Ort, gerade zu Zeiten, in denen dies im »wirklichen Leben« so nicht möglich scheint.

Als Regisseur verbindet mich mit dem PostPlay Theater das Projekt »Misto to go«. Seit 2019 bin ich zusammen mit dem Team in sechs verschiedenen Städten in den Kriegsgebieten im Osten der Ukraine unterwegs, um mit Schüler*innen zu arbeiten.1 Mit den Schulen und ihren Lehrpersonen führen wir zudem internationale Schulaustauschprogramme mit europäischen Schulen durch. Ein Projekt darunter ist eine »Misto to go School«, in der die Schüler*innen selbst kulturelle Projekte für Dialog und Friedensstiftung in ihren Regionen aufbauen. Zudem werden gemeinsame Projekte mit Schüler*innen in Deutschland entwickelt, die sich etwa den Themen »Soziale Medien« und »Überlebende des Holocaust« widmen.

Das Ergebnis einer Improvisation bei einem solchen Austausch war beispielsweise, dass aus persönlichen Geschichten ein Dokumentartheaterprojekt entwickelt wurde, das die Entstehung von Hass und Gewalt thematisierte. Während die ukrainischen Schüler*innen mit den Kriegshandlungen im Osten der Ukraine konfrontiert sind, erleben etwa die deutschen und österreichischen Schüler*innen die Auseinandersetzung zum Umgang mit Geflüchteten. Durch die Verarbeitung beider Lebenswelten in einem Theaterstück wurden friedenspädagogische Lernprozesse für beide Schüler*innengruppen angestoßen.

Diese neuen Kontakte und das Kennenlernen von jungen Menschen mit ganz anderen Erfahrungen und Lebenswelten wirkt auf die ukrainischen, aber auch die deutschen und österreichischen Schüler*innen als immenser Impuls – das eigene Leben zu durchdenken und neue Ideen zu entwickeln, „was ich mit meinem Leben anfangen kann“. Gleichzeitig – und hierüber soll Theater ja auch nicht hinwegtäuschen – bleibt der Schmerz aufgrund des im Krieg Erlebten.

Unvergessen bleibt für mich dabei auch eine Erfahrung während unseres Filmprojektes »Tell me your Story« in Potsdam.2 Die deutschen und ukrainischen Schüler*innen sollten sich kennenlernen, indem sie übereinander und miteinander kleine Videos auf ihren Handys drehten. Bei dieser Begegnung entstand plötzlich ein Dialog und gemeinsamer Film einer ukrainischen und einer russischen Schülerin (die seit vier Jahren in Potsdam lebte). Es war für beide das erste Mal seit Beginn des Kriegs, mit jemanden »von der anderen Seite« ins Gespräch zu kommen. Es war für uns alle ein sehr emotionaler Moment, als ein eigenständiger Prozess zwischen den beiden begann: Die Schülerinnen verzichteten auf Schuldzuweisungen und konzentrierten sich ganz auf das Nachvollziehen der Position der anderen bzw. ihren Gefühlen. Von außen wurde der Prozess nur insoweit unterstützt, für die Schüler*innen dabei eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich frei und sicher fühlen.

Die Kraft des Theaters

Für Schüler*innen in Krisengebieten kann die Begegnung mit Künstler*innen wie bei »Misto to go«, die sich ihren Lebenserfahrungen widmen, für ihr weiteres Leben prägend sein. Allein die Tatsache, dass sie im Alltag im Osten der Ukraine nicht vergessen und sie mit ihren Sorgen nicht allein gelassen werden, wirkt heilend. Aber mehr noch: Man kann als begleitender Künstler Zeuge werden, wie in diesen Schüler*innen durch die Auseinandersetzung mit der Kunst neue Welten geboren und erobert werden. Noch nie habe ich so eine Kreativität und Witz erlebt, wie bei den ost­ukrainischen Schüler*innen.

Einige unserer ehemaligen Schüler*innen und Projektteilnehmenden reisen mittlerweile als Tutor*innen mit uns in unseren Projekten in den Osten der Ukraine und unterstützen andere aufgrund ihres großen Erfahrungsschatzes. Dieses sich Mitteilen und Weitergeben von Erfahrungen unterstützt die von Theater- und Filmarbeit hervorgebrachten Friedensprozesse.

Theater kann zu einem idealen Ort werden, um in Krisengebieten neue soziale Kontakte zu knüpfen, Traumata zu bearbeiten und auch neue Perspektiven zu erarbeiten. Dabei wirkt es auf Ebene des Individuums ebenso wie im Dialog und Begegnung mit anderen und hat das Potential, sich nicht zuletzt durch die Einbeziehung des Publikums auch in gesellschaftliche Prozesse fortzusetzen. Gerade in Konflikten, die sich politisch vielleicht nicht so schnell verändern werden, ist das Aufbrechen des Schweigens durch die Mittel des Theaters wichtig, um nicht weitere Konflikte entstehen zu lassen. Dabei ist es zentral, politischer Vereinnahmung vorzubeugen, oder diese zu verhindern – eine Leistung, die das Theater allein an sich nicht schaffen kann.

Die öffentlichen Veranstaltungen eines Theaters sind wichtig, um die örtliche Bevölkerung mit in die Konflikttransformation auf der Bühne einzubeziehen. Das Publikum nimmt an dem Prozess nicht weniger teil als die Darsteller*innen. Erinnern und Anteilnahme kann ein genauso intensiver Prozess sein, wie mit der eigenen Geschichte auf der Bühne zu stehen. Eine soziale Handlung ist eine ästhetische Handlung. Sie verändert die Wahrnehmung für alle Beteiligten. Diese Veränderung kann grausam, schön, emotional und ein Moment eines »Durchbruchs« sein. Theater ist dabei das Instrument, das diesen Prozess der eigentlichen Kunst, also die Veränderung der Wahrnehmung der Menschen, fördern und provozieren kann. Die eigentliche Kunst ist das, was mit dem Menschen geschieht, also etwas sehr Reales.

Anmerkungen

1) Das Theaterprojekt wird im Programm »Östliche Partnerschaften« vom Auswärtigen Amt der BRD unterstützt. Auf der Homepage des Projektes schreiben teilnehmende Schüler*innen über ihre Eindrücke: mistotogo.com

2) Das Filmprojekt wurde von der Stiftung EVZ gefördert.

Der Hamburger Regisseur Georg Genoux arbeitet seit über zwanzig Jahren mit Schüler*innen, Soldat*innen und Ortseinwohner*innen in osteuropäischen Krisengebieten in Theater-, Film- und Dialogprojekten. Er ist Leiter der »Agency for Safe Space« und entwickelte über achtzig Theaterprojekte, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/3 Frieden lernen, aber wie? – Aktuelle Fragen der Friedenspädagogik, Seite 42–44