Die START-Verhandlungen
Zielsetzung und Stand der Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen
von Joachim Rohde
Seit 1982 verhandeln die USA und die Sowjetunion in Genf über eine Reduzierung und Umstrukturierung ihrer weitreichenden strategischen Angriffswaffen (Strategic Arms Reduction Talks, kurz START genannt). Lange Jahre waren diese Verhandlungen Teil eines umfassenderen Verhandlungspakets, das sowohl nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Verhandlungen) als auch strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme (Space and Defense Talks) umfassen sollte. Innerhalb dieses Pakets wurden Fortschritte in einer Systemkategorie abhängig gemacht von Fortschritten in den beiden anderen Kategorien. Erst mit der Entkopplung der verschiedenen Bereiche wurde die Voraussetzung für erfolgreiche Vertragsabschlüsse geschaffen.
So gelang 1987 der Abschluß des INF-Abkommens, nachdem Moskau die INF-Verhandlungen über Angriffssysteme mittlerer Reichweite nicht mehr von Fortschritten bei START abhängig gemacht hatte. Nachdem es 1990 gelang, auch die START-Verhandlungen von Fortschritten in den Verhandlungen über die anderen noch verbleibenden Systemkategorien (strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme) abzukoppeln, scheinen beide Seiten auch hier kurz vor einem Vertragsabschluß zu stehen. Die Unterzeichnung des ca. 450 Seiten umfassenden Vertragswerks mußte allerdings mehrfach verschoben werden, da für einige strittige Problembereiche offenbar noch keine Lösung gefunden werden konnte.
So ist auch noch keineswegs sicher, daß der für Juni/Juli 1991 geplante Gipfel, auf dem der START-Vertrag unterzeichnet werden soll, nicht erneut verschoben werden muß. Zwar beschlossen die beiden Außenminister auf ihrem Treffen Anfang Juni, die Verhandlungen zu beschleunigen, es gelang ihnen jedoch trotz mehrstündiger Verhandlungen nicht, die noch bestehenden Differenzen auszuräumen und den Weg zur Vertragsunterzeichnung zu ebnen.
Im folgenden soll – im Sinne einer Momentaufnahme – ein Überblick über den Stand der Verhandlungen gegeben werden. Dabei wird zunächst noch einmal die mit START verfolgte Zielsetzung und ihre vertragstechnische Umsetzung skizziert so wie die konkreten Vertragsbestimmungen und ihre Verifikation erläutert. Die Analyse schließt mit einer kurzen Bewertung und Überlegungen zu den Aussichten für den weiteren Fortgang der Verhandlungen angesichts der sich wandelnden Beziehungen zwischen Moskau und Washington.
I. Verhandlungsgegenstand und Dauer
Verhandlungsgegenstand sind offensive strategische Nuklearwaffen, d.h. genauer gesagt nukleare Trägersysteme interkontinentaler Reichweite und nukleare Gefechtsköpfe. Im einzelnen sind dies landgestützte Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles/ICBM), seegestützte Interkontinentalraketen (Sea-Launched Ballistic Missiles/SLBM) und strategische Bomber einschließlich ihrer Bewaffnung.
Der Vertrag soll auf 15 Jahre abgeschlossen werden mit der Möglichkeit, ihn jeweils um 5 Jahre zu verlängern. Nach 7 Jahren müssen die Vertragsbestimmungen implementiert, d.h. die Potentiale auf die vorgesehenen Höchstgrenzen reduziert worden sein.
II. Verhandlungsziel
Ziel ist eine Reduzierung (ursprünglich um 50%) der Nuklearwaffenpotentiale der Supermächte bei gleichzeitiger Erhöhung der strategischen Stabilität. Als wesentliche Voraussetzung für Stabilität wird die Überlebensfähigkeit der strategischen Potentiale angesehen. Dieser Gedanke ist nicht neu und beruht auf der Überlegung, daß in einer akuten Krisensituation der Anreiz, auf den Einsatz militärischer Macht zurückzugreifen, dann am größten ist, wenn derjenige, der zuerst zuschlägt, davon einen erheblichen Vorteil hätte. Der größte militärische Vorteil ließe sich dann erzielen, wenn es einem Angreifer gelingen würde, den Gegner nuklearstrategisch zu entwaffnen. Die Überlebensfähigkeit der strategischen Nuklearpotentiale ist deshalb eine Mindestvoraussetzung, will man verhindern, daß eine Krise schon allein aufgrund der Struktur der Militärpotentiale eskalieren könnte.
III. Vertragstechnische Umsetzung der Zielvorgabe
Strategische Rüstungskontrolle soll – zumindest nach amerikanischer Argumentation – auf zweierlei Weise zur Vergrößerung der Überlebensfähigkeit der Nuklearstreitkräfte beitragen:
- Zum einen soll die Anzahl der Gefechtsköpfe (GK) pro Rakete reduziert werden (DeMIRVing).1
- Zum anderen soll der Anteil langsam fliegender Systeme (Bomber und Marschflugkörper/MFK) gegenüber schnell fliegenden (ballistischen Raketen) erhöht und damit eine Schwerpunktverlagerung im strategischen Dispositiv vorgenommen werden.
Die stabilitätsfördernde Wirkung eines DeMIRVing läßt sich am besten an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn beide Seiten über tausend Raketen mit jeweils einem Gefechtskopf verfügen und zur Zerstörung einer Rakete beispielsweise in ihrem Silo mindestens drei Gefechtsköpfe notwendig sind, ließe sich selbst unter Einsatz des Gesamtpotentials nur ein Bruchteil des gegnerischen Potentials (ca. 330 Raketen) zerstören, der Angreifer würde sich also quasi selbst entwaffnen. Umgekehrt kann man sagen, wenn beide Seiten über Raketenpotentiale mit MIRV-Gefechtsköpfen verfügen, läßt sich mit einem Bruchteil des eigenen das jeweilige gegnerische Potential ausschalten. Geht man wiederum von dem oben genannten Beispiel aus, setzt nun aber zehn Gefechtsköpfe pro Rakete, so zeigt sich, daß der Angreifer nunmehr mit nur 300 Raketen (3 000 GK) den Gegner entwaffnen kann.
Daraus läßt sich die generelle These ableiten: Je weniger Gefechtsköpfe sich auf den einzelnen Raketen befinden, desto geringer ist der Erstschlagsvorteil und desto größer die militärische Stabilität.
Die stabilitätsfördernde Wirkung einer Erhöhung des Anteils langsam fliegender Systeme läßt sich aus folgender Überlegung ableiten: Ein Entwaffnungsschlag – wie er oben skizziert wurde – ist nur praktikabel, wenn der Angegriffene sein eigenes Potential nicht startet, bevor der Angriff einschlägt. Je kürzer die Vorwarnzeit und damit die mögliche Reaktionszeit, um so sicherer kann der Angreifer sein, die gegnerischen Raketen noch in ihren Silos zerstören zu können. Umgekehrt gilt: Je länger die Flugzeit eines erfaßten Systems, desto größer ist die Vorwarnzeit und desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß das gegnerische Potential im Zuge eines Überraschungsangriffs am Boden zerstört werden kann. Aus dieser Überlegung resultiert die These, daß die vergleichsweise langsam fliegenden luftatmenden Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) weniger stabilitätsgefährdend sind als ballistische Raketen, weil mit ihnen aufgrund ihrer unter Umständen mehrere Stunden betragenden Flugzeit ein überraschender Entwaffnungsangriff nicht möglich ist; der Angegriffene hätte ausreichend Zeit, einen Gegenschlag einzuleiten.
Beim ersten Ansatz, der Reduzierung der Anzahl der Gefechtsköpfe pro ballistischer Rakete lassen sich – orientiert am konkreten Verhandlungsgegenstand – wiederum zwei Vorgehensweisen unterscheiden:
- die Begrenzung/Reduzierung des Wurfgewichtes des ballistischen Potentials;
- die Reduzierung der Gefechtsköpfe.
Kommt es zu erheblichen Reduzierungen in diesen Kategorien, erscheint es für beide Seiten geboten, die verbleibenden Gefechtsköpfe bzw. das verbleibende Wurfgewicht auf möglichst viele Trägermittel zu verteilen, um die Überlebensfähigkeit des Potentials zu vergrößern.
IV. Die wesentlichen Regelungen eines START-Abkommens
In diesem Zusammenhang sind die Regelungen über Anzahl, Qualitätsmerkmale und Verteilung ballistischer Flugkörper zu sehen. Die Obergrenze für dislozierte land- und seegestützte Interkontinentalraketen mit zugehöriger Abschußvorrichtung (launcher) und für schwere Bomber liegt bei 1 600 Systemen. Von diesen dürfen wiederum maximal 154 schwere ICBM sein. Neben den Abschußvorrichtungen werden zum ersten Mal in der strategischen Rüstungskontrolle auch die Gefechtsköpfe gesondert reduziert. Ihre Zahl wird durch den Vertrag auf maximal 6 000 begrenzt, wobei es für GK auf dislozierten ballistischen Raketen (ICBM und SLBM) noch eine Untergrenze von 4 900 gibt. Von diesen 4 900 dürfen wiederum nur 1 540 Gefechtsköpfe auf schweren ICBM disloziert werden und 1 100 GK auf mobilen ICBM. Die erste Untergrenze bezieht sich ebenso wie die erwähnte Untergrenze bei Trägersystemen ausschließlich auf die sowjetische Interkontinentalrakete SS-18.
Neben der Begrenzung der Gefechtsköpfe wird aber auch das erlaubte Wurfgewicht auf 50% des aggregierten Wurfgewichts aller dislozierten sowjetischen ICBM und SLBM reduziert.
Darüber hinaus enthält der Entwurf für den START-Vertrag weitere Regelungen, die ebenfalls dem Ziel gelten, die Gefechtskopfanzahl pro Trägermittel zu reduzieren. Dazu gehören die Verbote:
- neuer Typen von schweren ICBM,
- neuer, schwerer SLBM und ihrer Abschußvorrichtungen,
- mobiler Abschußvorrichtungen für schwere ICBM,
- neuer Typen von ICBM und SLBM mit mehr als zehn Gefechtsköpfen,
- einer schnellen Nachladefähigkeit von ICBM-Abschußvorrichtungen,
- neuer luftgestützter Marschflugkörper mit mehreren, unabhängig von einander steuerbaren Gefechtsköpfen. (In der seegestützte Marschflugkörper/SLCM betreffenden bindenden politischen Erklärung wird dies auch für SLCM ausgeschlossen.)
Im Ergebnis würde ein START-Abkommen zu folgenden Reduzierungen führen:
- Die Zahl der Gefechtsköpfe auf ballistischen Systemen wird um ca. 49% (UdSSR) und 39% (USA) verringert;
- Die Anzahl der schweren ICBM, also der sowjetischen SS-18, wird um 50% reduziert;
- Das Gesamtwurfgewicht der sowjetischen ballistischen Raketen verringert sich um 50%.
Zwar wird im Entwurf des START-Vertrages auf weitere radikale Maßnahmen zur Reduzierung der Gefechtsköpfe pro Trägermittel verzichtet (DeMIRVing), doch werden zumindest erste, wichtige Schritte unternommen. Eine weitergehende Restrukturierung soll den START-II-Verhandlungen überlassen bleiben.
Bezüglich luftatmender Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) sieht der Vertragsentwurf folgende Regelungen vor:
Bei START soll jeder schwere Bomber als ein Trägersystem (auf die Obergrenze von 1 600) angerechnet werden. Anders ist es bei der Anrechnung seiner mitgeführten Bewaffnung auf die Gefechtskopfobergrenze (von 6 000). Frei fallende Bomben und Kurzstreckenabstandsflugkörper (SRAM) werden pro Bomber als ein Gefechtskopf gezählt und zwar gleichgültig, wieviele dieser Systeme der Bomber tatsächlich mitführt. Luftgestützte Marschflugkörper (ALCM, Reichweite größer als 600 km) hingegen werden prinzipiell als individuelle Gefechtsköpfe gerechnet. Allerdings wird bei den ersten 150 amerikanischen und den ersten 180 sowjetischen ALCM-Bombern jeweils nur eine bestimmte Anzahl von ALCM in START verrechnet: US-Bomber werden mit 10 ALCM (10 Gefechtsköpfe) verrechnet, dürfen aber bis zu maximal 20 ALCM mitführen, sowjetische Bomber werden mit 8 verrechnet, dürfen aber maximal 16 mitführen. Bei allen nachfolgenden Bombern (also z.B. dem 151. US-Bomber) wird jeder ALCM als ein Gefechtskopf auf die Obergrenze von 6 000 angerechnet. Aufgrund dieser Zählkriterien werden strategische Bomber unter dem START-Regime »bevorzugt« behandelt, d.h. die von ihnen mitgeführten Nuklearwaffen werden nicht voll auf die Obergrenze von 6 000 Gefechtsköpfen angerechnet. Daraus folgt, daß der De-facto-Bestand an Nuklearwaffen (also an Gefechtsköpfen) höher liegen wird als 6 000, denn die Masse der von Bombern getragenen Waffensysteme wird nicht erfaßt. Um wieviel höher die Gefechtskopf(Waffen-)arsenale über dieser Grenze liegen, ist abhängig von der zukünftigen Rüstungspolitik der Vertragspartner, insbesondere davon, wieviel ALCM-Bomber und wieviel mit Bomben und SRAM ausgerüstete Bomber beibehalten oder beschafft werden. Entsprechend stark oder weniger stark ausgeprägt ist die Verlagerung auf luftatmende Offensivsysteme, wenn man Gefechtsköpfe als die relevante Meßlatte nimmt. Diese Zählregeln bieten erhebliche Anreize, einen größeren Anteil des Gesamtpotentials (gemessen in Gefechtsköpfen) auf Bombern zu dislozieren, und dürfte zu einer Schwerpunktverlagerung insbesondere bei den sowjetischen Angriffssystemen führen (s. Schaubild 3).
V. Das vorgesehene Verifikationsregime
Die sicherheitspolitische Bedeutung eines START-Abkommens ist aber nicht nur auf die Begrenzungen der nuklearen Trägersysteme und Gefechtsköpfe und der damit ansatzweise begonnenen Restrukturierung der Nuklearpotentiale zurückzuführen, sondern auch auf das in seiner Art bisher einmalige Verifikationsregime.
Die Einhaltung der Bestimmungen des START-Vertrages soll durch eine Kombination von:
- nationalen technischen Mitteln (NTM) und
- kooperativen Maßnahmen (z.B. Vor-Ort-Inspektionen)
überwacht werden. Kooperative Maßnahmen und nationale technische Mittel sollen sich dabei gegenseitig unterstützen und in ihrer Wirksamkeit erhöhen.
Mit den Verifikationsmaßnahmen des START-Vertrages muß vor allem sichergestellt werden, daß die numerischen Begrenzungen der Trägersysteme und der von ihnen mitgeführten Waffensysteme/Gefechtsköpfe, sowie einige technische Eigenschaften dieser Systeme (z.B. Wurfgewicht, Zuladung) überprüft werden können.
1. Verifikation der Trägermittel
Die numerische Überprüfung der in Raketensilos dislozierten ICBM und der auf Unterseebooten dislozierten SLBM ist vergleichsweise einfach und kann primär mit nationalen technischen Mitteln erfolgen. Das gleiche gilt für schwere Bomber.
Bei Bombern gibt es allerdings zwei Problemfelder:
- START erlaubt die Umwandlung einer bestimmten Anzahl schwerer, Nuklearwaffen-tragender Bomber (vermutlich 107) in Flugzeuge für ausschließlich konventionelle Einsätze (konventionelle Bomber, Aufklärer, Tanker etc.). Da sie vom Vertrag nicht erfaßt werden, müssen sie sich sichtbar unterscheiden von nuklear einsatzfähigen schweren Bombern. Aus diesem Grund sollen die umgewandelten schweren Bomber inspiziert werden, um eindeutige Unterscheidungsmerkmale festzustellen. Darüberhinaus werden diese konventionellen Bomber auf gesonderten Basen disloziert, auf denen keine Nuklearwaffen gelagert werden dürfen. Diese Bestimmung soll durch Vor-Ort-Inspektionen überwacht werden können, obwohl dafür vermutlich auch NTM ausreichen.
- In einer politisch bindenden Erklärung wird sich die UdSSR verpflichten, ihren vom START-Vertrag nicht erfaßten Backfire-Bombern keine interkontinentale Reichweite zu geben. Zwar ließe sich eine Nachrüstung mit Luftbetankungsstutzen durch NTM nicht überprüfen, wohl aber das für den operativen Einsatz notwendige Luftbetankungstraining und der Ausbau der sowjetischen Tankerflotte.
Wesentlich komplexer ist die Überwachung der Begrenzungen bei mobilen Interkontinentalraketen, da diese ihre Position ständig ändern können und deshalb schwer zu zählen sind. In Ergänzung zu NTM und Vor-Ort-Inspektionen sind deshalb vorgesehen:
- eine ständige Überwachung der Zugänge zu bestimmten Produktionsstätten für mobile ICBM (perimeter/portal monitoring);
- Maßnahmen, die die Dislozierung und Bewegung mobiler ICBM regeln.
Die ständige Überwachung der Zugänge zu den Produktionsstätten mobiler Interkontinentalraketen dient – ähnlich wie im INF-Vertrag – dem Ziel, die Anzahl der produzierten mobilen Raketen festzustellen. Soll die Produktion heimlich vergrößert werden, müßte insgeheim eine komplette neue Infrastruktur aufgebaut werden.
Um die Verifikation dislozierter, mobiler ICBM durch nationale technische Mittel zu verbessern, unterliegen auch ihre Dislozierung und Bewegung bestimmten Regeln. Diese kooperativen Maßnahmen sehen vor, jeweils maximal 10 straßenmobile Systeme in einem 25 qkm großen Gebiet in jeweils einem Unterstand zu stationieren. Operationen von straßenmobilen Systemen sind auf Dislozierungsgebiete von jeweils 125 000 qkm beschränkt. In diesen größeren Dislozierungsgebieten darf sich beispielsweise zu Trainings- und Testzwecken jederzeit nur ein kleiner Prozentsatz der straßenmobilen Systeme befinden. Ein größerer Prozentsatz dieses Potentials darf sich hier zeitlich begrenzt aufhalten, um das Verteilen und Auflockern im Gelände zu üben. Eine Auflockerung des Gesamtpotentials in den Dislozierungsgebieten ist nur in akuten Krisensituationen erlaubt.
Vor-Ort-Inspektionen in den Stationierungsgebieten sollen nach Rückkehr aus den größeren Dislozierungsgebieten sicherstellen, daß der Umfang des Potentials nicht heimlich vergrößert wurde. Auch Standardinspektionen mit kurzer Ankündigungszeit sind hier vorgesehen. Sechsmal im Jahr dürfen die Amerikaner von den Sowjets außerdem verlangen, ihre straßenmobilen Systeme aus ihren Unterständen zu ziehen, um mit Satelliten überprüfen zu können, ob jeweils nur eine Abschußvorrichtung pro Unterstand vorhanden ist.
Die USA haben darüber hinaus vorgeschlagen, beiden Seiten das Recht einzuräumen, hin und wieder einen Rückruf aller aufgelockert dislozierten mobilen Systeme in ihre Stationierungsgebiete verlangen zu können. In Vor-Ort-Inspektionen eines auszuwählenden Stationierungsgebiets würden dann die dort vorhandenen Systeme gezählt. Gleichzeitig würden Satelliten die Dislozierungsgebiete nach illegalen mobilen Systemen absuchen. Diese Kombination von Satellitenaufklärung der größeren Dislozierungsgebiete und Vor-Ort-Inspektionen in einem ausgewählten Stationierungsgebiet soll vor einer heimlichen Dislozierung zusätzlicher Systeme abschrecken. Ähnliche Regelungen sind für schienenmobile Systeme vorgesehen.
2. Verifikation der Waffensysteme/Gefechtsköpfe
Bei ballistischen Raketen beginnt die Verifikation damit, daß die vereinbarte maximale Anzahl der Gefechtsköpfe, die einzelne ballistische Flugkörper tragen können durch NTM (Beobachtung der Raketentestflüge) und Vor-Ort-Inspektionen überprüft wird. In Ergänzung zu diesen Maßnahmen ist es nach START verboten, existierende Raketentypen mit mehr Gefechtsköpfen zu testen, als vereinbart wurde.
Mit diesen Maßnahmen läßt sich außerdem auch überprüfen, ob
- die UdSSR das Gesamtwurfgewicht ihres ballistischen Potentials halbiert und ob
- das Verbot neuer Typen ballistischer Raketen mit mehr als 10 Gefechtsköpfen
- sowie das Verbot neuer schwerer ICBM
eingehalten wird.
Bei Bombern muß aufgrund der unterschiedlichen Verrechnung der von ihnen mitgeführten Waffensysteme vor allem unterschieden werden, welche Bomber Marschflugkörper mitführen können und welche nicht. Dies muß sich an strukturellen/konstruktiven Unterschieden festmachen lassen. Außerdem ist anzunehmen, daß mit Ausnahme der Bomber, die niemals mit ALCM getestet wurden, alle schweren Bomber durch Vor-Ort-Inspektionen nach kurzer Ankündigung überprüft werden können.
Darüber hinaus muß kontrolliert werden, ob die ALCM-Bomber nicht doch mehr als die erlaubten 20 (USA) bzw. 12 (UdSSR) Marschflugkörper tragen können. Hierzu wird in Vor-Ort-Inspektionen überprüft werden, wieviel Vorrichtungen für externes und internes Mitführen von ALCM an einem Bomber vorhanden sind. Solche Inspektionen würden auch die Unterscheidung von ALCM-Bombern und anderen Bombern erleichtern. Sowjetische Bomber der Typen Blackjack und Bear-H wurden bereits auf diese Weise inspiziert.
VI. Bewertung
Im Vergleich zu den anfänglich geäußerten, sehr weitgesteckten Erwartungen hätte ein START-Vertrag keinesfalls radikale Reduzierungen und Umstrukturierungen bei strategischen Offensivsystemen zur Folge:
Mit der Reduzierung des Wurfgewichts, der nuklearen Trägersysteme und der Gefechtsköpfe geht ein DeMIRVing allenfalls ansatzweise einher, d.h. der »richtige« Weg wird mit der Halbierung des Wurfgewichts und des SS-18-Potentials allenfalls angedeutet, aber noch nicht wirklich beschritten. Dies soll erst in den nachfolgenden START-II-Verhandlungen geschehen. Dabei wird auf Seiten der US-Administration daran gedacht, ein Verbot mobiler ICBM mit MIRV-Gefechtsköpfen als Vorstufe für ein generelles MIRV-Verbot bei ICBM zu verhandeln. Die UdSSR wird hier vermutlich vor allem die SLBM mit MIRV-Gefechtsköpfen ins Visier nehmen und daneben eine stärkere Begrenzung von ALCM anstreben. Der Anteil der Gefechtsköpfe auf Marschflugkörpern und Bombern nimmt zu; eine Schwerpunktverlagerung von schnell zu langsam fliegenden Systemen findet – wenn auch in bescheidenem Maße – statt. Betrachtet man das Wurfgewicht, dürfte sich diese Verlagerung sogar sehr viel deutlicher darstellen.
Ein gewisser stabilisierender Effekt wäre mit dem START-Vertrag also sicher zu erwarten, auch wenn größere Fortschritte in diese Richtung einem START-II-Vertrag überlassen bleiben. Daneben dürfte aber insbesondere das Verifikationsregime des START-Vertrages die militärische Transparenz erhöhen und die Vertrauensbildung zwischen den beiden Supermächten stärken.
VII. Aktueller Verhandlungsstand
Im Laufe des Jahres 1990 gelang es, einige der umstrittensten Fragen zu klären:
- Seegestützte nukleare Marschflugkörper (Reichweite mehr als 600 km) fallen nicht unter die START-Begrenzungen, sondern werden durch politisch bindende Erklärungen erfaßt. Dabei darf die Zahl der dislozierten SLCM 880 nicht überschreiten.
- Auch der sowjetische Backfire-Bomber wird in einer bindenen politischen Erklärung gesondert behandelt, in der sich die UdSSR verpflichtet, diesem Mittelstrecken-Bomber keine interkontinentale Reichweite zu verschaffen (Verzicht auf Betankungsfähigkeit in der Luft).
- Auch das Problem der Nicht-Umgehungsklausel ist wohl gelöst: Die Sowjetunion stimmte zu, daß die USA und GB ihre nukleare Zusammenarbeit aufrechterhalten, solange dies nicht das strategische Gleichgewicht verändere.
Mit dem für Februar 1991 geplanten Gipfeltreffen wurde auch die Unterzeichnung des START-Vertrages auf Juni/Juli dieses Jahres verschoben, ohne daß bisher über ein konkretes Datum gesprochen wurde. Von amerikanischer Seite wird dies primär mit den noch zu lösenden »technischen Schwierigkeiten«, die der Unterzeichnung des START-Vertrages im Wege stehen, begründet. Zu den nach wie vor offenen Fragen gehören:
- auf welchen ballistischen Flugkörpern wieviele Gefechtsköpfe reduziert werden dürfen (»downloading«);
- welche Ausnahmen es hinsichtlich des allgemeinen Verschlüsselungsverbots von Telemetriedaten geben soll; und
- wann eine neue Rakete lediglich eine Modifizierung eines vorhandenen Systems darstellt und wann es sich um eine Rakete neuen Typs handelt.
Insbesondere die Fragen eins und drei bedürfen aus amerikanischer Sicht der sorgsamen Klärung, da sie die kurzfristige Aufwuchsfähigkeit vor allem des sowjetischen strategischen Potentials bestimmen und deshalb für den Fall einer Vertragskündigung besonders kritisch sind.
Die Außenminister der beiden Supermächte haben auf ihrem jüngsten Treffen Anfang Juni beschlossen, den Verhandlungsprozeß zu intensivieren. Aus diesem Grund wollen sie die Anzahl der Experten, die die technischen Details aushandeln sollen, vergrößern und die Abfolge der einzelnen Verhandlungsrunden verkürzen. Angesichts der noch offenen substantiellen Probleme zeigten sich beide Minister aber auch skeptisch, eine Einigung so rechtzeitig herbeiführen zu können, daß eine Vertragsunterzeichnung noch im Juli erfolgen könnte.
Joachim Rohde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen.