W&F 1993/4

Die UNO reformieren

Stand der Diskussion

von Steffen Rogalski

Was die UNO so faszinierend macht, ist ihr Nimbus, der auf die Charta zurückgeht und auf die Tatsache, daß es eine so große, ausdifferenzierte zwischenstaatliche Organisation überhaupt gibt. Mit der UN-Charta wurde ein Völkerrecht mit universeller Geltung geschaffen, das ein internationales Gewaltverbot, die Achtung der Menschenrechte und menschenwürdige soziale und wirtschaftliche Verhältnisse als Rechtsgrundsätze und Ziele festschrieb.

Die UNO ist aber eine zwischenstaatliche Organisation, und als solche ist sie in einem nationalstaatlich und bündnismäßig dominierten, interessen- und machtmäßig ausgerichteten internationalen System in nur sehr geringem Maß ein selbstständiger Akteur, d.h. sie bekommt (im wesentlichen) als Organisation ihre Macht nur von ihren Mitgliedstaaten geborgt. Sie folgt – insbesondere im Sicherheitsrat – den Interessen der Mächtigen, der dominierenden Akteure im internationalen System und in ihrer Organisation, die auch den Großteil ihres Haushaltes bestreiten. Jedes Gerede von »der Unfähigkeit der UNO« bei der Bewältigung internationaler Krisen und Konflikte greift meistens zu kurz, weil es nicht die dazugehörigen finanziellen und personellen Voraussetzungen und organisatorischen Strukturen thematisiert und die Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten einbezieht.

Weitere Bedingungen, die in Überlegungen über die Reform der Vereinten Nationen einbezogen werden sollten, sind ihr Charakter als zwischenstaatliche (intergovernmental) Organisation (d.h. die Dominanz der Regierungen in ihrer Politikgestaltung) und ihr Demokratiedefizit, besonders im Sicherheitsrat. Die UNO ist eine Organisation, die den Regierungen ihrer Mitgliedstaaten viele Möglichkeiten des Agierens im Feld der internationalen Sicherheitspolitik eröffnet, ohne dafür effektive Regelungen zur Kontrolle ihres Handelns zu haben. Die Charta der Vereinten Nationen dient eher der Verregelung von Macht statt der Machtkontrolle und der Machtbindung an Prinzipien wie Demokratie und Gerechtigkeit. Auch diese Überlegungen über die Chancen und Gefahren einer weiteren Multilateralisierung der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik unter verstärkter Einbeziehung der UNO müssen bei Konzepten oder konkreten Utopien über zukünftige sicherheitspolitische Systeme einbezogen werden.

Letztlich geht es um die Tragfähigkeit und Reichweite des friedens- und sicherheitspolitischen Konzeptes der Weltorganisation oder einfacher um die Ausgestaltung der UNO als allgegenwärtiger Weltpolizist (mit erhöhtem militärischen Engagement) oder als Weltfriedensmacht, die es sich zur Hauptaufgabe macht, ein System von Sicherheit zu schaffen, das vor allem die ökonomische und ökologische Sicherheitsdimension aktiv mitgestalten will.

Zwei grundsätzliche Fragen sollten jedoch geklärt werden, um die Realisierbarkeit eines solchen Systems abschätzen zu können: Zum einen sollte Klarheit darüber herrschen, ob innerhalb der UNO ein System umfassender Sicherheit möglich ist und zum anderen, welches Gesamtkonzept von Sicherheit in Zukunft angestrebt wird und welches Gewicht einzelne sicherheitspolitische Mittel (z.B. präventive Diplomatie, peace-keeping, Sanktionen, militärische Zwangsmaßnahmen) darin mittelfristig haben könnten.

Der veränderte Kontext der internationalen Politik in der UNO seit 1988

Der Wandel zwischen 1987/88 und heute ist enorm: Die Veränderungen der internationalen Politik von 1987/88 und insbesondere die Veränderung der Außenpolitik der Sowjetunion in bezug auf die UNO schufen die Möglichkeit zur Kooperation zwischen den Supermächten im Sicherheitsrat und warf die Frage nach der Erweiterung der Sicherheitsbegriffes auf. Eine Diskussion über ein „umfassendes System von Weltfrieden und internationaler Sicherheit“ wurde von der sowjetischen Regierung unter Führung von Michail Gorbatschow vorgeschlagen.1

Mit der Änderung der sowjetischen Außenpolitik und der Überwindung der Blockierung von weiterreichenden Aktivitäten der UN durch die Supermächte wurde der Diskussion um die Reform der Vereinten Nationen neuer »Schwung« verliehen. Seit der Änderung des Klimas zwischen den Supermächten und einer partiellen Kooperation innerhalb der UNO ab 1987-88 wird von einer neuen Bedeutung der UNO auf dem Gebiet der internationalen Friedenssicherung und auch auf anderen Gebieten gesprochen. Die Debatten um die Reform der Vereinten Nationen ist wieder voll entfacht, von der „Wiederentdeckung der Vereinten Nationen“ (Doeker/ Volger) ist die Rede, eine „Weltorganisation der Dritten Generation“ (Bertrand) wird gar gefordert.

Ein zweiter Einschnitt für die neuere Geschichte der UNO war der sog. zweite Golfkrieg, in dem der Sicherheitsrat eine internationale Gewaltanwendung von einigen seiner Mitgliedstaaten (insbesondere der USA) legitimierte.

Die Vereinten Nationen haben durch die »Wiederherstellung des Völkerrechts« im zweiten Golfkrieg ihren Ruf als neutraler Konfliktschlichter in den Entwicklungsländern beschädigt, den sie sich mit den international anerkannten UN-Friedenstruppen erworben hatten. Der Sicherheitsrat der VN hat sich die Handlungsmöglichkeiten zum Krisen- und Konfliktmanagement aus der Hand nehmen lassen, und sein größter Fehler war, sich in der Resolution 678 vom 29. November 1990 nicht selbst weitere Schritte vorzubehalten, sondern eine pauschale Ermächtigung für Mitgliedstaaten auszusprechen.

Jedoch hat der zweite Golfkrieg auch dazu beigetragen, die Forderungen nach einer Reform der UNO zu verstärken. Diese Debatte ist sichtbarstes Zeichen eines globalen Unbehagens, daß sich nach dem Ende des Kalten Krieges eine unipolar, durch die USA (und andere Industriestaaten) dominierte Welt verfestigt. Die Reform der UNO böte eher die Chance einer allseitigen Beteiligung an der Gestaltung der »neuen Weltordnung«. Die Forderungen, die nach dem »zweiten Golfkrieg« in bezug auf die Reform der UNO (insb. von der Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltfrieden2 und auch von Parteien, insb. SPD3) erhoben wurden, können in vier Feldern zusammengefasst werden:

  • Reform der Charta,
  • Reform der institutionellen Regelungen innerhalb und zwischen den Organen der UNO,
  • und Finanzierungs- und Organisationsreform sowie
  • eine Erweiterung der Rolle und Funktionen der Vereinten Nationen, in den Bereichen Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik sowie Menschenrechts- und Umweltschutzpolitik, usw.. Die Forderungen – die hier selbstverständlich nicht vollständig aufgelistet werden können – zielen ihrem Inhalt nach hauptsächlich auf die genannten Politikfelder und reichen von Vorschlägen wie:
  • Demokratisierung des Sicherheitsrates (z.B. durch die Repräsentanz aller Staatengruppen und die Einschränkung des Vetorechts) und Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten von nationalen Parlamenten und nationalen und internationalen Bürgerinitiativen innerhalb des UN-Reformprozesses4,
  • Stärkung der Rolle des Generalsekretärs und des Sekretariats (z.B. in der Frage präventiver Diplomatie und Friedenssicherung),
  • Stärkung der Rolle des Internationalen Gerichtshofes (und Einführung eines Internationalen Strafgerichtshofes),
  • Erweiterung der Aufgaben des Sicherheitsrates auch auf Felder nicht-militärischer Sicherheitspolitik (im Sinne eines umfassenderen Sicherheitsbegriffes),
  • Erhöhung der friedensbewahrenden und konfliktschlichtenden Kapazitäten der UNO sowie ständigen UNO-Streitkräften (nach Generalsekretär Boutros-Ghali als nationale Kontingente, die aus den Militärhaushalten der Mitgliedstaaten zu finanzieren sind und der UNO durch spezielle Abkommen unterstellt werden),
  • der Einrichtung eines Waffenexportregisters und UN-Agenturen zur Überwachung regionaler Sicherheit (Frühwarnsysteme) 5

bis hin zu:

  • verstärkter Koordination und Kooperation mit anderen internationalen Organisationen des UN-Systems (GATT, IWF und Weltbank) und die Einrichtung von internationalen Fonds für Umweltschutz und Grundbedürfnisbefriedigung,
  • einer kompetenzmäßigen Stärkung der UN-Organe (Generalsekretär und Sicherheitsrat) und einer damit verbundenen Reform der UN-Charta einerseits und der Neugestaltung des gesamten UNO-Systems im Wirtschafts- und Sozialbereich andererseits.6

Damit verbunden ist eine erhebliche Änderung des Politikansatzes der UNO insgesamt hin zu einer mehr aktiven und eingreifenden Rolle, die eine erhebliche Änderung des auf nationaler Souveränität beruhenden Staatensystems notwendig machen würde.

Ist dies überhaupt realistisch? Entspricht dies den Grundsätzen der Charta, d.h. der Satzung der UNO? Ist dort ein erweitertes Verständnis von Sicherheit und Frieden überhaupt angelegt oder welche Möglichkeiten bieten sich noch?

Der Friedens- und Sicherheitsbegriff der Charta der VN

Das Hauptziel der VN, das den anderen übergeordnet ist, ist die Wahrung des Weltfriedens: in der Charta taucht am häufigsten die Formulierung „maintenance of international peace and security“ auf. Einundfünfzigmal erscheint in der UN-Charta ein Begriff, der in der Nähe zum Hauptwort »Frieden« steht (neben Frieden selbst z.B. peaceful, peaceloving, international peace oder auch threat to peace, breach of the peace usw.) auf.7 Der Frieden ist aber an keiner Stelle von den Vätern der Charta definiert worden, und die Interpretationen von Völkerrechtlern und Politikwissenschaftlern dazu sind recht unterschiedlich. Aus der Präambel läßt sich ein weiter Friedensbegriff im Sinne gutnachbarlicher Beziehungen ableiten, ebenso wie aus den Abschnitten zu Wirtschafts- und Sozialfragen. In Art. 73 wird davon gesprochen, daß ein „System des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ durch die Charta geschaffen wurde. Aus dem Gesamtzusammenhang der Charta läßt sich ersehen, daß keinesfalls ein negativer Friedensbegriff (d.h. Abwesenheit von Krieg) der Charta zugrunde liegt, sondern aufgrund eines allgemeinen Gewaltverbotes auch „Bedrohungen des Friedens“ und sonstige „Friedensbrüche“ (insb. Art. 39) geahndet werden können. Dies weist auf ein sehr breites Verständnis von Frieden und Friedenssicherung hin. Die wichtigste Aufforderung an die Staaten ist, von Bedrohungen und Gewalt Abstand zu nehmen und Möglichkeiten zur friedlichen Konfliktlösung zu ergreifen, wobei sie sich auch den Vereinten Nationen bedienen können (Art. 1, Ziff.1 , Art. 2, Ziff. 3,4,5, und Kap. VI). Der Ausdruck „Weltfrieden und internationale Sicherheit“ hat – innerhalb einer engen Interpretation der Charta – nur tautologischen Charakter, denn letzterer Bestandteil wird nirgendwo als eigenständiger Begriff gebraucht.

Die Charta enthält zwar viele Elemente eines positiven Friedensbegriffes, aber innerhalb einer engen Interpretation der Charta sind auch – sowohl in der Präambel als auch in Art.1 – Gerechtigkeitsprinzipien dem Ziel der Friedenssicherung nachgeordnet, d.h. die Friedenssicherung hat Vorrang vor Gerechtigkeit und Rechtsansprüchen.8 (Das heißt nicht unbedingt, daß sie nebenrangig oder niederrangig sind.)

Nach einer erweiterten Interpretation des positiven Friedensbegriffes der UN-Charta, könnten aber im Sinne des Ziels „der Stärkung des Friedens durch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Staaten“ sich viele Maßnahmen begreifen lassen, die gewohnheitsrechtlich von einem Organ der UN im Sinne der Charta verfolgt werden. Dieses wird daraus abgeleitet, daß die Mehrzahl der Vorschriften der Charta – mit einigen Ausnahmen – prozeduraler Art sind oder dazu dienen, den Organen der VN Funktionen zuzuweisen bzw. die Funktionen der Organe untereinander abzugrenzen. Diese Vorschriften „verweisen gleichzeitig teilweise ausdrücklich (Art.14, 24 Abs.2, 52, 76, 104 und 105) oder indirekt auf die Ziele und Grundsätze, indem sie deren Wortlaut wiederholen (Art. 11, 12, 13, 24 Abs.1, 33-39, 42, 43, 48, 51, 55, 73, 84 und 99). Insofern ist jedes Organhandeln Beleg für die praktische Anwendung und Interpretation der Ziele der Charta.“ 9

Das heißt, daß sich aus einer lange anhaltenden Praxis ein internationales Gewohnheitsrecht ergeben kann, bestimmte Fragen auch als wichtig für die Erreichung der Ziele der Charta zu interpretieren. Insbesondere die Generalversammlung hat auf die Wichtigkeit der Fragen der Abrüstung, der Dekolonisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung hingewiesen. Das in der UN-Charta vorgesehene System Kollektiver Sicherheit kann auch durch Abrüstungs- und vertrauensbildende Maßnahmen ergänzt werden, usw.usf..

Das Problem dabei ist die umstrittene Bindungswirkung der interpretierenden Resolutionen und Deklarationen der Organe der UN. Sie sind nicht rechtserzeugend, sondern entsprechen eher einer politischen Selbstverpflichtung. Eine größere rechtliche Bindungswirkung ergibt sich allerdings dann, wenn ein bestimmtes Handeln in dauerhafter Form als internationales Gewohnheitsrecht übergeht oder durch den Konsens vieler Staaten über die Bindungswirkung einer Resolution festgelegt haben. Um den Inhalt solchen internationalen Gewohnheitsrechts rechtsverbindlich zu machen, stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: a) die nochmalige Wiederholung in Konventionen, b) die Festschreibung in (möglichst zu ratifizierenden) Verträgen oder c) eine Chartaänderung (bzw. -revision oder -ergänzung).10

Blauhelme – Produkt einer gewohnheitsrechtlichen Auslegung der Charta

Zu solchen Maßnahmen, die einer Interpretation der Charta entsprechen und gewohnheitsrechtlich etabliert sind, gehört die Einrichtung von Friedenstruppen zur Friedenssicherung (maintenance of peace and international security), die als Hilfsorgan der Organisation (sog. Blauhelme) operieren und dazu bestimmt sind, „die Ausweitung eines friedensbedrohenden Konfliktes zu verhindern, die Verwirklichung vereinbarter Konfliktlösungen zu erleichtern und die Beziehungen zwischen den Streitparteien zu stabilisieren, ohne jedoch dabei die Rechte der Streitparteien zu berühren. Je nach Lage im Spannungsgebiet umfaßt ihr Einsatz folgende Aufgabenbereiche: »observation« (Überwachung von Abkommen, Beobachtung, Berichterstattung, Untersuchung, Mittlerfunktion), »interposition« (Pufferbildung, Blockierung), »maintenance of law and order« (Befriedung innerstaatlicher Konflikte, Herstellung von Ruhe und Ordnung, Polizei- und Verwaltungsaufgaben).13 Stabilere Bedingungen in Somalia hätte man mit weniger militärischen und mehr zivilen Mitteln »billiger haben können«.

Ausblick und Reaktionsmöglichkeiten

Wenn die Prognose stimmt, daß in Zukunft die Anzahl der in den Entwicklungsländern aufbrechenden Konflikte weiter zunehmen wird, dann werden zuerst einmal jetzt die Maßnahmen gestärkt werden müssen, die der Generalsekretär unter „preventive diplomacy“ zusammenfaßt: Vertrauensbildende Maßnahmen, Fact-finding, Frühwarnung, präventive Truppenstationierung und humanitäre Hilfe sowie die Etablierung von demilitarisierten Zonen.

Dies ist aber nur ein Teil der Maßnahmen, die in der Agenda for Peace vorgesehen sind, um eine Friedenssicherung zu gewährleisten. Im Hintergrund stehen militärische und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen (Sanktionen) und politische und rechtliche Maßnahmen, wie z.B. die Stärkung der Autorität des Internationalen Gerichtshofes.14

Die militärischen Zwangsmaßnahmen machen zwar innerhalb der Agenda für den Frieden nur in direkter Benennung drei Abschnitte von insgesamt 86 Abschnitten (paragraphs) aus, aber wegen der Beharrlichkeit, mit der der Generalsekretär ständige Truppen nach vertraglich mit der UNO fixierten Beistellungsabkommen (stand-by arrangements nach Art. 45 UN-Charta) fordert und die Erweiterung des peace-keepings ausdrücklich miteinschließt, weist darauf hin, daß das System als ein Ganzes gesehen werden soll. Das heißt, das letztlich der Gedanke glaubwürdiger militärischer Abschreckung seitens der VN etabliert werden soll15, um Konfliktparteien notfalls mit der Androhung militärischer Gewalt dazu zwingen zu können, einer Konfliktschlichtung nach Kapitel VI der UN-Charta o.ä. zuzustimmen oder positiv: sie in jeder möglichen Konfliktlage in Richtung auf eine adäquate Maßnahme von Konfliktschlichtung, Konfliktverregelung, Schiedsspruch oder Konfliktbeilegung mit Hilfe von neutralen Beobachtern ö.ä. hinweisen zu können.

Die Wahl der sicherheitspolitischen Mittel wird auch in Zukunft von Fall zu Fall sehr schwankend sein. Dementsprechend unterschiedlich – und zum Teil widersprüchlich – sind auch die Schwerpunkte, die der Generalsekretär Boutros-Ghali in zahlreichen Artikeln seit Ende 1992 gesetzt hat.

In der ersten Hälfte von 1992 stiegen die Kosten für die friedenserhaltenden Maßnahmen um das Vierfache von 700 Mio. $ auf 2,8 Mrd. $, was die UNO in arge Finanznöte brachte.16 Ende 1992 waren die Forderungen Boutros-Ghalis nach schnellen Einsatztruppen und einem erweiterten peace-keeping, bei dem UNO-Truppen zur Verteidigung ihres Auftrages Waffengewalt anwenden dürfen, in aller Munde. Die UNO-Missionen gehen aber weit über die Herstellung von Sicherheit und Ordnung oder die Trennung von Kriegs- oder Bürgerkriegsparteien hinaus. So fordert der Generalsekretär den Aufbau einer verbesserten Kapazität für Gute Dienste, vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung, Forschung und Analyse sowie den Ausbau der Frühwarnung und eine Verstärkung der Planungs- und Führungsfähigkeit des Sekretariats auf dem Gebiet der Friedenssicherung. Bei den Kosten, die friedenssichernde und friedensschaffende Aktionen der UNO verursachen, müssen auch einfach in einer umfassenden Weise die Verfahren und Methoden der friedlichen Konfliktbeilegung (nach Kapitel VI der UNO-Charter) wieder voll zur Geltung gebracht werden. Schließlich gibt es zur Zeit etwa 70 potentielle oder faktische Konflikte, die ihrer Regelung oder »Bearbeitung« harren. In Reaktion auf die gestiegenen Anforderungen im Bereich des peace-keeping, wo es zum Teil auch auf eine schnelle Reaktionsfähigkeit der UNO ankommt, bevor ein Konflikt eskalieren kann, beschloß die Generalversammlung mit der Resolution 47/217 die Einrichtung eines Reservefonds für solche Aufgaben in Höhe von 150 Mio. $. Solche einzelnen Maßnahmen sind immer im Gesamtzusammenhang des angestrebten Konzeptes für die internationale Sicherheit zu sehen. Die UNO und insbesondere ihr Generalsekretär streben ein effektives Krisenmanagement an, bei dem es schließlich darum gehen wird, ein optimalen Mix von politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen zu finden. Dazu wird eine organisatorische Umstrukturierungen und Neuorganisation vieler Bereiche notwendig sein, an der die grundsätzliche Orientierung und Richtung des sicherheitspolitischen Systems der UNO ablesbar sein wird.

Organisatorische Reformen

Die bisherigen Reformen, die in organisatorischer Hinsicht erfolgt sind, beziehen aber nicht nur die Erweiterung der Aufgaben und Funktionen von Friedenstruppen ein (von denen es mittlerweile 14 bis 15 gibt, wobei die UNO insgesamt eine Truppenstärke von 55.000 – 60.000 erreichte und mit der Somalia-Aktion auf die Personalgrenze von 90.000 »zumarschierte«), sondern eben auch andere Missionen, die in das Gebiet der präventiven Diplomatie fallen, nur sind diese nicht so bekannt.

Seit fünf Jahren gibt es das Frühwarn- und Fact-finding-Instrument des Office for Research and the Collection of Information (ORCI), das sich aber nur partiell bewährt hat. Es soll dort helfen, wo regionale Sicherheitsorganisationen (wie z.B. die KSZE) nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen, um Aufgaben der präventiven Diplomatie erfüllen zu können.17 Der Generalsekretär schätzt, daß sich etwa 20% seiner Arbeit auf die vorbeugende Diplomatie konzentrieren wird.18

Zu den nennenswerten Neuerungen innerhalb der UN gehört auch die Bildung eines Departement of Humanitarian Affairs (DHA) des Sekretariats der UN durch den Generalsekretär mit Wirkung vom 1. April 1992, in der die bisherige Organisation der Katastrophenhilfe (UNDRO – Office of the United Nations Disaster Relief Organisation) und andere mit Nothilfemaßnahmen befaßten Abteilungen des Sekretariats aufgingen. Dies alles soll zur Straffung und besseren Koordination – auch mit anderen UN-Organisationen (z.B. WHO, UNHCR, UNDP) und auch internationalen NGOs (insb. IKRK) – dienen. Gerade der Fall Jugoslawiens hat gezeigt, wie wichtig eine solche Stelle sein kann.

Dieses Feld deutet auch schon auf die Erweiterung des Verständnisses von Sicherheit im UN-Kontext und auf die Zunahme der Bedeutung von nicht-militärischen Bedrohungen für die Sicherheit im Nord-Süd-Verhältnis hin. Zu diesen Bedrohungen zählt Boutros-Ghali in seiner Agenda for Peace eine »bunte Mischung« von Faktoren von unkontrolliertem Bevölkerungswachstum, Verschuldung, weltweiter Armut und Migration über ökologische Probleme wie das Ozonloch bis hin zu den bewaffneten Konflikten unserer Zeit.19 Seine Schilderung, die auf ein erweitertes Verständnis von Frieden und internationaler Sicherheit hindeutet, zeigt m.E. zwei Grundsätze: 1. Nicht-militärische Bedrohungen können gewaltmäßige Konsequenzen haben und gehören deswegen zum Tätigkeitsfeld der VN. 2. Die direkten Aktivitäten der Friedenssicherung sind als vorrangig anzusehen, denn Frieden und Sicherheit können als Grundvoraussetzung für ein weiteres Handeln zum Beseitigen von Gewaltursachen gesehen werden.

Die Debatte um die Reform der UNO wird sich aber (mit der für 1995 vorgesehenen »Agenda für Entwicklung«) mittelfristig wahrscheinlich auf ökonomische und soziale Problematiken konzentrieren, deshalb wird es in Zukunft immer notwendiger werden, alternative Vorstellungen für ein erweitertes Verständnis von Sicherheit einzubringen.

Wie könnte ein alternatives System kollektiver Sicherheit aussehen?

Maßnahmen und Grundrisse eines Systems umfassender Sicherheit innerhalb der VN müßten folgende Bereiche umfassen:

  1. Politische und rechtliche Sicherheit

    • Stärkung der Menschenrechtsinstitutionen
    • Verbesserung des Minderheitenschutzes
    • Stärkung der politischen Konfliktregelung (Kapitel VI, Agenda for Peace)
    • Stärkung der Einrichtungen für fact-finding und Frühwarnung
    • Stärkung der Internationalen Gerichtsbarkeit
    • präventive Diplomatie, politische Sanktionen
    • Einschränkung und Kontrolle des Waffenhandels
  2. Militärische Sicherheit

    • Kontrolle des Waffenhandels
    • peace-keeping
    • erweitertes peace-keeping
    • Sanktionen im Sinne von Embargos
    • peace-enforcement, peace making
    • post-conflict peace building
  3. Wirtschaftliche und soziale Sicherheit
  4. Katastrophenschutz
  5. ökonomische Nothilfe (versch. Arten)
  6. Verstärkung und bessere Koordination der Entwicklungsaktivitäten
  7. Reformierung der Weltfinanz- und Handelsorganisationen
  8. Verbesserung der Weltflüchtlingsorganisation unter Leitung des UN-Hochkommisariat für Flüchtlingsfragen
  9. Ökologische Sicherheit

    • bessere Ausstattung des Natur- und Katastrophenschutzes
    • bessere Koordination der Umweltpolitiken der Mitgliedstaaten
    • Einrichtungen von besonderen Programmen beim UNEP

Chancen und Gefahren

Boutros-Ghali hat sich in der Agenda for Peace (Rdnr. 85) für einen kontinuierlichen Reformprozess ausgesprochen, dessen erste Phase 1995 zum 50. »Geburtstag« der UNO abgeschlossen sein soll. Allerdings wurde auch kritisiert, daß er sich überwiegend mit Fragen der internationalen Sicherheit beschäftigt hat und die entwicklungspolitischen Fragen vernachlässigte. Deshalb schlug er eine »agenda for development« (Programm für Entwicklungspolitik) vor, die Anfang 1993 von der Generalversammlung in Auftrag gegeben worden ist. Auf die Bretton-Woods-Institutionen (IWF und Weltbank) und das der Reform des Wirtschafts- und Sozialbereiches wird sich die Diskussion (insbesondere seitens der Entwicklungsländer) in den kommenden Jahren konzentrieren. Sollte sich die Schere zwischen zivilem Haushalt der UNO und militärischem Engagement weiter fortsetzen und mit einer weiteren Vernachlässigung der Entwicklungspolitik einhergehen, so wird es schwierig sein, die UNO vor der Bedeutungslosigkeit und vor dem Zerbrechen am Nord-Süd-Konflikt zu bewahren.

Es gibt momentan fast keine substanziellen politischen und rechtlichen Voraussetzungen dafür, daß sich in der Organisation der UN ein wirklich erweitertes Verständnis von Sicherheit als Grundlage ihrer Politik im Nord-Süd-Verhältnis im Sinne einer grundlegenden Reform durchsetzt. Grund: Ein solches System wäre zu teuer und entspräche nicht den Effektivitätsvorstellungen und Interessen der Industriestaaten. – Es bleibt nur die Hoffnung auf die Agenda für Entwicklung und die »Erd-Charta«, die für 1995 anvisiert wird und zu der bereits viele Vorschläge von Nichtregierungsorganisationen und einzelner Wissenschafler vorliegen (Süd-Kommission, Stockholmer Initiative, Nordic Project). Gerade jetzt ist es also wichtig, daß sich solche Vorschläge in der öffentlichen Diskussion »breitmachen«, die längerfristig auf die Integration wirtschaftlicher Entwicklungsziele, Bekämpfung von Konfliktursachen oder auf möglichst präventives, primär zivil geregeltes Konfliktmanagement orientiert sind.

Anmerkungen

1) Siehe insb. Michail Gorbatschow: Realität für eine sichere Welt – Vorschläge für ein effizientes VN-System, in: Günther Doeker/ Helmut Volger (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Vereinten Nationen. Kooperative Weltpolitik und Friedensvölkerrecht, Opladen 1990, 217-229 und: Towards comprehensive security through enhancement of the role of the United Nations, Aide-mémoire der Sowjetunion vom 22. September 1988 (UN-Dok. A/43/692), in: Günther Doeker/ Helmut Volger (Hrsg.), a.a.O. S.230-234. Zurück

2) Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) (Hrsg.) 1991. Gemeinsame Verantwortung in den 90er Jahren; Die Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltordnung, EINE Welt – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden (Saarbrücken: Verlag Breitenbach). Zurück

3) Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1719, Antrag … Reform der Vereinten Nationen, vom 4. Dezember 1991. Zurück

4) Vgl. z.B. Wolfgang Ehrhart: UN-Politik: nicht mehr allein der Exekutive überlassen. Der neue Unterausschuß „Vereinte Nationen/ weltweite Organisationen“ des Deutschen Bundestages. In der Regel ist hierzulande (bis auf die SPD) nur eine kritische Begleitung der internationalen Reformdiskussion (unter Einbeziehung von Expertengremien der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen) zu erkennen. Im englisch-sprachigen (und im skandinavischen) Raum sind solche Diskussionen um die Demokratisierung der Weltorganisation wesentlich weiter fortgeschritten als in Deutschland. Zum Teil wird sogar eine Bürgervollversammlung gefordert, die der Generalversammlung beigeordnet sein soll. Siehe z.B. Hanna Newcombe, Proposals for a People's Assembly at the United Nations, in: Frank Barnaby (Hrsg.), Building a More Democratic United Nations, London 1991, S.83 – 92. Zurück

5) Siehe dazu unter anderem: Robert C. Johansen, Lessons for Collective Security, in: World Policy Journal, Summer 1991, S. 561 – 574 u.a. Siehe dazu auch gesamtbezogen und übersichtlich: Lothar Brock, Die weltpolitsche Bedeutung des Golfkrieges, in: Friedensgutachten 1991, FEST/ISFH/HSFK (Hrsg.), Münster/Hamburg 1991, S.105f und: Konrad Klingenburg/ Erwin Müller, Die UNO im Umbruch, in: Friedensgutachten 1992, FEST/ISFH/HSFK (Hrsg.), Münster/Hamburg 1992. Zurück

6) Zur Einführung vgl.u.a.Hans d'Orville, Die Vereinten Nationen im Umbruch. Gedanken zu einer radikalen Strukturveränderung des Wirtschafts- und Sozialbereichs,in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, 10/91, S.8-10; und: Rüdiger Wolfrum, Die Aufgaben der Vereinten Nationen im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 36/91, 30. August 1991, S.3-13. Zurück

7) Vgl. Detlev Christian Dicke/ Hans-Werner Rengeling, Die Sicherung des Weltfriedens durch die Vereinten Nationen. Ein Überblick über die Befugnisse der wichtigsten Organe, Baden-Baden 1975, S.15f. Zurück

8) Vgl. ebenda, S.19ff. Zurück

9) Rüdiger Wolfrum zu Art. 1 Rdnr.2, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, München 1991, S.7. Zurück

10) Vgl. insb. Meinhard Schröder, Völkerrechtsentwicklung im Rahmen der UN, Rdnr.19ff, in: Rüdiger Wolfrum, Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl., München 1991, S.1023ff. Zur Problematik der Chartarevision siehe zur Einleitung insb. Hans G. Petersmann, Die Revision der Charta der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen, 4/1976, S. 112. Zurück

11) Karin Rudolph: Friedenstruppen, Rdnr.1, in: Rüdiger Wolfrum, Handbuch Vereinte Nationen, a.a.O., S.180. Zurück

12) Hier können nicht ausführlich Bedingungen und rechtliche Grundlagen für humanitäre Interventionen erläutert werden. Vgl. dazu z.B. Christopher Greenwood: Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Europa-Archiv, 48.Jg., Folge 4/1993, S.93-106 und Klaus Otto Nass: Grenzen und Gefahren humanitärer Interventionen. Wegbereiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung?, in: Europa-Archiv, 48. Jg., Folge 10/1993, S.279-288. Zurück

13) Vgl. „Bundeswehr-Soldaten in Mogadischu eingetroffen.“ CDU Politiker fordert Burgfrieden im Parteienstreit, in: Süddeutsche Zeitung, 23.7.93, S.1. Zurück

14) Siehe »Agenda for Peace«, a.a.O., Rdnr. 38, 39 in der dargelegt wird, daß der Sicherheitsrat Staaten empfehlen kann ihre Streitigkeiten durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) beilegen zu lassen oder auch der Generalsekretär und auch andere UN-Organe Rechtsgutachten anfordern können. Weiterhin schlägt Boutros-Ghali vor, daß sich die Mitgliedstaaten verpflichten sollen, die Entscheidungen nach Art. 36 des Statuts des IGHs bedindungslos anzuerkennen. Zurück

15) Dieser Gedanke steckt schon in dem Aufsatz von (Sir) Brian Urquhart, The role of the United Nations in the Iraq-Kuwait conflict in 1990, in: SIPRI-Yearbook 1991: World Armaments and Disarmament, London u.a. 1991, S.617-626. Zurück

16) Vgl. z.B. Boutros-Ghali, Empowering the United Nations, in: Foreign Affairs, Winter 1992/93, S. 95. Zurück

17) So die Interpretation von Jürgen Dedring (Konfliktverhütung. Vorbeugende Diplomatie als neue Aufgabe der Vereinten Nationen, in: der überblick, 4/92, S.22), der im UN-Generalsekretariat tätig ist. Zurück

18) Boutros-Ghali, An Agenda for Peace: One Year Later, in: Orbis, 3/1993, S.325. Zurück

19) »Agenda for Peace« A/47/277 und S/24111 vom 17. Juni 1992, Rdnr. 13. Zurück

Steffen Rogalski ist Doktorand am Fachbereich Politische Wissenschaft. Er ist Mitglied im Vorstand des Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/4 Friedenswissenschaften, Seite