W&F 2002/1

Die Verwundbarkeit der technischen Zivilisation

von Gerhard Knies

Leistungsfähigkeit und Stärke der Industriegesellschaften kommen zustande durch eine hochentwickelte zivile Infrastruktur. Fabriken, Kraftwerke, Kommunikationssysteme, Maschinen, Fahrzeuge, Verkehrswege, Bildungseinrichtungen, Dienstleistungsunternehmen, Ent- und Versorgungssysteme für Nahrung, Wasser und Gebrauchsgüter, Gerichte, Parlamente, Verwaltungen usw. bilden ein hoch entwickeltes und wirkungsvoll vernetztes System zur effizienten Realisierung unserer Lebensbedingungen. Diese zivile Infrastruktur ist äußerst verletzbar. Unser Autor geht ein auf die Stabilitätsbedingungen und Möglichkeiten zum Abbau der Verwundbarkeit.
Die Herausbildung einer zivilen Infrastruktur ist in unterschiedlichen Gesellschaften oder Kulturkreisen verschieden weit fort geschritten. Doch ihr Aufbau findet in Gesellschaften aller Kulturen statt, weltumspannend, kontinuierlich, Tag für Tag. Die technische Zivilisation hält weltweiten Einzug. Elektrifizierung und Alphabetisierung sind ihre Kennzeichen. Satelliten transportieren sie in jeden Winkel der Erde.

Mit der zivilen Infrastruktur verstärken wir unser Handeln, mit ihr versorgen wir unsere Lebensbedürfnisse. Jeder arbeitet zunehmend spezialisierter und effektiver. Jeder profitiert von den Fähigkeiten anderer. Das macht uns leistungsfähig und voneinander abhängig – wie die Organe eines Körpers. Die Fähigkeit zur Selbstversorgung wird schon gar nicht mehr erlernt. Wozu auch? Wir wollen nicht zurück zur Entwicklungsstufe von Einzellern. Die zivile Infrastruktur verstärkt unsere Kommandos, gibt uns alles was wir brauchen, und alles ist in Ordnung.

Doch sie kann auch anders.

Zum Ersten: Wenn sie ausfällt. Ohne Strom steht fast alles still. Verkehrsampeln, Tankstellen, Ladenkassen, Fernsehen, Küche und Computer… Zählen sie einmal nach, was an ihrem heutigen Tagesablauf ohne Elektrizität funktioniert hätte. Ohne die Funktionen der zivilen Infrastruktur ist die Gesellschaft paralysiert.

Zum Zweiten: Wenn sie explodiert. Ich erinnere an Flugzeugabstürze, an den spektakulären Brand in der holländischen Feuerwerksfabrik, an den Unfall von Seveso oder den von Tschernobyl. Wir sind umgeben von Risikopotenzialen. Durch sie ist die Gesellschaft bis zur Letalität verwundbar.

Zum Dritten: Wenn sie zur (Zer-)Störung missbraucht wird. Ich erinnere an den 11. September, an die Milzbrandbriefe. Dann sprechen wir von Terrorismus.

Stabilitätsbedingungen

Eine technologisch hochentwickelte Zivilisation erfordert drei Betriebsvoraussetzungen:

1. Redundanzen und Notsysteme gegen Ausfälle

2. Frühwarnsysteme zur Vereitelung und Containment zur Schadensbegrenzung von Explosionen

3. Abwesenheit von Missbrauch.

Die Betriebsvoraussetzungen 1 und 2 sind im Wesentlichen technischer und organisatorischer Natur. Sie werden mit der zivilisatorischen Entwicklung ebenfalls weiter entwickelt. Der TÜV überprüft sie regelmäßig und sichert die Robustheit gegen betriebsbedingte Störungen wie Materialfehler. Im Verkehr helfen Leitplanken, Knautschzonen, Airbags, Gurte und Rettungshubschrauber bei menschlichem Versagen.

Solche Absicherungen sind jedoch nicht ausgelegt für die Einwirkung militärischer Gewalt. Das würde unerträglich teuer. Hochentwickelte Gesellschaften sind viel zu verwundbar, als dass sie sich den Einsatz militärischer Gewalt im eigenen Lande noch leisten könnten. Sie müssen ihre Konflikte und Rivalitäten anders austragen – es sei denn, sie sind zum Selbstmord bereit (wie Deutschland im 3. Reich). Also durch Verhandlungen oder durch Stellvertreterkriege. So ist der Kalte Krieg zwischen den militärischen Supermächten im Ost-West-Konflikt geführt worden, bis einer aufgegeben hat.

Die Betriebsvoraussetzung 3 betrifft die Intention der Nutzer der zivilen Infrastruktur. Denn sie eröffnet ungeheure Missbrauchsmöglichkeiten für Terrorakte. Die Abwesenheit von Missbrauchsabsichten muss politisch hergestellt werden.

Abwesenheit von Terror durch Beherrschung von Terroristen

Eine Abschreckung von Terroristen ist nicht verlässlich. Anders als im Kalten Krieg ist der Abzuschreckende vorher nicht direkt erkennbar. Ein geschickter Terrorist kann unerkannt in Deckung bleiben – wenn er es denn will. Und was soll einen Selbstmordattentäter noch abschrecken?

Reagieren auf vollzogenen Terror kommt zu spät. Systeme zur Schadensbegrenzung oder zur Tatvereitelung kann jeder halbwegs intelligente Terrorist bei der Auswahl seiner Methoden einkalkulieren und ebenfalls ausschalten.

Nicht unsinnig ist eine Früherkennung von potenziellen Terroristen bzw. von geplanten Terrorakten. Doch eine Sicherheit gibt das nicht. Wenn die Anstrengungen zur Vereitelung von Anschlägen aber als Alternative für Anstrengungen zur Vermeidung terroristischer Motivierungen gesehen werden, könnte das sogar zum Gegenteil führen. Denn die Kunst des Containments von Risiken ist das Trojanische Pferd für dieselben. Ohne die mehrfachen Druckbehälter und Not-Abschaltsysteme wären Kernkraftwerke nicht genehmigungsfähig. Je mehr wir das Restrisiko verkleinern können, desto größere Primärrisiken leisten wir uns.

Abbau der Verwundbarkeit

Einen Rückbau der zivilen Infrastruktur, die Rückkehr zur primitiven und armen Gesellschaft von Selbstversorgern wird es nicht geben.

Eine »Härtung« der Gesellschaft gegen terroristischen Missbrauch ihrer Infrastruktur ist, wie das Beispiel der Milzbrandbriefe zeigt, ein vollständig aussichtsloses Unterfangen. Was nutzt eine Fähigkeit zur Abwehr von Raketen, wenn die eigene Post die Biobomben verteilt? Und selbst wenn wie in diesem Falle die Verteilung von Briefen eingestellt würde, gibt es andere Wege wie z.B. Wasserleitungen.

Andere raten, die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern, also den Prozess der globalen Vernetzung umzukehren. Doch ein Zurück in die nationale Selbstversorgung und Isolation gibt es nicht. Wo beginnt das Ausland? Außerdem: Terror muss nicht von außen kommen. Was würde denn der Abbau internationaler Verflechtungen bringen? Nationale Autarkie – besonders auf dem Sektor von Rohstoffen und Energie – war schon immer eine Vorbedingung für oder gar eine Vorbereitung von nationaler Aggressivität. Das wären falsche Signale an die Völkergemeinschaft.

Internationale Verflechtungen und Abhängigkeiten dagegen fördern wechselseitiges Wohlverhalten. Verbundsysteme verbinden. Beispielsweise bieten angesichts der globalen Bedrohung durch einen Klimawandel erneuerbare Energien hervorragende Möglichkeiten der globalen Kooperation zum Vorteil aller. Eine erdweite Kooperation zur optimalen Nutzung erneuerbarer Energien, so als ob es keine Grenzen gäbe, wäre wirkungsvoll gegen den Klimawandel, entwicklungsfördernd für viele strukturschwache Länder und völkerverbindend.

Natürlich kann man Terroristen die Nutzung einiger Optionen erschweren. Aber wer glaubt schon von sich sagen können, er könne die Phantasie entschlossener Terroristen im Voraus erfassen? Ich glaube nicht, dass Terroranschläge wegen »einer« günstigen Gelegenheit verübt werden. Gelegenheiten gibt es wie Sand am Meer. Die Beispiele, die wir kennen, beruhen auf motiviertem und überlegtem Handeln. Entscheidend scheint mir, Motivierungen zu Terrorakten zu vermeiden oder zu vermindern.

Vermeidung von Terrorismus

Hier muss man letztlich die Gründe kennen, die zu terroristischen Aktionen führen können. Da wird es keinen erschöpfenden Katalog geben. Aber sicherlich dürften solche Motivierungen provoziert werden durch krasse, ungerechte Unterschiede beim Zugang zu den natürlichen Lebensgrundlagen der Erde oder durch Unterdrückung schwacher und kleiner Völker durch zivilisatorisch Starke. Wenn der westliche ökonomische Fundamentalismus die Globalisierung weiter als ökologische, soziale und kulturelle Brandrodung der Erde betreibt, um Vorteile für Wenige durch Schäden für Viele zu erzeugen, wird weltweit Verbitterung erzeugt. Ich glaube, dass die Reichen dieser Erde, seien es Individuen oder Völker, die ihren Wohlstand der verwundbaren Hochtechnologie-Zivilisation und einigen globalen Ungerechtigkeiten verdanken, sich selbst etwas Gutes tun, wenn sie globales Sozialverhalten entwickeln. Warum sollten sie nicht ein paar begrenzte Abstriche an ihren Privilegien vornehmen, wenn sie sich dafür eine sicherere Zukunft einhandeln? Globale Gerechtigkeit und globales Sozialverhalten scheinen mir die wichtigsten »Waffen« gegen Terrorismus zu sein. Doch beide kommen nicht von selbst. Es gilt, sie zu organisieren. Wenn die Anschläge des 11. September dazu die Bereitschaft herbei führen sollten, wären die 5.000 Menschen in den WTC Türmen nicht ganz umsonst gestorben.

Wie lassen sich globale Gerechtigkeit und globales Sozialverhalten organisieren?

Ich denke, dass die internationalen Klimakonferenzen dazu ein interessantes Muster abgeben. Es gibt mehrere Parallelen zwischen dem globalen Klimaterror Nord gegen Süd und dem hier diskutierten Revancheterror Süd gegen Nord, bzw. Rest der Welt gegen die Dominanz des Westens:

Identifikation einer globalen Gefährdung

  • Der globale Klimawandel gefährdet die natürlichen Lebensgrundlagen, z.B. durch Anstieg der Meeresspiegel.
  • Globale Ungerechtigkeit gefährdet die zivilisatorischen Lebensbedingungen, z.B. durch terroristische (Re-)Aktionen.

Die Unmöglichkeit nationaler Absicherung

  • Kein Land kann das Klima in seinem Souveränitätsgebiet autonom schützen.
  • Kein Land kann sich gegen terroristische Attacken im Alleingang schützen, weder gegen deren Ausführung noch gegen deren Folgen.

Globale Organisation des Schutzes

  • Klimaschutz-Allianz möglichst aller Völker mit vereinbarten Maßnahmen.
  • Anti-Terror-Allianz möglichst aller Völker mit vereinbarten Maßnahmen.

Die Klimaschutz-Allianz wird unter der Ägide der UNO auf internationalen Klimakonferenzen aufgebaut. Die neue Anti-Terror-Allianz betreibt unter der Führung der USA in erster Linie eine Beseitigung der Täter vom 11. September – nach der Tat. Der Hydra wird der Kopf abgeschlagen und die UNO übernimmt die Organisation einer neuen Regierung in Afghanistan. Das ist richtig, aber nicht genug, genau so wenig wie die geplante Trockenlegung einiger Geldkanäle. Dann geht das Geld andere Wege.

Was die Menschheit anpacken muss, wird deutlicher bei einer Übertragung dieser Reaktion gegen den Terrorismus auf die Klimasituation: Wenn man den von der Versenkung durch ansteigenden Meeresspiegel bedrohten OASIS-Staaten auf den Pazifik-Inseln dasselbe Recht auf nationale Selbstverteidigung zubilligen würde, wie es die USA jetzt gegen die Taliban in Anspruch nehmen, dann wären die OASIS-Länder jetzt aufgerufen, eine weltweite Allianz gegen den globalen Klimaterror zu organisieren, Sofortmaßnahmen zur Beseitigung des Klimaterroristen Nr.1, der USA-Regierung, zu ersinnen und zu vollziehen und die USA unter UNO-Verwaltung zu stellen.

Man sieht, wie weit wir noch von Gleichheit vor dem Recht, globaler Gerechtigkeit und globalem Sozialverhalten entfernt sind. Es gilt noch das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts. An die Stelle der Solidarität mit den USA muss die Solidarität mit der Menschheit als ganzer treten.

Herstellung von globaler Gerechtigkeit und zwischenstaatlichem Sozialverhalten

Am 11. September wurde uns vor geführt, wie sehr wir Menschen auf »einer Erde« aber in »verschiedenen Welten« leben. Auszurichten wäre eine Konferenz möglichst aller Völker der Erde, auf der zu sprechen wäre über die Ursachen von Terror, über präventive Gegenmaßnahmen, über die friedliche Koexistenz von Völkern unterschiedlicher Kulturen und unterschiedlichen technologischen Entwicklungsstandes, über Definition und Herstellung globaler Gerechtigkeit sowie über die Erzwingung von globalem Sozialverhalten. Eine solche globale Gerechtigkeitskonferenz würde sich sicherlich über viele Jahrzehnte hinziehen. Sie muss sich auch befassen mit der Beschränkung nationaler Souveränität und dem Umgang mit Schurkenstaaten und mit Supermächten. Sie könnte aber der Anfang dafür sein, die Existenzvoraussetzungen für die Dauerhaftigkeit der technischen Zivilisation zu schaffen, denn: Unsere Hochtechnologie-Zivilisation ist wie Dynamit für Terrorismus – also sollten wir uns so organisieren, dass wir keinen provozieren.

Dr. rer. nat. Gerhard Knies ist Physiker auf dem Gebiet der Elementarteilchen-Forschung. 1995 hat er den Hamburger Klimaschutz-Fonds (HKF) mitgegründet (http://www.klimaschutz.com).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/1 Terror – Krieg – Kriegsterror, Seite