W&F 2003/2

Die Welt aus den Fugen?

Eine neue Welt(un)ordnung von US-Gnaden

von Werner Ruf

Eineinhalb Jahre ist es her, seit die fürchterlichen Anschläge des 11. September 2001 das World Trade Center vernichteten und Teile des Pentagon in Schutt und Asche legten. Deutlich geworden ist seither, dass die USA mit größter Energie jene Deutung der Anschläge in konkrete Politik umsetzen, die der frühere Außenminister Kissinger gegeben hat, wonach „das, was als Tragödie begann, sich als Chance herausstellen könnte“ (Robertson 2002, 1). Es scheint, als ob die USA nunmehr, unter Verweis auf den nach diesem 11. September erklärten »Krieg gegen den Terrorismus« der Maxime folgten, die der Kolumnist und Politikberater Charles Krauthammer schon 1991 als Leitziel der US-Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in seinem wegweisenden Artikel »The Unipolar Moment« formuliert hat: „Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit… ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen“ (Krauthammer 1991, 23).
Eine Weltordnung nach Geschmack und unter dem Diktat der einzigen verbliebenen Supermacht ist allerdings nur möglich, wenn das in den letzten hundert Jahren entwickelte Völkerrecht, vor allem aber die Charta der Vereinten Nationen außer Kraft gesetzt werden und das Faustrecht wieder den Verkehr zwischen den Staaten charakterisiert. So wird die Demontage der VN und ihres suprastaatlichen Gewaltmonopols geradezu zur politischen Notwendigkeit für die Dominanzphantasien der derzeitigen US-Regierung. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung war die Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1368 vom 12. September 2001. Auch wenn Gerhard Stuby (2001) davon ausgeht, dass der Sicherheitsrat sich mit seiner Resolution 1368 keineswegs seiner Kompetenzen begeben habe, ( diese Argumentation ist politisch wichtig, geht es doch darum, die Alleinzuständigkeit des Sicherheitsrats für Fragen von Krieg und Frieden zu erhalten) so lesen die USA diese Resolution doch ganz anders. Die Formulierung dieser Resolution lässt aufhorchen, sie ist alarmierend, denn der Sicherheitsrat verweist explizit auf das „naturgegebene Recht (der Staaten) zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Einklang mit der Charta“ (Charta der UN, Art. 51).

Dies ist in der Tat wörtliches Zitat aus Artikel 51 der Charta. Auch „bekundet (der Sicherheitsrat) in dieser Resolution seine Bereitschaft, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu antworten, und alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen, im Einklang mit seiner Verantwortung nach der Charta der Vereinten Nationen“ (Charta der UN, Art. 51).

Verblüffen muss allerdings, dass der Sicherheitsrat in dieser Resolution nur den ersten Halbsatz des entscheidenden Satzes des Art. 51 zitiert, denn, auf den Passus der „Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ folgt ein Komma, und hinter diesem geht der Satz folgendermaßen zu Ende: „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (Charta der UN, Art. 51).

Genau dies aber tut der Sicherheitsrat nicht, sondern „er bekundet seine Bereitschaft“, dies zu tun – und legt damit seine Verantwortung ad acta! Auch der Hinweis darauf, dass diese Resolution „im Einklang mit der Charta“ zu verstehen sei, ist wichtig: Denn diese verbietet die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Insofern stellt die Betonung des „naturgegebenen Rechts auf […] Selbstverteidigung“ buchstäblich die Quadratur des Kreises dar: der Sicherheitsrat verbeugt sich diplomatisch vor der Charta, deren wichtigstes Organ er ist – und verabschiedet sich von seiner eigenen Rechts- und Existenzgrundlage.

Da kann es nicht verwundern, wenn die USA diese Resolution, die ja wesentlich unter ihrer Mitwirkung zustande kam, als Freibrief verstehen und George W. Bush in seiner Rede vom 29. Januar 2002, in der er die »Achse des Bösen«, (vorläufig) bestehend aus dem Irak, Iran und Nordkorea definierte, feststellt: „Afghanistan hat bewiesen, dass man mit teuren Präzisionswaffen den Feind besiegt und Unschuldige verschont, und wir brauchen mehr davon. Wir müssen alte Flugzeuge ersetzen und unser Militär beweglicher machen, damit wir unsere Truppen schnell und sicher auf der Welt (sic!) stationieren können“ (Bush 2002, 368).

Somit erscheint nach gut zehn Jahren die »humanitäre Intervention« nur noch als eine, wenn auch entscheidende Etappe, die den Krieg wieder führbar gemacht hat. Das jetzt reaktivierte »Recht auf individuelle Selbstverteidigung« – im Klartext: das »ius ad bellum« – und der Verzicht auf den zweiten Halbsatz des Artikels 51 in der Resolution 1368 des Sicherheitsrats, öffnet der staatlichen Willkür und dem Angriffskrieg Tür und Tor. Damit verlässt die US-Regierung die in Art. 2 der Charta formulierten Grundsätze des Respekts der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung ebenso wie die „mit den Zielen der Charta unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Charta der UN, Art. 2.4).

In konsequenter Verfolgung dieser völkerrechtswidrigen Selbstermächtigung fordert die am 20. September 2002 veröffentlichte Nationale Sicherheitsstrategie der USA (NSS) das »Recht auf Selbstverteidigung« und negiert damit das durch die UN-Charta etablierte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen. Ja, die USA gehen noch einen Schritt weiter, sie beanspruchen für sich das Recht, Präventivkriege zu führen: „Verteidigung der Vereinigten Staaten, des amerikanischen Volkes und unserer nationalen und internationalen Interessen (Welche sind dies? Wo liegen sie? W.R.), indem wir Bedrohungen ausmachen und ausschalten, bevor sie unsere Grenzen erreichen“ (NSS 2002, 1506f.).

Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wird in mehrfacher Wiederholung auf dieses »Recht« verwiesen, das Willkür und Gewalt wieder zur Umgangsform in den internationalen Beziehungen macht, was nach 1945 nie wieder geschehen sollte. Denn erinnern wir uns: Auch Hitlers Angriff auf die Sowjetunion war nichts anderes als ein »Präventivkrieg«: „Wir müssen darauf vorbereitet sind, Schurkenstaaten und ihre terroristische Klientel aufzuhalten, bevor sie in der Lage sind, die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner und Freunde mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen oder sie gegen sie einzusetzen. …Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präemptiv handeln, um solche feindlichen Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen“ (NSS 2002, 1508).

Und die USA sind seit Regierungsantritt von Präsident Bush konsequent gegen bestehende oder im Entstehen begriffene internationale Vertragssysteme vorgegangen: Nicht nur dass sie das Kyoto-Protokoll zum Umweltschutz nicht unterzeichnet haben, sie haben die Weiterentwicklung einer internationalen Konvention über biologische und chemische Waffen verhindert, sie haben den ABM-Vertrag gekündigt, Präsident Bush hat die Unterschrift seines Vorgängers unter das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zurückgezogen1 – ein in der Geschichte der USA bisher einmaliger Vorgang. Was denn besagt die Kündigung dieser Verträge bzw. das Nichtbeitreten? Doch wohl nichts anderes, als dass die USA sich freimachen von allen Bindungen, die ihnen diese Verträge auferlegen und dass – im Falle des ICC – schwere Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der US-Streitkräfte für möglich gehalten und in Kauf genommen werden. Weshalb denn sonst die Weigerung, diesem Abkommen beizutreten? Was bleibt von den in der Einleitung zur NSS beschworenen Werten: „Getragen vom Glauben an die Prinzipien der Freiheit und die Werte einer freien Gesellschaft…“

Wenn alle diese Werte, die ohne das Recht nicht zu verwirklichen sind, nur für die USA oder »den Westen« gelten, wenn in ihrem Namen (Kriegs-)Verbrechen verübt werden, wie in Hiroshima und Nagasaki, wie in Vietnam, wie schon im Zweiten Golfkrieg (vgl. Clark 1993), dann wird dies der Nährboden sein für Akte extralegaler Gewalt, also für Terrorismus! Und wenn schon Unrechtshandlungen wie die oben erwähnten trotz der Charta der Vereinten Nationen möglich waren – was wird erst kommen, wenn die mächtigste Regierung der Welt offen erklärt, dass sie sich an keinerlei völkerrechtliche Grundsätze mehr gebunden fühlt?

Doch warum das alles? Sicherlich nicht aus reinem Größenwahn! Was mögen die „nationalen und internationalen Interessen“ sein, die hier verfolgt werden? Anders gefragt: Wie soll die Tragödie zur Chance gemacht werden?

Das Ende des bipolaren Zeitalters wurde eingeleitet am 11. September 19902 mit jener als historisch bezeichneten Rede von Präsident George Bush, in der er eine »Neue Weltordnung« verkündete. Diese Rede war der Auftakt zum Zweiten Golfkrieg. Schon damals ging es um die Kontrolle des Erdöls am Persisch-Arabischen Golf. Resultat dieses Krieges war die dauerhafte Stationierung von US-Soldaten auf der Arabischen Halbinsel. Der Krieg gegen Afghanistan wurde bereits ab Juni 2001 geplant (vgl. Martin 2001) weil die Taliban wohl zu hohe Forderungen für den Bau einer Pipeline vom Kaspischen Meer zum Indischen Ozean stellten. Stellt man noch in Rechnung, dass nicht die USA mit ihren rd. 10% aus der Region importierten Erdöls den Rohstoff aus dieser Region benötigen, sondern Europa (40%) und Japan (70%), dann wird erklärlich, worum es hier geht: Ein Krieg wird aller Voraussicht nach den Ölpreis gewaltig in die Höhe schnellen lassen. Die europäischen und japanischen Waren wären auf dem Weltmarkt nicht mehr mit den amerikanischen konkurrenzfähig. Und mit der Stationierung ihrer Armee übernähmen die USA die Kontrolle der gesamten Region und damit über die von ihren beiden wichtigsten wirtschaftlichen Konkurrenten benötigten Ressourcen. Auch sollte nicht vergessen werden: Die USA verstanden die Einführung des Euro, einer Währung, die neben dem Dollar Weltgeltung beansprucht, als eine Herausforderung. Diese Zusammenhänge, nicht der Respekt vor dem Völkerrecht, dürften die deutsche und französische Zurückhaltung gegenüber dem geplanten Krieg erklären.

Denn mit diesem geplanten Krieg gegen den Irak geht es um ein groß angelegtes Projekt: Wenn man den Verlautbarungen aus dem Pentagon und aus den politisch-strategischen »think tanks« der USA glauben darf, ist dieser Krieg nur Auftakt und Teil einer Gesamtstrategie für eine Neuordnung des so genannten »Greater Middle East«,der von Marokko bis Pakistan reicht, also den Kern des immer wieder beschworenen »Islamischen Krisenbogens« umfasst (Ruf 2002, 41ff.). In der jüngsten amerikanischen politikwissenschaftlichen und politikberatenden Literatur werden derzeit die unterschiedlichsten Szenarien entworfen, die allesamt von der Notwendigkeit einer politischen und teilweise territorialen Neuordnung der Region ausgehen (vgl. u.a. Asmus/Pollack 2002). Den Analysen ist gemeinsam, dass der alte Freund Saudi-Arabien inzwischen ein unzuverlässiger Partner geworden zu sein scheint: Blutige Anschläge gegen US-Einrichtungen in den vergangenen Jahren konnten nicht verhindert werden, Proteste gegen das Regime arteten in blutige Unruhen aus, einige muslimische Rechtsgelehrte rechtfertigten die Anschläge des 11. September, die Mehrzahl der Todesflieger des 11. September 2001 stammten aus diesem Land (vgl. Deutsches Orient Institut 2002, 149ff.). Und mit an Hysterie grenzender Publizität wurde im November 2002 in den US-Medien die den Geheimdiensten seit Monaten bekannte »Erkenntnis« gehandelt, Geldspenden der Ehefrau des saudischen Botschafters in Washington seien über Mittelsmänner an die Todesflieger des 11. September gelangt, wodurch suggeriert wurde, die saudischen Dienste seien selbst in den Anschlag verwickelt gewesen.

Vor diesem Hintergrund machen die Szenarien Sinn, die unter der Federführung von Richard N. Perle, dem Vorsitzenden des »defense policy board«im Pentagon, entwickelt worden sind: Danach ist der Irak der „taktische, Saudi-Arabien der strategische Angelpunkt“ des geplanten Krieges und der damit beginnenden »Neuordnung«. Die Saudis, die „auf allen Ebenen der Terrorkette aktiv sind“, sollen abgesetzt, die Haschemiten wieder die Herrscher über Mekka und Medina, die Ölfelder von US-Truppen besetzt werden (vgl. Shafer 2002).

All dies entspringt scheinbar grenzenlosen Großmachtphantasien, es reimt sich allerdings in die Pläne, die (jenseits einer Veränderung des politischen Systems in Saudi-Arabien) als nächstes Angriffs- oder Destabilisierungsziel den Iran und Syrien nennen – wahrlich eine »Neuordnung« des gesamten mittel- und nahöstlichen Raumes. Ob dies allerdings noch den Begriff Ordnung verdient, ist wohl eher zu bezweifeln! Denn unter politischen Gesichtspunkten muss diese geplante »Neuordnung« der Region Befürchtungen auslösen, die weit über die moralisch und völkerrechtlich gebotene Verurteilung eines eiskalt geplanten Angriffskriegs mit dem Ziel des Sturzes einer unliebsamen Regierung hinausgehen. Ob dabei alle Unbekannten eingerechnet wurden? Denn noch gibt es in diesem Raum nicht nur Regierungen sondern auch Völker, deren Hass auf die USA durch solche Arroganz nur noch weiter geschürt werden wird. Und noch sind die unerreichten Ziele des arabischen Nationalismus, die Erlangung tatsächlicher Unabhängigkeit und Einigung, lebendig – auch wenn sie zunehmend in islamistischem Gewande einher kommen. Die gefährliche Strategie der USA kann zu einem Flächenbrand führen, der die ganze Region – und nicht nur die arabischen Länder – in ein unkontrollierbares Chaos stürzt.

Vor diesem Hintergrund wird auch klar, dass – und dies wird ja offen auf dem politischen Marktplatz gehandelt – die Beseitigung etwaiger irakischer Massenvernichtungsmittel nur ein Vorwand ist. Erklärtes Ziel ist die Ablösung des Regimes von Saddam Hussein und seine Ersetzung durch eine »demokratische« (sprich : willfährige und politisch abhängige) Regierung. Auch hier handelt es sich um einen Präzedenzfall ganz besonderer Art, verbieten doch die Art. 2.4 und 2.7 der UN-Charta jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Dies ist der Irak formell immer noch – und Mitglied der Vereinten Nationen außerdem. Das Kriegsziel des Auswechselns unliebsamer Regierungen könnte nach dem jetzt geplanten und beschlossenen Präzedenzfall dann auch bald andernorts praktiziert werden.

Und so wird der rationale Kern des Umgangs mit dem Völkerrecht deutlich: Um diese Arroganz der Macht in die Tat umzusetzen, bedarf es der schrittweisen, aber systematischen Demolierung des UN-Systems, denn sowohl die Vereinten Nationen wie das Völkerrecht stehen solchen Vorhaben im Wege. Der gezielte Abbau von Völkerrechtsnormen hat bereits mit dem Zweiten Golfkrieg unter George Bush, sen. begonnen. Denn: Vergessen wird bei der Diskussion um die Legitimation des bevorstehenden Krieges gegen den Irak immer, dass sich die jüngste Resolution 1441 explizit auf die vorangegangenen Resolutionen 687 vom 3. und 688 vom 5. April 1991 beruft. Diese beiden Resolutionen fasste der Sicherheitsrat nachdem die Kampfhandlungen am Golf eingestellt, der Irak sich aus Kuwait zurückgezogen und dessen Souveränität anerkannt hatte. In diesen Resolutionen wurde ein Streifen irakischen Gebiets zu Kuwait geschlagen, so dass Irak keinen Zugang mehr zum Meer hat, wurde die irakische Ökonomie der Aufsicht der UN, des IWF und der Clubs von Paris und London unterstellt, wurde unter dem Vorwand des Schutzes von Minderheiten die irakische Souveränität in südlichen und nördlichen Landesteilen eingeschränkt – eine Regelung, auf die sich die USA, Großbritannien und Frankreich beriefen, als sie – ohne Mandat des Sicherheitsrates! – nördlich des 36. und südlich des 32. Breitengrades jene »Flugverbotszonen« über dem Irak verfügten, einem formal noch immer souveränen Staat (vgl. Ruf 1994, 68ff.).

In diesem Sinne ist die Resolution 1441 vom 8. November 2002 nicht nur ein weiterer Schritt zur Entsouveränisierung des Irak mit erheblicher völkergewohnheitsrechtlicher Konsequenz. Sie ist auch ein weiterer Beitrag zur Beschädigung der UNO und der Aushöhlung ihrer Charta! Genau wie die Resolutionen 687 und 688 und die »präventive Generalamnestie« der Resolution 1368 liefert die Resolution 1441 den USA ein Feigenblatt für den geplanten Krieg. Dies zeigt sich schon in der Tatsache, dass die USA sich bereits jetzt auf Punkt 13 dieser Resolution berufen, die „schwere Konsequenzen als Resultat fortgesetzter Verletzungen seiner (des Iraks) Verpflichtungen“ androht. Einen solchen Verstoß sehen die USA bereits im (versuchten) Beschuss der die »Flugverbotszonen« überfliegenden US-Jets (vgl. Frankfurter Rundschau 19.11.2002). Damit wird abermals überdeutlich klar: Der Krieg ist gewollt und geplant. Und »Verletzungen der Verpflichtungen« werden auf der Basis der Resolution 1441 konstruierbar sein, wenn es dieser überhaupt noch bedarf. Denn, wie bereits in Washington angekündigt: Zumindest die »hardliner« in der US-Regierung um Verteidigungsminister Rumsfeld, seinen Stellvertreter Wolfowitz, Stabschef Perle fühlen sich ermächtigt, auch ohne ein weiteres Mandat des Sicherheitsrats ihren Krieg zu führen. Mit den Resolutionen 1368 und 1441 hat sich dieser ohnehin in die Falle manövriert, der US-Politik den Schein einer völkerrechtlichen Legitimation zu liefern. Gerade unter diesem Aspekt hat der schwedische Friedensforscher Jan Öberg recht, wenn er mit Blick auf das Gefeilsche um ein Mandat des Sicherheitsrats, in einem Interview in »Neues Deutschland« vom 8. November 2002, feststellt: „Natürlich soll dieser Krieg nicht geführt werden. Was ich meine ist, dass die USA nicht die Vereinten Nationen missbrauchen dürfen. Es ist dumm zu sagen, es wäre besser, wenn es ein UN-Mandat für diesen Krieg gäbe. Nein, ist es nicht! Denn dadurch würden die Autorität und Integrität der UNO und der UN-Charta untergraben. Wenn die USA verrückt genug sind, so etwas zu tun, sollen sie es allein tun. Darum fordert kein UN-Mandat! Das ist illegal, unmoralisch und politisch kontraproduktiv. Ein UN-Mandat wäre ein Feigenblatt für eine kriminelle Handlung. Die UNO muss vor solchen Verbrechen geschützt werden.“

Die Kritik Öbergs ist noch in anderer Hinsicht bedenkenswert: Erst dieses Feigenblatt des UN-Mandats, das in erster Linie die UN selbst beschädigt, ermöglicht es den übrigen Regierungen wie auch der der Bundesrepublik Deutschland, eine völkerrechtliche Rechtfertigung für die Unterstützung unterhalb der Schwelle des Mitschießens in diesem Krieg zu konstruieren und logistische Infrastruktur bereit zu stellen. Und was dem Einen recht ist, scheint dem Anderen billig zu sein: Ohne Beachtung des Friedensauftrags des Grundgesetzes wird nun von der neu gebildeten SPD-Grünen Koalition die Bundeswehr zur Interventionsarmee umgerüstet: Zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen Richtlinien des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe wird die Bundeswehr in die Lage versetzt »deutsche Interessen« weltweit zu schützen und durchzusetzen.

Deutlich werden am Beispiel dieses eiskalt, öffentlich und ohne Scham geplanten Krieges dessen Ziele: Hegemoniale Weltherrschaft und umfassende Ressourcenkontrolle. Die einseitig angekündigte Gewaltanwendung verträgt sich aber nicht mit dem Völkerrecht. Also muss dieses demoliert werden, die Vereinten Nationen müssen entweder schrittweise ausgehöhlt oder der Hegemonialmacht gefügig gemacht werden. Beides läuft letztlich auf Dasselbe hinaus: Eine Pax Americana,gebaut auf Willkür und Arroganz, gestützt ausschließlich auf militärische Gewalt. Geltendes Völkerrecht wird durch ein neues Gewohnheitsrecht, die Rückkehr zum Faustrecht ersetzt, das zu Unordnung, Chaos und neuer Anarchie im internationalen System führt und so das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was zu erzielen behauptet wird: Diese Art des »Kampfes gegen den (beliebig definierbaren) Terrorismus« steigert nur die Wut der Verlierer und der Unterdrückten und trägt selbst dazu bei, die Rechtsförmigkeit internationaler Beziehungen auf den Müllhaufen der Geschichte zu kehren und damit Gewalt und Gegengewalt jeder Art zu legitimieren.

Der vorliegende Artikel erscheint auch in: Ralph M. Luedtke / Peter Strutinsky (Hrsg.): Wege aus Krieg und Gewalt, Kasseler Schriftenreihe zur Friedenspolitik, Band 9, Kassel 2003.

Literatur

Asmus, Ronald D. and Pollack, Kenneth M.: Transforming the Middle East; in: Policy Review, 115, Sept./Oct. 2002. Übersetzt in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2002, S. 1457-1466.

Brown, Bartram S.: The Statute of the ICC: Past, Present, and Future; in: Sewall, Sarah and Kaysen, Carl: The United States and the International Criminal Court. Lenham, MD 2000.

Bush, George W.: »Achse des Bösen«. Rede des US-Präsidenten George W. Bush zur Lage der Nation vom 29. Januar 2002. In Auszügen in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2002, S. 368-370.

Clark, Ramsey: Wüstensturm – US-Kriegsverbrechen am Golf, Göttingen 1993.

Deutsches Orient-Institut (Hrsg.): Nahostjahrbuch 2001, Opladen 2002, S. 149 –154.

Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, 1/1991, S. 23.

Martin, Patrick: Der Krieg in Afghanistan wurde lange vor dem 11. September geplant, Netzbeitrag vom 22.November 2001 (aus dem Englischen vom 20.November 2001). Online unter http://www.wsws.org/de/2001/nov2001/plan-n22.shtml. Zuletzt abgerufen am 28.12.02.

Robertson, Lord: Die Tragödie als Chance. Die NATO nach dem 11. September; in: Internationale Politik, 7/2002, S. 1-6.

Ruf, Werner: Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der Souveränität der »Dritten Welt«, Münster 1994.

Ruf, Werner: Islam: A New Challenge to the Security of the Western World?; in: Ruf, Werner (ed.): Islam and the West. Judgements, Prejudices, Political Perspectives. Münster 2002, S. 41 – 54.

Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2001 S. 1330 – 1341.

Shafer, Jack: The Power Point that rocked the Pentagon. The LaRouchie defector who’s advising the defense establishment on Saudi Arabia; in: Washington Post 6. Aug. 2002. Online unter http://slate.msn.com//?id=2069119. Posted Wednesday Aug 7, 2002 at 4:49 PM PT. Zuletzt abgerufen am 02.01.03.

NSS 2002: National Security Strategy; Online unter http://. Zuletzt abgerufen am 20.12.02. In Auszügen in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2002, S. 1503 – 1512.

Anmerkungen

1) Sicher war diese Unterschrift von Präsident Clinton am letzten Tage seiner Amtszeit ein symbolischer Akt, denn schon das Verhalten der USA in den Verhandlungen über den ICC ließ erkennen, dass sie diesem Vertragswerk, das sie entgegen den ursprünglichen Intentionen erheblich verwässert hatten, wohl nie beitreten würden (vgl. Brown 2000).

2) Der 11. September ist ein Tag von hohem Symbolgehalt: Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär und ermordete den gewählten Präsidenten Salvador Allende.

Prof. Dr. Werner Ruf lehrte bis zum 31. März 2002 Politikwissenschaften an der Uni-GH Kassel

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/2 Machtfragen, Seite