W&F 2016/1

Die Würde des Menschen in schwierigen Zeiten

von Wolfgang Uellenberg van Dawen

Das Versagen des Rechtsstaates in der Neujahrsnacht in Köln und anderen Städten führte zu vielfältigen Reaktionen und zu einer kontroversen Debatte, die ein erhellendes und zugleich erschreckendes Schlaglicht auf den Zustand unseres Gemeinwesens wirft. Für Rechtspopulisten und Rassisten sind die kriminellen Übergriffe auf Frauen nichts anderes als die Bestätigung sämtlicher Vorurteile und Feindbilder gegenüber Migranten, und die rechtspopulistische und unterschwellig rassistische »Alternative für Deutschland« (AfD) profitiert gemäß den Meinungsumfragen davon.

Der überwiegende Teil der Medien und der Politik richtet den Fokus nicht in erster Linie auf die von sexualisierter Gewalt verstörten und traumatisierten Opfer, sondern vornehmlich auf die vermuteten Täter. Es waren, daran bestehen kaum Zweifel, vor allem junge Migranten aus den Ländern des Maghreb, aber auch solche anderer Herkunft. Fest steht bisher ebenfalls, dass es überwiegend keine Flüchtlinge waren. Dennoch reagierten Koalitionspolitiker, allen voran solche der CSU, sofort mit Forderungen nach Verschärfung des Aufenthaltsrechtes und nach rascher Abschiebung, unabhängig davon, ob dies rechtlich und faktisch überhaupt möglich ist.

Die differenzierte Analyse der Ursachen massenhafter sexueller Übergriffe steht ebenso noch am Anfang wie die Diskussion über ein zielführendes und angemessenes Handeln – in erster Linie im Interesse der Opfer, aber ebenso der Migrant/innen und Geflüchteten, die nun Angst haben, pauschal verdächtigt und diskriminiert zu werden. Vereinfachungen und Schuldzuweisungen werden am Ende kein einziges Problem lösen, es besteht aber die Gefahr, dass die Angst vor »den Fremden« wächst und viele verunsicherte, bisher hilfsbereite und für die Flüchtenden Empathie empfindende Menschen sich nun zurückziehen oder gar in den Chor der Hardliner einstimmen.

Die Würde des Menschen gerade in diesen schwierigen Zeiten zu wahren ist eine Herausforderung, der sich alle stellen müssen, die für eine humane Flüchtlings- und Einwanderungsgesellschaft und für die Wahrung einer menschenrechtlich orientierten Politik eintreten. In erster Linie geht es hier um die Würde der Frauen. Wer hilft den Opfern? Wer begleitet sie bei ihren Aussagen vor den Ermittlungsbehörden? Und wie sollen die Täter identifiziert werden? Fragen über Fragen …

Das Sexualstrafrecht ist bei weitem nicht so eindeutig formuliert, dass jeder Übergriff überhaupt als Sexualdelikt verfolgt wird. Überfällig ist also eine Reform des Sexualstrafrechts mit der Maßgabe, dass ein »Nein« der Frauen genau das ist: ein »Nein«, und wenn es nicht akzeptiert wird, dies eine Straftat ist. Ob es nun zu einer Beschleunigung der Reform kommt, bleibt abzuwarten. Sie darf aber nicht auf die lange Bank geschoben oder verwässert werden. Darum muss auf die Übergriffe in der Neujahrsnacht die längst überfällige Debatte über den alltäglichen Sexismus geführt werden. Dies ist keine Relativierung der konkreten Übergriffe oder gar eine Entschuldigung für die Täter, sondern ein Aufruf, für die Würde der Frau einzutreten.

Patriarchalische Frauenbilder und die Reduzierung der Frau auf ein Objekt männlicher Dominanz sind, egal wo wir ihnen begegnen, als solche zu benennen. Vergessen wir nicht, dass sie in fast allen Religionen zu finden sind und auch in unserer Gesellschaft lange dominierten. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde den Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch noch die Rolle der Hausfrau in der Ehe zugewiesen, und die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit einigen Jahren strafbar. Der erreichte Fortschritt darf aber eben nicht nur für die einheimischen, sondern muss für alle Frauen gelten.

Die Debatte muss konkret geführt werden und Folgen haben, sonst bleibt sie oberflächlich und scheinheilig. Die öffentliche Empörung richtet sich derzeit auf Täter mit Migrationshintergrund, aber wer schützt die Migrantinnen vor Ausbeutung und Demütigung nicht nur in den Familien, sondern auch in der Mehrheitsgesellschaft und in der Arbeitswelt? Wie hart gehen denn die Behörden gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution vor, in Köln und anderswo? Wie hart werden Bordellbesitzer und ihre Hintermänner verfolgt, und warum nehmen Boulevardblätter immer noch Werbeanzeigen auf, in denen die Ware Frau vermarktet wird? Wo bleibt eigentlich die Reaktion der Verantwortlichen der »fünften Jahreszeit« in der »Hauptstadt des Frohsinns«? Denn während die ganze Stadt sich empört, feiert sie Karneval wie gewohnt – und das heißt mit deutlich sexistischer Schlagseite. Dringend überprüft und verändert werden muss das Sicherheitskonzept, und dazu gehört Transparenz über mögliche Gefahren. Denn wo es für Frauen – und nicht nur für sie – in den Städten gefährlich ist, ist doch meist bekannt.

Aber Aufklärung alleine genügt nicht: No-go-Areas darf es in unserem Land nicht geben, und zur Verhinderung bedarf es nicht nur der Prävention und Ursachenbekämpfung, sondern auch des Schutzes vor Ort. Statt enge Ordnungspartnerschaften zwischen Stadt, Polizei und Sicherheitsdiensten zu knüpfen, wurde immer mehr Personal abgebaut. Was nützen die stattdessen fast flächendeckend installierten Videokameras? In der konkreten Situation nichts! Angesichts des Versagens der Polizeibehörden in Köln und anderswo fordern nun viele einen starken Staat. Sicherheit, ob durch Prävention oder durch Repression, kann es aber nicht zum Nulltarif geben und nicht mit einer Schwarzen Null im Haushalt als Ziel.

Die schwierigste Diskussion dreht sich wohl um die Bewertung der Täter. Leicht machen es sich die Vereinfacher auf beiden Seiten: Rechtspopulisten und so genannte besorgte Bürger bis weit in die Mitte der Gesellschaft zeigen auf das Aussehen, die Herkunft und die Religion der Täter und reproduzieren damit tief verwurzelte, rassistisch geprägte Weltbilder. Eine Karikatur in der Süddeutschen Zeitung vom 9.1.2016, die eine schwarze Männerhand zeigt, welche eine weiße Frau sexuell belästigt, legt offen, welche Urängste vor dem »schwarzen Mann« selbst in einer liberalen Zeitung zum Vorschein kommen.

Differenzierende Aussagen der Sozialwissenschaft zu autoritären Strukturen, sozialen Verwerfungen und überkommenen Rollenbildern scheinen zu erklären, warum junge Männer zu sexualisierter Gewalt neigen. Daraus können dennoch nicht die konkreten Taten abgeleitet werden. Es ist unmöglich und eine falsche Verallgemeinerung, wenn aus kulturellen Traditionen auf eine bestimmte Gewaltbereitschaft geschlossen wird. Ebensowenig zielführend wäre es, auf jede sozialkulturelle Einordnung zu verzichten und die Kritik an einem religiös hergeleiteten und anerzogenen patriarchalischen Frauenbild als Rassismus zu verurteilen.

Einfache Erklärungen gibt es nicht, und darum bedarf es einer offenen und von Sachkunde bestimmten Debatte, die zu Konsequenzen führen muss. Dazu gehört, mit einer klaren Haltung und mit Nachdruck solchen Menschen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – entgegenzutreten, die die Regeln des Zusammenlebens nicht akzeptieren. Sexualisierte Gewalt und andere Formen der Kriminalität dürfen nicht toleriert, sondern müssen nach Recht und Gesetz bestraft werden.

Es ist aber eine völlige Illusion zu glauben, es reiche zur Integration aus, wenn eine »Leitkultur« verordnet, das Grundgesetz als Pflichtkanon gepredigt und mit erhobenem Zeigefinger die moderne deutsche Geschlechterrolle eingefordert wird. Integration muss gelebt werden, und gerade hier ist in den letzten Jahren trotz vieler Erfolge viel zu wenig geschehen. Viel zu gering sind die Aufwendungen für eine präventive und konsequente Sozialarbeit. Es fehlen Sozialarbeiter/innen an den Schulen und Streetworker auf den Straßen. Seit mindestens drei Jahren weiß das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen beispielsweise um die Gefährdung junger Männer, etwa aus Marokko, die in die Kriminalität abzugleiten drohen. Wie wurde reagiert, abgesehen von einem sinnvollen Präventionsprojekt der AWO Köln in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium? Viel mehr solcher Projekte – und nicht nur Projekte, sondern nachhaltige Integrationsmaßnahmen – hätten stattfinden müssen.

Dies gilt erst recht für die soziale Integration. Noch immer sind es vor allem Migrantinnen und Migranten, die von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit betroffen sind. Noch immer werden sie bei der Bewerbung um gute Arbeit und qualifizierte Ausbildung diskriminiert. Noch immer sind die Bildungssysteme und die Curricula nicht auf unterschiedliche Herkunftssprachen ausgerichtet. Seit diesem Jahr verweigert Nordrhein-Westfalen aus finanziellen Gründen über 18-jährigen Migranten und Geflüchteten den Zugang zu den Berufskollegs, um dort einen Hauptschulabschluss zu machen. Ein Skandal, den die Landesregierung aussitzen will.

Anerkennung ihrer eigenen Sprache und Kultur, aber ebenso Anerkennung und Wertschätzung ihres Lebens in Deutschland wird den Migrantinnen und Migranten viel zu selten zuteil und bleibt oft auf bloße Bekenntnisse beschränkt. Integration ist eine Herausforderung voller Mühen und muss oft auf beiden Seiten große Unterschiede überwinden, ist die Anstrengung aber wert. Allerdings kann Integration nur dann gelingen, wenn die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, die in vielen Städten immer unübersehbarer wird und vor allem Menschen mit Migrationshintergrund ausgrenzt, überwunden wird. Diese Spaltung der Gesellschaft in einem reichen Land fördert Konkurrenzen zwischen Einheimischen und Migranten, insbesondere Geflüchteten, um bezahlbaren Wohnraum, um Plätze in Kitas und Schulen, um Ausbildung und gute Arbeit. Meist fordern jedoch nicht diejenigen, die sich in engen Verhältnissen einrichten müssen, die Ausgrenzung, sondern diejenigen, die auf der gesellschaftlichen Pyramide weiter oben stehen. Es sind ihre Vorurteile und ihre Ängste, etwas abgeben zu müssen zugunsten eines handlungsfähigen Staates, um die Folgen der von den Eliten unserer Gesellschaft so oft beschworenen Globalisierung sozial gerecht zu bewältigen, die den Weg in eine integrative Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben blockieren.

Dr. Wolfgang Uellenberg van Dawen, Historiker, war bis 2014 Leiter des Bereichs Politik und Planung der ver.di Bundesverwaltung in Berlin und engagiert sich für eine humane Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Köln.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 5–6