W&F 2024/1
Mehr als 27.000 Tote in Gaza
Worum geht es?
- Zivile Tote in Kriegen und gewaltsamen Konflikten sind völkerrechtlich zu vermeiden, gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen. Im Zuge des Angriffs der Hamas auf Israel sind über 1.000 zivile Israelis ermordet worden, ein klares Kriegsverbrechen.
- Die Zahl der infolge des Kriegs Israels gegen die Hamas im Gazastreifen getöteten Palästinenser*innen ist immer wieder umstritten – da die Daten vom Hamas-kontrollierten Gesundheitsministerium stammen.
- Die Zahlen des Gesundheitsministeriums unterscheiden nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen – es ist die Gesamtzahl der Getöteten. Es kursieren unterschiedliche, oft nach geschlechterspezifischen Kriterien ausdifferenzierte, Einschätzungen zum Verhältnis von Kämpfern (meist ausschließlich junge »kampffähige« Männer) und zivilen Opfern (meist Kinder (alle), Frauen und ältere Menschen).
- Die Frage nach den »richtigen« Zahlen ist in mehrerer Hinsicht relevant: für entsprechende Fragen nach der Verhältnismäßigkeit eines Angriffs und der Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen eines im Krieg befindlichen Staates; für konkrete Entschädigungsforderungen bzw. juristische Ansprüche von Familien; der emotionale Eindruck der Zahlen darf nicht unterschätzt werden.
Was sagen die Daten?
- Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind bis 8. Februar 2024 mehr als 27.000 Personen den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen (vgl. Abb).
- In einem Kurzbeitrag im englischen Medizinjournal »The Lancet« im Dezember 2023 berichteten Forscher*innen von einem statistischen Abgleich der Daten des Gesundheitsministeriums und den Meldungen der UN Relief and Works Agency (UNRWA) zu getöteten Mitarbeiter*innen. Die Zahlen des Gesundheitsministeriums lagen dabei zumindest bis zum 10. November unter den UN-Zahlen. Hier schlossen die Forscher*innen darauf, dass keine künstlich aufgeblasenen Zahlen vorlagen (Huynh et al. 2023).
- In Abgleichen der Berichte des Gesundheitsministeriums mit Zahlen der UN und auch israelischer Behörden über die Opferzahlen in Kriegen der vergangenen zwanzig Jahre ist die weitgehende Verlässlichkeit der Daten der Gesundheitsbehörden in Gaza immer wieder bestätigt worden.
Friedenspolitische Konsequenzen?
- Debatten über einen Krieg sollten sich nicht alleine an Opferstatistiken orientieren. Diese sind ein unvollständiges, inhärent fehleranfälliges Maß für das Ausmaß der durch einen Krieg verursachten Zerstörung. Sie sind schwer genau zu erstellen, unterliegen Verzerrungen und werden ständig politisiert (Lynch und Parkinson 2023).
- Zu problematisieren sind alle pauschalen Annahmen, wonach alle männlichen Todesopfer im Gazastreifen Kämpfer und alle erwachsenen Frauen, Kinder und älteren Menschen Zivilist*innen sind. Sie tragen zu einem Narrativ bei, das palästinensischen Männern allein aufgrund ihrer demografischen Merkmale Schuld zuweist, ihre Verwundbarkeit verstärkt und wahllose Gewalt begünstigt. Diese geschlechtsspezifischen Annahmen im Krieg sind zu kritisieren.
- Opferzahlen können schnell zu einem politischen Instrument werden, das Distanz zu den Schrecken und Tragödien von Kriegen schafft. Advocacy-Projekte in Palästina, Israel und im Libanon gibt es, weil Mortalitätsstatistiken wie Opferzahlen fast zwangsläufig die Nuancen in den Leben der Menschen ausblenden (vgl. Lynch und Parkinson 2023).
Literatur
Huynh, B.Q.; Chin, E.T.; Spiegel, P.B. (2023): No evidence of inflated mortality reporting from the Gaza Ministry of Health. The Lancet 403(10421), S. 23-24.
UNOCHA (o.J.): October 2023 escalation. Daily flash updates und reports on hostilities in the Gaza Strip and Israel. Homepage, ochaopt.org/crisis.
Lynch, M.; Parkinson, S. (2023): A closer look at the Gaza casualty data. Casualty counts can be a political tool – and how we report the data has real consequences. Good Authority, 14.12.2023.
erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 33