W&F 2024/1

Sandrine Dixson-Declève et al. (2022): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“. München: Oekom Verlag. ISBN 978-3-96238-387-9, 249 S., 25 €.

Abb. Buch

Wenn die Tagesschau über die Veröffentlichung eines Sachbuches informiert, ist diesem ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit gewiss. Im Fall des im September 2022 erschienenen Berichts an den Club of Rome, »Earth for All. Ein Survivalguide für den Planeten«, wird die Erwartungshaltung der Leser*innen noch dadurch gesteigert, dass der Band explizit den Anspruch formuliert, an die Relevanz des vor 50 Jahren erschienenen, legendären CoR-Berichts »Die Grenzen des Wachstums« anzuknüpfen. Einer Studie also, die als wesentliche Wegmarke zur Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit bezüglich des bedeutsamen Problems gilt, das sich aus der Kopplung von immerwährendem Wirtschaftswachstum und dem unvermeidbaren Überschreiten planetarer Grenzen, samt daran hängender desaströser Konsequenzen für die ökologischen Lebenserhaltungssysteme vieler Arten, inklusive des Menschen selbst, ergibt.

Der neue Band plädiert inhaltlich für Kehrtwenden in fünf Bereichen – Armut, Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, Ernährung und Energie –, deren Zusammenspiel „globale Gerechtigkeit auf einem gesunden Planeten“ (S. 9) realisieren soll. Durch mutiges Handeln der politischen Entscheidungsträger*innen sollen die unübersehbaren Defizite des »Winner-take-all«-Kapitalismus korrigiert und dadurch eine grundlegende Transformation in diesem Jahrzehnt realisiert werden. Das Buch stützt sich dabei auf die Forschung der Transformational Economics Commission, einer internationalen Gruppe führender Wirtschaftsexpert*innen, die ihre Ideen in das computergestützte Simulationsmodell »Earth4All« einspeisen und so auf Basis aktueller Daten verschiedene Zukunftsszenarien modellieren.

Eine Stärke des Berichts ist, dass es gelingt, den planetaren Notstand zwar unverblümt darzustellen, dabei den Leser*innen aber trotzdem ein Gefühl der Hoffnung zu vermitteln. Erklärtes Ziel ist ja schließlich das Ermächtigen von Menschen – und dies auf Basis eines gestärkten Vertrauens in die Demokratie. So werden zunächst die Zusammenhänge von zunehmender ökonomischer Ungleichheit und Demokratiekrise klar benannt. Um das Vertrauen der Menschen wiederherzustellen und dem Erstarken populistischer Narrative entgegenzuwirken, sei es notwendig, vor allem Themen wie Armut und Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Und es werden vier mögliche positive soziale Kipppunkte – „soziale Bewegungen, eine neue ökonomische Logik, technologische Entwicklung und politisches Handeln“ benannt, die „sich selbst verstärkende positive Kreisläufe entstehen“ lassen könnten (S. 218). Dabei wird das Bemühen erkennbar, an das unterstellte demokratische, kosmopolitische Bewusstsein der Leser*innen zu appellieren, um „die breiteste Koalition aufzubauen, die die Welt je gesehen hat (S. 19), denn die ökonomische Ungleichheit wird nicht allein als innergesellschaftliches Problem der Staaten des Globalen Nordens, sondern auch als internationales und weltgesellschaftliches Problem diskutiert.

So sei ein weitreichender Schuldenschnitt für die ärmsten Länder genauso notwendig, wie eine Transformation der internationalen Finanzarchitektur und ein verbesserter Zugang zu Patenten und Technologien für die „einkommensschwachen Länder“ (S. 94). Daneben wird ein Bürgerfonds vorgeschlagen, der regelmäßig eine Grunddividende für alle Menschen ausschüttet und der sich aus Zahlungen von Wirtschaftsakteuren für die „Nutzung kollektiver Gemeingüter“ speist (S. 202). Im Band finden sich zahlreiche weitere Anregungen, die zu einer weitreichenden „systemischen Transformation beitragen sollen (S. 10). Und genau hieran, also an der Ernsthaftigkeit des Anspruchs das System transformieren zu wollen, lassen sich Zweifel anmelden.

Denn im Großen und Ganzen reproduziert der Band die Konzepte der europäischen Moderne: i) die Idee der Kontrollierbarkeit des Planeten und der menschlichen Zukunft (die richtigen Instrumente führen zu einer Wohlergehensökonomie für alle), ii) einen anachronistischen Anthropozentrismus (der Planet bleibt zu gestaltendes Material und wird nicht als Mitwelt gedacht), iii) eine allgemeine Wissenschafts- bzw. Technologiegläubigkeit (Computersimulationen und technologische Innovationen ermöglichen das Überleben), iv) ein mechanistisches Weltbild (die Menschheit legt Hebel um oder vollführt Kehrtwenden und kann darüber immer wieder gewünschte Zustände herstellen oder zu diesen zurückkehren), v) den unerschütterlichen Fortschrittsglauben („Wir gewinnen unsere Zukunft zurück“ (S. 217)), vi) eine (neo-)kolonialistische Perspektive auf Welt (ökonomisch einfluss­reiche Staaten als Subjekte, weite Teile des Globalen Südens als Objekte der Weltpolitik, trotz – seltsam randständiger – Aufforderung „erneut indigen“ werden zu wollen (S. 198)) sowie bei aller Bereitschaft zur Reform der schlimmsten Auswüchse des sog. „Rentier-Kapitalismus“ (S. 194) schließlich vii) die Selbstverständlichkeit der Prämisse, dass das ökonomische System kapitalistisch, also auf Basis des freien Wettbewerbs im Privatbesitz befindlicher Produktionsmittel zu organisieren sei (S. 209ff).

Gerade Letzteres sowie das unübersehbare Primat der Ökonomie innerhalb der vorgelegten Überlegungen lässt sich ja durchaus kritisch hinterfragen, wenn der Anspruch wirklich systemische Transformation und nicht bloß Transition sein soll.

So stellt sich die Frage, ob die starke Fokussierung auf wirtschaftliche »Hebel« nicht die soziale Dimension allzu sehr vernachlässigt. Während koloniale Kontinuitäten und patriarchale Strukturen zwar als grundlegende Faktoren der multiplen Krisen thematisiert werden, besteht die Gefahr, dass eben jener Lösungsansatz, der soziale Missstände über wirtschaftliche Mechanismen anzugehen versucht, diese systemimmanenten Machtstrukturen reproduziert. Denn es sind nach der Analyseperspektive des Autor*innen-Kollektivs eben die Entscheidungsträger*innen im Globalen Norden, die die neue Architektur der Weltsysteme errichten.

An dieser Kritik anschließend fehlt eine strukturelle Analyse von Gewaltformationen, auch wenn diese durch die Ungleichheits- und die Ermächtigungskehrtwende explizit adressiert werden. Wie innerhalb von Gesellschaften Macht- und Herrschaftsbeziehungen neugestaltet werden können, sodass demokratische Partizipationsmöglichkeiten nicht ausschließlich durch den sozio-ökonomischen Status von Individuen bestimmt werden, gerät nicht in den Blick. Aus kapitalismuskritischer Perspektive ließe sich zudem fragen, wieso ökonomische Prinzipien wie Wachstum, Konkurrenz und Ausbeutung (der Natur) nicht noch grundsätzlicher in Frage gestellt werden. Der Reformglaube des Autor*innen-Kollektivs bezüglich einer auf das menschliche (!) Wohlergehen ausgerichteten Weltwirtschaft gepaart mit der Vorstellung, dass „die politischen Entscheidungsträger*innen dem Wachstum gegenüber [generell] indifferent sein [sollten]“ (S. 42), birgt wohl die Gefahr in sich, eher zu einem grünen, anthropozentrischen Kapitalismus zu tendieren, als zu einem tatsächlich sozial-ökologischen Systemwandel. Und dabei wird sowohl die Frage, ob ein ökonomisches System, das immer noch auf marktwirtschaftlichen Logiken beruht, überhaupt ohne (klassisches) Wachstum auskommen kann, zu wenig bearbeitet, als auch die Frage vernachlässigt, ob das dann immer noch kapitalistisch organisierte Gesamtsystem all jene notwendigen „Kehrtwenden“ grundsätzlich überhaupt zu vollziehen vermag, die im Band eingefordert werden.

Fazit: Der Report versucht sich an einer »via media«. Weder sollen Wirtschaftsakteure verschreckt, noch jene gesellschaftlichen Kräfte enttäuscht werden, die eine konsequente Transformation des Gesamtsystems als unumgänglich betrachten. Unter den Bedingungen des sich zuspitzenden diesbezüglichen Kulturkampfes dürfen ernsthafte Zweifel angemeldet werden, ob dies gelingt. Zugleich wird der reale Entwicklungspfad der Weltsysteme sicherlich selbst in gewisser Weise eine »via media« einschlagen. Gut möglich, dass die hier eingeforderten Transitionen also jenen Linien weitgehend entsprechen, auf die sich die Entscheidungszentren und -gremien der Menschheit im Laufe des kommenden Jahrzehnts verständigen werden. Ob ein »Survival Guide for Humanity« die angemessene Antwort auf die Krise des planetaren Metabolismus ist, wird Gegenstand öffentlicher Debatte bleiben.

Louis Franke und Ulrich Roos

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 58–59