W&F 1988/3

Editorial

von Paul Schäfer

Das Hohelied des neuen politischen Denkens braucht an dieser Stelle nicht gesungen zu werden. Wir bemühen uns darum. Dazu gehört allerdings auch, sich mit überlebten Dingen wie Massenvernichtungswaffen und Militärstrategien zu beschäftigen. Versuchen wir also eine Problemskizze: Womit haben wir in den nächsten Jahren zu tun?

  • Eine Dekade konfrontativer Zuspitzungen des Ost-West-Konflikts und eines einzigartigen Nicht-Kriegs-Rüstungsbooms ist zu Ende. Ihr Ende wurde eingeläutet durch den relativen Niedergang der beiden Führungsmächte USA und UdSSR. Die überstrapazierten Hegemonialambitionen und Wirtschaftsressourcen ließen eine Fortführung dieser Form des Kräftemessens nicht länger zu.
  • Gescheitert ist der Versuch, mit primär militärischen Mitteln entscheidende politische Vorteile zu gewinnen. Der volkswirtschaftliche Preis war zu hoch. Gescheitert ist ebenso der Versuch, mit neuen Waffensystemen einen raschen Ausbruch aus dem Dilemma des abschreckungspolitischen Patts zu erzielen. Das gilt für die eurostrategischen Waffen wie für SDI. Der Versuch ideologischer Mobilmachung durch bellikose Rhetorik erzeugte massenhaften Widerspruch. Die internationale Friedensbewegung hat ihren Anteil daran, daß die Legitimationsbasis für solch „aggressive“ Politik schwand. Die Umbrüche in der UdSSR waren letztlich Katalysator beim Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen.
  • Vor allem in den USA mußte sich die Politik an veränderte Rahmenbedingungen anpassen. Die Konsequenz: ein Kurs der politischen Mäßigung. Die inzwischen vollzogene „pragmatische Wende“ macht Fortschritte im Rüstungskontroll- und Entspannungsprozeß wieder möglich. Diese „Normalisierung der Verhältnisse“ ist nicht zu verwechseln mit dem Durchbruch des „Neuen Denkens“ in der UdSSR. Die Krise des Reaganismus, deutlich gemacht in der Wahlkampagne Jesse Jacksons, hat zunächst eine Situation der Offenheit, der Orientierungssuche geschaffen. Ein mehrheitsfähiges Lager, das tiefgreifende Demokratisierung im Innern und konsequente Entmilitarisierung des Systemkonflikts fordert, ist jedoch noch nicht in Sicht.
  • Der vom Sicherheitsestablishment der NATO verfolgte Kurs kann auf eine einfache Formel gebracht werden: Reduzierung + Modernisierung. Die Reduzierung bestimmter Waffenarsenale ist mit dem ohnehin eingeleiteten Umschlag des waffentechnischen Kreislaufs, der in den neunziger Jahren voll zum Tragen kommen soll, relativ problemlos vereinbar. Die overkill-Kapazitäten können abgebaut werden. Die „intelligenten“ Waffen zerstören effektiver. Dieser „abschreckungskonforme“ Prozeß der Denuklearisierung kann zudem besser verkauft werden.
  • Diese Linie wird sichtbar bei den derzeitigen Verhandlungen über die „tiefen Einschnitte“ in die strategischen Offensivpotentiale (START). Das rüstungskontrollpolitische Konzept der USA insistiert darauf, technologische Vorsprünge gegenüber der anderen Supermacht zu nutzen. Daher müssen die Reduzierungen mit den geplanten Modernisierungen einigermaßen kompatibel sein.
  • Ob Bush oder Dukakis – die unter Weinberger entwickelten „competitive strategies“ werden ihre grundsätzliche Gültigkeit behalten. Die Forschungs-, Entwicklungs- und Beschaffungsprogramme (Stealth-Technologie, Abstandsflugwaffen, intelligente Munition etc.) werden, soweit es der Finanzrahmen zuläßt, durchgeführt.
  • Dies gilt auch für das amerikanische SDI-Projekt. Es wird zur Pandorabüchse für neue Rüstungstechnologien und zugleich stärker auf die bodengestützte Punktzielverteidigung konzentriert. Da mit Dislozierungen frühestens Mitte der 90er Jahre zu rechnen ist, stellt SDI kein Hinderungsgrund für die Fortschreibung des ABM-Vertrages und eine START-Übereinkunft dar.
  • Um von einem wesentlichen Element – INF – zum Zentrum des militärischen Komplexes – dem System der Massenvernichtung – vorzudringen, muß die Friedensbewegung politisch weit mächtiger werden. Sonst gibt es keine Abrüstungsdynamik.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1988/3 Strategie Arms Reduction Talks, Seite