W&F 1989/3

Editorial

von Paul Schäfer

Es ist nichts als eine Uhr. Eine Uhr, die stehenbleibt, führt dazu, daß man den Bus verpasst oder ein Rendezvous. Eine alltägliche Geschichte. Eine Uhr, stehengeblieben am 9. Aug. 1945, 1102, Nagasaki, ist Symbol einer historischen Zäsur. Sie versinnbildlicht den Beginn eines neuen Zeitalters, das bereits sein Ende in sich trägt.

Indem die Atomspaltung die Vernichtung des homo sapiens möglich macht, wird zugleich der Bruch mit der Kulturgeschichte machtorientierter Expansion unausweichlich. Die Photographie hält einen Augenblick fest, der im Gedächtnis (der Menschheit) unauslöschlich bleiben soll. Shomei Tomatsu sagt über seine Arbeit, daß er der natürlichen Erosion der Erinnerung entgegenarbeiten wolle. „Wir müssen einen Damm bauen gegen den Fluß der Zeit.“

Der Photographie eignet – wie dem Film – eine Affinität zum Vieldeutigen, Unbestimmbaren. Sie ist damit eine Herausforderung zur Intuition, zur Phantasie, zum Weiterdenken. Wer war der Besitzer der zerbrochenen Uhr? Ist er im Schlaf überrascht worden? Hatte er Kinder? Welche Vorstellungen hatte er vom Leben? Welche Zukunftswünsche mag er gehegt haben? Geschichten, die im Kopf ablaufen...

Was geht in den Menschen aus Weimar vor, die unmittelbar nach Kriegsende von der US-Militärverwaltung in das Lager Buchenwald geführt wurden (s.S.5). Spiegeln sich in ihren Gesichtern nicht schon die ganzen Verdrängungen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte? Was mag der GI – scheinbar gelangweilt an den Türpfosten gelehnt – beim Anblick der vietnamesischen Mutter und ihres Kindes empfunden haben? (s.S.13) Hat er für deren Leid nichts als kalte Verachtung übrig? Fotos können tiefe Einblicke in die Gefühle, Charaktere und Verhaltensweisen der Menschen geben. Damit tragen sie dazu bei, die flüchtige Wirklichkeit oder die nur flüchtig geschaute Wirklichkeit besser zu erkennen.

Die frühen Photographien – vom amerikanischen Bürgerkrieg bis zum Ersten Weltkrieg – haben oft Verklärendes und Heroisierendes. In Pose gesetzt, künden Menschen von Kameradschaft, Abenteuerlust und Mut. Doch mit den schmucken Militärkapellen, die mit Dschingderassabum durch die Stadt ziehen und den Matrosenuniformen der Kinder wird zugleich die militaristische Durchdringung des Alltags deutlich. Was von den reinigenden »Stahlgewittern« übrig bleibt, zeigen Bilder von den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges: Schlamm, Giftgas, tote Pferde, Erblindete, Verzweifelte, Erschossene. Apokalypse und Agonie. Und dennoch bildeten viele dieser Aufnahmen die Vorlage für die Stammtische und »Geschichten aus dem letzten Krieg«.

Sollen wir solche Bilder benutzen? Tragen nicht allzu schockierende Aufnahmen zur Abstumpfung bei? Muß der Mensch nicht angesichts des Grauens – seine eigene moralische Unzulänglichkeit und seine Passivität erkennend – umso mehr mit Verdrängung reagieren? Oder kann es doch gelingen, so den Krieg zu dementieren, die Notwendigkeit der Utopie einer friedlichen Welt zu vermitteln? Oder wäre es vielleicht besser, gleich mit schön-friedlichen Gegenbildern zu arbeiten?

Der berühmte amerikanische Fotograph Edward Steichen hat sich nicht als bloß neutraler Beobachter verstanden. Beim Ausbruch des II. Weltkrieges wollte er – bereits 62-jährig – noch seinem Vaterland dienen und meldete sich freiwillig zur Marine. Er stellte ein Team zusammen, das die Aufgabe hatte, vom Leben und Kampf der Marines zu berichten. Eine »Mobilisierung der Heimatfront«, deren Mittel an den Grenzen zur Ästhetisierung des Krieges operierten. Beaumont Newhall (»History of Photography«) hat auf die Schönheit der Luftaufnahmen hingewiesen, die während des II. Weltkrieges gemacht wurden. Sie wurden genutzt, um Vernichtungsziele besser ausfindig zu machen. Man muß nicht erst an diese Gebrauchsform denken. Ein Blick in die einschlägigen Magazine (Aviation Week & Space Technology, Wehrtechnik etc.) genügt. Die perfekte Technik moderner Kriegsmaschinen wird in ein Ambiente faszinierender Räume und Farben versetzt. Damit soll das große Geschäft gemacht werden. Es ist eine kalte, verlogene Ästhetik. Menschen – die potentiellen Opfer – passen nicht ins Bild.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/3 1989-3, Seite