W&F 1990/1

Editorial

von Paul Schäfer

Die bipolare Konfrontationsstruktur der Nachkriegszeit ist im Gefolge des Zerfalls der einen Seite in Auflösung. Der Trend zu Entspannung und Rüstungsminderung scheint unaufhaltsam. Marschflugkörper werden zur Verschrottung in die USA geflogen; der Tiefflug wird stark gedrosselt werden; die neuen Atomraketen LANCE kommen nicht; der Jäger `90 ist auf der Abschußliste; weitere Abrüstungsabkommen werden dieses Jahr unterzeichnet werden. Und doch gibt es ein auffallendes Mißverhältnis zwischen öffentlicher Erwartung und tatsächlichem Prozeß.

Die Abrüstung der strategischen Nuklearwaffen kommt nur zäh voran; der technologische Rüstungswettlauf geht weiter; über 60% der Länder des Erdballs rüsten weiter auf; an einer Politik, die sich auf Gewaltpotentiale und Militärbündnisse stützt, wird festgehalten. Dies wird dadurch möglich, daß die eine Seite der bipolaren Nachkriegskonfrontation sich als »Sieger« fühlen kann. Warum also »Bewährtes« aufgeben? Anpassung an offenkundig veränderte Rahmenbedingungen ja – aber nicht unbedingt grundsätzliches Neubedenken der Sicherheitspolitik. Die NATO wird zum Stabilitätsfaktor; die Abschreckung gilt nunmehr neuen Feinden (Nord-Süd-Konflikt!) und die militärische Macht ist unverzichtbares Attribut nationaler Souveränität. Dies ist es, was unbehaglich stimmt. Zumal es scheint, als könne die »obsiegende« Seite beliebig die Bedingungen diktieren. Das vereinigte Deutschland wird der NATO angehören, lassen US-amerikanische Regierungskreise verlauten. Weiterdenken überflüssig.

Und doch: diese Politik verliert ihre Legitimationsbasis. Mit der eingeleiteten Entwicklung geraten die genuinen Themen der Friedensbewegung auf die politische Tagesordnung: eine Neue (Europäische) Friedensordnung und die radikale Entmilitarisierung.

Der politische Prozeß hat die bestehenden sicherheitsheitspolitischen Konzepte zu Makulatur werden lassen. Ein erstes Abkommen bei den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) ist noch für 1990 in Sicht. Welche Ziele sollen für VKSE II ins Auge gefasst werden? Welche grundsätzlichen sicherheits- und militärpolitischen Parameter sollten bei den »2 + 4 Verhandlungen« vereinbart werden? Also auch: welche Obergrenzen sollte eine künftige gesamtdeutsche Armee haben? Last but not least: Welche neuen, kollektiven Sicherheitsstrukturen können für Europa geschaffen werden?

Trotz voraussehbarer Rüstungsminderung: Dem »pazifistischen Friedensarbeiter« genügt diese Tendenz nicht:

  1. die fundamentale Kritik an der paradoxen und gattungsgefährdenden »Abschreckungsdoktrin« bleibt gültig. Die moderatere Variante des hegemonialen, gegebenenfalls gewaltförmigen Denkens (s.Panama) beinhaltet noch immer unerträgliche Risiken. Es ist eher wahrscheinlich, daß ein Drehen der »Abschreckungsachse« von Ost nach Süd, den Militarismus in der Dritten Welt weiter befördern würde. Der Eskalation der Gewalt ist nicht durch Drohpotentiale, sondern durch Hilfe zur Entwicklung zu begegnen.
  2. die Chancen der Gestaltung der internationalen Beziehungen auf neuer Grundlage dürfen nicht blockiert werden. Es geht – beginnend in Europa – um die Konstruktion einer Weltinnenpolitik, die von gleichberechtigten, zivilen Nationen gestaltet wird. Es greift daher entschieden zu kurz, wenn jetzt in den Kategorien bestehender oder neu zu schaffender Bündnisse (NATO, WEU, EG) weitergedacht wird. Eine Ausdehnung der NATO bis an die Oder – auch wenn diese mit Einschränkungen auf dem Territorium der heutigen DDR verbunden wäre – ist kontraproduktiv. Es mag Übergangslösungen geben. Die Kardinalfrage ist, ob man sich mittelfristig auf neue, kollektive Sicherheitsstrukturen, v.a. im Rahmen der KSZE, einigt.
  3. aus Gründen der ökologischen und weltwirtschaftlichen Zukunftssicherung ist eine rasche und radikale Ressourcenumverteilung notwendig. Die benötigten Mittel müssen nach Lage der Dinge aus den aufgeblähten, unnützen Rüstungsetats kommen. Da die »Konversion« selber erhebliche Mittel bindet, müssen bei der Abrüstung andere Größenordnungen erreicht werden. Selbst 50prozentige Einschnitte dürften sich als unzureichend erweisen.

In diesem Jahrzehnt besteht erstmals die große Chance für eine radikale Entmilitarisierung. Sie muß genutzt werden.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/1 1990-1, Seite