W&F 1990/2

Editorial

von Paul Schäfer

Auf dem Trockenen zu sitzen kann unangenehm sein. Einen allzu glücklichen Eindruck machen die Rekruten unseres Titelbildes keineswegs. Sie können trotz Anstrengung nicht vorankommen.

Jenseits interessierter Rhetorik: mit der Rückstufung militärisch-sicherheitspolitischer zugunsten ökonomisch-zivilisatorischer Fragen in Europa erleidet die NATO einen erheblichen Bedeutungsverlust. Das von James Baker bemühte Konzept des new atlanticism im Rahmen der NATO widerspiegelt besondere US-Interessen; für die Europäer sind EG, EFTA, KSZE die wichtigeren Adressen.

Die waffenstarrende Mitte Europas wird freundlicher aussehen: Die Armee des deutschen Einheitsstaates wird begrenzt; nukleare Artillerie wird abgezogen werden; die Todesarsenale werden schrumpfen. Es geht voran.

Betrachten wir die Sache nüchtern: Tatsächlich zeichnet sich ein übergangsweise erträglicherer modus vivendi ab. Schöne Reden können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der NATO ein grundlegender Bruch mit der Vergangenheit noch nicht vollzogen ist. Es geht um Modifikationen der Strategie.

  • Die Doktrin vom Ersteinsatz der Atomwaffen wird nicht ad acta gelegt. Auf einen »frühen Ersteinsatz« will man verzichten. Obwohl die jetzt unumgängliche Abrüstung wichtige Segmente der sog. flexiblen Erwiderung eliminiert, ist an eine Preisgabe selektiver Nuklearkriegführungsoptionen nicht gedacht.
  • Einen Großteil der nuklearen Gefechtsfeldwaffen wird man abziehen. Zugleich ist die Beschaffung von 450 neuartigen Abstandswaffen geplant, von denen 144 Stück in der Bundesrepublik stationiert werden sollen. Mit diesen luftgestützten, atomar bestückten Flugkörpern würde praktisch der INF-Vertrag unterlaufen.
  • Die bisherige Strategie der Vorwärtsverteidigung ist durch die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa nicht in der bisherigen Form haltbar. Da die alte Demarkationslinie abhanden gekommen ist, soll die »Vorneverteidigung« rundum und weiträumig stattfinden. D.h. man braucht kleinere, höchst mobile Einheiten und eine schlagkräftige Luftwaffe. Das bereits im letzten Jahrzehnt eingeleitete Grundmuster einer Rationalisierung der Abschreckungspolitik kann nunmehr beschleunigt umgesetzt werden: Rüstungsreduzierung und Modernisierung.

Hier wäre zugleich ein neues Betätigungsfeld für Rüstungsforschung und Rüstungsindustrie in Sicht. Die fatale Symbiose von Militär & Wissenschaft fand ihre Legitimierung in der Lokomotivrolle, die dem militärisch-industriellen-technologischen Komplex zugedacht wurde. Der Geist des industriellen Expansionismus, der uns die heutige Umweltkrise bescherte, erhielt von dieser Verbindung immer neue Nahrung. Die im Rüstungssektor hervorgebrachten Effizienzkriterien, die mit ökologischer und sozialer Rücksichtslosigkeit einhergehen: haben sie sich nicht auch in die Wissenschaften eingefressen? Wäre es nicht an der Zeit, die vergangenen Jahrzehnte des rapiden »wissenschaftlich-technischen Fortschritts« zu bedenken und genauer zu analysieren? Müßte dieser Diskussionsprozeß nicht in nahezu allen Wissenschaftsdisziplinen jetzt geführt werden?

Daß noch immer Altes Denken waltet, zeigen die in Militärkreisen heute üblichen Andeutungen über neue Bedrohungen. Der lange verdrängte Nord-Süd-Konflikt muß jetzt herhalten, um die latenten Ängste der Menschen vor ungewisser Zukunft für eine neue Sicherheitspolitik der Stärke zu instrumentalisieren. Soll Nachdenken über eine vernünftigere, sozial gerechtere Weltentwicklung von vornherein blockiert werden?

Und vergessen wir nicht die Machtanwandlungen, die einen Teil der Führungseliten hierzulande erfaßt hat. Deutschlands ökonomische Zukunft müsse „im Wettbewerb mit Japanern und Amerikanern“ (A. Baring) gesichert werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion werde Deutschland eine „Vormachtstellung auf dem Kontinent“ zukommen. Zwar heißt es, daß man diesen Einfluß nicht nutzen wolle, um zu herrschen, sondern um »der Welt dienlich zu sein«. Wie lange noch? Braucht die neue Weltmacht nicht doch adäquate Machtmittel, sprich militärische?

Wir sehen: viel Arbeit wartet noch auf uns.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/2 1990-2, Seite