W&F 1995/3

Editorial

von Paul Schäfer

im Elysee-Palast wird gerne von glorreichen Zeiten geträumt. Vor allem, wenn ein neuer Präsident in die Fußstapfen des großen General de Gaulles treten möchte. Der Rückgriff auf die nukleare Abschreckungsmacht scheint in der Welt der Neunziger obsolet. Aber die »grande nation« muß sich schließlich behaupten: Deutschland, Japan und andere Staaten drängen in den UN-Sicherheitsrat; mit Maastricht II soll eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas angebahnt werden. Da scheint die Positionierung Frankreichs als exklusiver Macht besonders angebracht.

Nicht gerechnet hat die Chirac-Regierung indes mit einer solchen Protestwelle, wie sie derzeit von Papeete bis Paris rollt. In Europa ist Frankreich isoliert. Chirac muß daher einiges tun, um sich aus dieser unschönen Lage zu befreien. Die französischen Atomwaffen könnten einen Schutzschirm für ganz Westeuropa bilden, wird verkündet. Ein alter Hut. Das wurde in Paris schon vor mehr als zwanzig Jahren behauptet. Also noch zu Zeiten, als französische Kurzstreckenraketen im Ernstfall deutsches Territorium verwüstet hätten. Nur zum Schutz versteht sich. Wenn jetzt diese schöne Mär wiederbelebt wird, riecht das nach Taktik. Noch am 21. Juni hatte der französische Botschafter in einem Schreiben an alle Bundestagsfraktionen das Loblied „autonomer Abschreckung“, die „die letzte Garantie für Frankreichs Sicherheit“ sei, gesungen. Viel spricht dafür, daß es darum geht, die Gemüter zu beruhigen und die selbstverschuldete Isolation zu überwinden.

Vielfältige französische Offerten liegen inzwischen auf dem Tisch. Frankreich sei bereit, seine Atomwaffen in eine europäische Verteidigung »zu integrieren«. Der Dialog über die Rolle der Atomwaffen in der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wird angeboten. Premierminister Juppé prägte das Wort von der „konzertierten Abschreckung“. Allen Vorschlägen gemeinsam ist, daß sie auffallend vage bleiben.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Pflüger hat, gerade aus Paris zurückgekehrt, treuherzig versichert, einige dächten dort sogar an ein »Zwei-Schlüssel-System«, also eine Art Mitentscheidungsrecht für Deutschland. Gott erhalte dem Manne seine Naivität. Dies wird auf absehbare Zeit nicht Wirklichkeit werden. Realitätsnäher scheinen Überlegungen zu sein, eine Art nukleare Teilhabe für Deutschland einzuräumen, wie sie ja auch in der NATO praktiziert wird. Deutschland solle z.B. im deutsch-französischen Verteidigungsrat über Strategie, Einsatzdoktrin und -planung mitreden können. Im Zusammenhang mit der Bildung eines neuen, westeuropäischen Militärblocks (WEU) bahnt sich hier eine Debatte an, die ernst genommen werden muß.

Es ist ein altes Motiv französischer Außenpolitik, Deutschland »einbinden« zu wollen. Die Sorge vor einem übermächtig werdenden Deutschland ist in den letzten Jahren – nicht ohne Grund – gewachsen. Angebote zur nuklearen Teilhabe können auch als Rückversicherung verstanden werden, einem deutschen Griff nach der Bombe »im Alleingang« zu wehren.

Ein weiterer Aspekt: Es dürfte Paris schwerfallen, die beanspruchte weltpolitische Gestaltungsrolle allein auszufüllen.

Es braucht Deutschland als Partner. Dieses Tandem soll Europa anführen und damit Europa gebührende Weltgeltung verschaffen.

Seitenverkehrt wird hier am Rhein in ähnliche Richtung gedacht. In Schäubles Papier über Kerneuropa wurde der militärischen Integration eine bevorzugte Rolle eingeräumt. Nicht unmaßgebliche Teile der Regierungskoalition in der Bundesrepublik halten die Situation für günstig, die offengehaltene nukleare Option dezent ins Spiel zu bringen. In den Debatten des Bundestages über die Atomtests haben Unionspolitiker von den „nuklearen Komponenten“ europäischer Verteidigungspolitik gesprochen. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Karl Lamers drängt seit Jahren: Deutschland müsse im vereinigten Europa über die Atomwaffen Frankreichs und Englands mitverfügen. Auch Lamers u. Co. wissen, daß die Bundesrepublik nicht selbständige Atommacht werden kann.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes hat sich nach der ersten Einlassung Juppés beeilt zu sagen, man wolle „den Eindruck vermeiden, Deutschland strebe nach einer nuklearen Teilhabe“. Ähnlich zurückhaltend die Minister Kinkel und Rühe. Über eine Änderung der französischen Strategie solle selbstredend „im Rahmen der europäischen Verteidigungspolitik“ gesprochen werden. Man braucht der Bundesregierung nicht zu unterstellen, daß sie auf nukleare Mitverfügung versessen sei. Die Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik wird als Chance gesehen, um eigene Machtinteressen besser durchsetzen zu können. Eine zweite nukleare Teilhabe in diesem Rahmen wird als Aufwertung der Bundesrepublik, als Machtzuwachs interpretiert. Die exklusive Rolle der Atommächte Frankreich und Großbritannien soll aufgeweicht werden. Schließlich möchte die Regierung ja als gleichberechtigtes Mitglied in den UN-Sicherheitsrat.

Für die kritische Öffentlichkeit höchste Zeit, wachsam die Pläne über diese Ambitionen der Bundesregierung zu verfolgen. Noch erfolgt der Aufbau eines neuen Militärblocks namens WEU ohne allzu großen Widerstand. Dies sollte sich bald ändern.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/3 Gewitter über Paris, Seite