Editorial
von Jürgen Scheffran
Zu Beginn des Jahres 1998 dokumentieren fünf Millionen offiziell gemeldete Arbeitslose in Deutschland, daß die soziale Marktwirtschaft weniger denn je in der Lage ist, allen Menschen Wohlstand und Glück zu bringen. Immer mehr Menschen fallen durch das »soziale Netz«, werden ausgegrenzt und entwurzelt. Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus persönlichen Problemen und sozialem Abstieg, der für eine Million Menschen bereits in der Obdachlosigkeit endete.
Dabei ist Deutschland kein Sonderfall. In den OECD-Ländern sind offiziell mehr als 36 Millionen Menschen erwerbslos, weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen unterbeschäftigt oder ohne Erwerbsarbeit. In Europa und den USA sinken die Realeinkommen seit den siebziger Jahren, die Einkommensverteilung wird zunehmend ungleich. Während die Industrieländer auf dem Weg in die Zwei-Drittel-Gesellschaft sind, hat sich zwischen Nord und Süd die Ein-Fünftel-Gesellschaft etabliert, in der ein Fünftel der Menschheit vier Fünftel der Ressourcen in Anspruch nimmt.
Zunehmend wird offenkundig, daß nach einem Jahrhunderte währenden Siegeszug die Grenzen des wachstumsorientierten Entwicklungsmodells erreicht sein könnten. Dessen Prinzip, die permanente Grenzüberschreitung, läßt sich nicht beliebig fortsetzen. Dennoch wird nun mit der Globalisierung und Liberalisierung der Weltökonomie der Versuch unternommen, die weltumspannenden Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation weiter zu beschleunigen, weil nur durch mehr Wachstum das Wirtschaftskarussell sich weiter dreht.
In wenigen Jahrzehnten werden in diesem Karussell die Reichtümer, die die Natur in Jahrmillionen geschaffen hat, aufgebraucht. Die Produktion verwandelt Naturressourcen in konsumierbare Waren. Je mehr produziert und konsumiert wird, desto mehr wird vernichtet; je mehr vernichtet wurde, desto mehr muß wieder produziert werden. Auf immer größeren Massenmärkten wird nahezu alles dieser Produktions- und Konsumlogik unterworfen. Der »Standort Deutschland« ist nur ein Feld im Schachbrett transnationaler Konzerne, die ihren Wettkampf längst in die Dritte Welt verlagert haben, wo die Produktion zu niedrigeren Löhnen zu haben ist. Der technische Fortschritt tut ein Übriges, um die Arbeitskraft in den Industrieländern zu ersetzen. Dem enormen Tempo der Innovation sind soziale und ökologische Systeme nicht gewachsen. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau sind ebenso die Folge des Strebens nach höheren Renditen wie Umweltzerstörung und Überlastung der noch verbleibenden Beschäftigten. Die jüngste Wirtschaftskrise in Asien und die durch Preiserhöhungen bedingten Krawalle machen deutlich, welches Konfliktpotential damit einhergeht. Hier wird Gewalt produziert, gerät der »soziale Frieden« in Gefahr.
Es scheint, daß sich die Regierungen der westlichen Länder Sorgen um die Stabilität ihrer staatlichen Ordnungen machen. Werden die ausgegrenzten Bevölkerungsteile stillhalten oder wie in Frankreich auf den Putz hauen? Zahlreiche Regime der Dritten Welt zeigen, daß Hunger, Elend und wirtschaftliche Not die staatliche Autorität untergraben, Demokratisierung behindern und den Ruf nach dem »starken Mann« provozieren können. Wenn der Wettkampf um knapper werdende Ressourcen sich verschärft, besteht die Gefahr, daß Staaten auf die wahrgenommenen Risiken mit einem gesteigerten Sicherheitsapparat reagieren.
Die Dialektik von Bedrohung und Selbstbedrohung bestimmt besonders die USA. Nur schwer nachvollziehbar ist, wie die Militär- und Wirtschaftsmacht USA selbst in den kleinsten und entferntesten Gegnern noch Feinde des »American Way of Life« identifizieren kann. Dabei sind die USA sich selbst ihr größter Feind. Die Spaltung in Arm und Reich ist hier so ausgeprägt wie in keinem anderen Industrieland. Während die Spitzen der Gesellschaft nicht wissen, wohin mit ihrem Vermögen, sind immer mehr Menschen gezwungen, für einen Hungerlohn einen oder mehrere Jobs anzunehmen. Eine Kehrseite ist die hohe Gewaltbereitschaft, die sich nicht nur in der Kriminalität von unten ausdrückt, sondern auch in einem ausgefeilten Sicherheits- und Gewaltapparat von oben, an dessen Spitze die staatlich legitimierten Hinrichtungen stehen. Ein Gewaltpotential, das auch nach außen weitergegeben wird, so in der jüngsten Irak-Krise.
Das amerikanische Modell kann kein Vorbild für die BRD sein. Der soziale Frieden, auf den die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft so stolz war, steht auf schwachen Füßen. Eine Lösung ist nur möglich, wenn die Gesellschaft sich um die (Re-)Integration aller bemüht und bereit ist, den Reichtum gerecht zu teilen. Welche Alternativen zum wachstumsorentierten Wirtschaften bestehen, zeigt die 1996 erschienene Studie des Wuppertal-Instituts für ein »Zukunftsfähiges Deutschland«. Sie macht deutlich, daß Lebensqualität erreicht werden kann, ohne die Umwelt zu zerstören und entfernt lebende Menschen und zukünftige Generationen zu schädigen. Die Realisierung eines solchen Weges könnte eine Vielzahl neuer Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, die Umwelt schonen, Konfliktpotentiale abbauen und den sozialen Frieden sichern. Dies wäre ein geeigneter Prüfstein für das Wahljahr 1998.
Ihr Jürgen Scheffran