Editorial
von Christiane Lammers
In den letzten Monaten gingen viele spektakuläre Nachrichten durch die Presse, die ein Gefühl vermittelten, daß wir uns »mit Recht« vor unseren Kindern zu schützen hätten: Kinder als brutale Täter, die mit Lust quälen, verletzen, schießen, töten, alle Grenzen des menschlichen Zusammenlebens überschreiten.
Schon werden die Konsequenzen aus der Angst gezogen: Kinderknäste werden eingerichtet, die altersmäßigen Begrenzungen der Strafgerichtsbarkeit herabgesetzt, Visumspflicht für ausländische Kinder eingeführt usw. usw. Der gesellschaftliche und staatliche Mechanismus ist immer derselbe: Härte und Ausgrenzung regieren die Politik.
Nicht nur in Hinblick auf die betroffenen Kinder ist dies fatal; die Reaktion verweist auf grundsätzliche Entwicklungen, die schon seit mehreren Jahren zu beobachten sind:
- Unsere Gesellschaft wird zunehmend unfähig, Fragen nach dem Ursprung von Gewalt zu stellen. Es wird nicht mehr reflektiert, wo gesellschaftliche Ursachen zu suchen und zu verändern sind; sozialwissenschaftliche Analyse ist »out«. Die Ursachen werden individualisiert, konsequenterweise auch deren Bearbeitung.
- Es fehlt an gesellschaftlichen Entwicklungsperspektiven und dies wird für Kinder zweifach spürbar: Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der ihnen weder eine zukunftsfähige Lebenswelt zur Verfügung gestellt wird, noch wird ihnen vermittelt, wohin »ihre Reise« gehen kann und wird. Begrenzung, Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit prägen das Handeln. Nur auf einen von zahlreichen Fakten sei hier hingewiesen: Jedes 11. Kind lebt heute in der Bundesrepublik ganz oder teilweise von Sozialhilfe. Sozialhilfeempfänger werden aber nicht selten öffentlich diskriminiert und verunglimpft. Welche Konsequenzen mag das für die betroffenen Kinder haben?
- Kinder und Jugendliche werden nicht mehr als wertvoller und unbedingt zu schützender Bestandteil unserer Gesellschaft wahrgenommen. Wäre es anders, so müßte eine aktive, präferierende Kinder- und Jugendpolitik betrieben werden, mit ähnlichen Ansprüchen wie sie entsprechende Organisationen für Frauen und Umwelt als Querschnittsaufgaben der Politik fordern. Gegenteiliges ist der Fall: An Bildung und Ausbildung wird gespart, die Familieneinkommen sind relativ noch stärker gesunken als die übrigen Einkommen, Zuschüsse zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihnen zur Verfügung stehende Einrichtungen werden gekürzt, Kinder mit anderer Kultur, Hautfarbe und/oder Religion werden diskriminiert, behinderte Kinder schlechter gefördert. Dieses Vorgehen ist nicht zu legitimieren mit den allgemeinen Kürzungen im Staatshaushalt, hier werden Investitionen in die Zukunft verweigert.
Statt Kinderinteressen vorrangig zu berücksichtigen, werden diese – bei knappen Kassen – immer weiter weg- und abgeschoben. Noch vor knapp 10 Jahren, am 29. November 1989, wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Verabschiedung der »Erklärung der Rechte des Kindes« durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« verabschiedet. Dieses regelt relativ detailliert aber kaum einklagbar die Verpflichtungen der Vertragsstaaten gegenüber den Kindern. Nur einige Passagen aus dem Vertragswerk, das die Bundesrepublik am 26. Januar 1990 unterzeichnet hat, seien hier erwähnt: „… Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, daß das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern (…) geschützt wird (Art 2.2). (…)Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist (Art.3.1).(…) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an (Art.27.1). (…) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, daß die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muß, a) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen; b) dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln; c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln (…) (Art 29.1).“
Angesichts heutiger Kinder- und Jugendpolitik, praktizierter Bildungs- und Familienpolitik, einer den Wachstumsmechanismen unterworfenen Wirtschafts- und Umweltpolitik, aber auch angesichts des gesellschaftlichen Klimas muß leider konstatiert werden, daß auch die Bundesrepublik noch weit davon entfernt ist, diese Rechte der Kinder tatsächlich realisiert zu haben.
Ihre Christiane Lammers